News | Alltagsgeschichte / Oral History

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Bernd Hüttner,

In den 1980er Jahren gab in Westdeutschland die relativ große Bewegung der sog. Geschichtswerkstätten, in denen sich feministische, gewerkschaftliche und anders motivierte alternative, ehrenamtliche, akademische und nichtakademische HistorikerInnen zusammenschlossen.

Sie brachten die Geschichte derjenigen Schichten und Klassen in die Öffentlichkeit, die bis dahin von der etablierten Geschichtsschreibung eher unberücksichtigt geblieben waren: Unterschichten, Frauen, die nicht parteigebundenen Strömungen der ArbeiterInnenbewegung usw. Dabei verwandten sie unter anderem die damals neue Methode der sog. "oral history", d.h. durch Befragungen von noch lebenden Zeitzeugen nutzten und propagierten sie erfolgreich andere Quellen der Geschichtsschreibung. Die Geschichtsschreibung hatte bis dahin vor allem geschriebene Dokumente, etwa Akten aus Archiven oder Zeitungen als Quellen genutzt. Die AktivistInnen der Geschichtswerkstätten setzten dem das Motto "Grabe (= forsche) wo du stehst" entgegen und untersuchten die Geschichte ihres Betriebes oder
Stadtteils.

Der Zusammenschluss dieser Geschichtswerkstätten gab ab Mitte der 80er Jahre die 1992/93 eingestellte Zeitschrift Geschichtswerkstatt heraus. In einem unübersichtlichen Prozess wurde 1992 die noch heute erscheinende Zeitschrift WerkstattGeschichte gegründet. Als weitere Zeitschrift ist hier BIOS - Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen zu nennen. Sie erscheint seit 1989. Die Redaktion wird vom Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen besorgt. Die Texte sind eher voraussetzungsvoll und deshalb vor allem für NutzerInnen mit spezielleren Interessen zu empfehlen.

Eines der ersten geschichtswissenschaftlichen Projekte, das alltagsgeschichtlich intensiv behandelt wurde, ist "Bayern in der NS-Zeit". Sechs Bände zwischen 1977 und 1983 dokumentieren die Ergebnisse.
Den Alltag normaler Leute untersucht und dokumentiert das umfangreiche Projekt von Lutz Niethammer (Niethammer 1983, 1985). In ihm wurde sehr viel mit biografischen Interviews gearbeitet. Diese beiden Mammutwerke sind wichtige Quellenwerke zum Leben von ArbeiterInnen und anderer in Stadt und Land - zumindest in Westdeutschland. Parallel und teilweise auch schon vor der westdeutschen Bewegung der Geschichtswerkstätten und der Alltagsgeschichte wird in der DDR der Alltag der arbeitenden Menschen erforscht und dokumentiert. Anregungen dazu kommen aus der staatlich gewollten Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung und der des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus sowie aus der Volkskunde.
Kuczynski legt fünf Bände vor und Jacobeit kann acht Jahre nach Band 1 sein Mammutwerk endlich abschliessen, Schon 1984 hat Haasis drei Taschenbücher mit Dokumenten aus der über 200 Jahre währenden unterdrückten Geschichte der VerliererInnen veröffentlicht.

Zang (1985) versucht die Bedeutung der Alltags- und der Regionalgeschichte zu vermessen - mir ist sein vielzitiertes Werk aber unzugänglich geblieben: Es wird nicht klar, zumindest mir nicht, was dieser - auch für die Bewegung der Geschichtswerkstätten wichtige - Text eigentlich will. Alf Lüdtke, aktuell in Erfurt lehrend, veröffentlichte 1989 einen noch heute vielzitierten Klassiker der Alltagsgeschichte. Leider kenne ich dieses Buch nicht und kann es nicht beurteilen. Niethammer (1980) versammelt, da es Praxis in Deutschland nicht gibt, Texte aus Europa und den USA und liefert für die damalige Zeit wichtige Beiträge. Vorländer (1990) versammelt einige Texte zur Theorie und Praxis des mündlichen Erfragens von Geschichte und kann ganz gut als Einführung in das Feld der Oral History dienen. Der Band "Europa im Zeitalter des Industrialismus" (Museum der Arbeit 1993) zu einer 1990 stattgefundenen Tagung versammelt Beiträge zur Arbeits/Arbeiter-, Umwelt und Frauengeschichte. Thema ist auch die Verwendung und Vermittlung der alltagsgeschichtlich gewonnenen Erkenntnisse in Industriemuseen und vergleichbaren Einrichtungen der historisch-politischen Bildung. Lüdtke gab 1993 einige Aufsätze nochmals als "best of" heraus und wagt sich damit auch auf das Feld der Theorie einer Alltagsgeschichte. Sein Buch ist ein überzeigendes Dokument der Untersuchungen von kleinteiligen Verhältnissen am Arbeitsplatz samt der Selbstwahrnehmung von ArbeiterInnen, ihrem Weltbild und ihrem vergeschlechtlichten Rollenverständnis.

Der kleine Band von Schulze (Hrsg., 1994) dokumentiert die Podiumsdiskussion "Was kommt nach der Alltagsgeschichte?" auf dem Historikertag 1992. Die Beiträge loten die damals schon klarer gewordenen Grenzen des Konzeptes aus und liefern im Nebeneffekt alle relevante Literatur zum Thema. Bruckmiller (Hrsg., 1998) versammelt Beiträge zu unterschiedlichen Themen und Epochen und ist eine der wenigen Publikationen in den letzten Jahren, die noch unter dem ausdrücklichen Label Alltagsgeschichte auftritt. Lange (2003) diskutiert in seiner Dissertation die relevanz und die Eignung der Alltagsgeschichte für die historisch-politische Didaktik. Der Text ist unter www.diss.fu-berlin.de/2002/116/ online.

Handbücher zur Erforschung der eigenen Geschichte sind in den 1980ern in Westdeutschland einige erschienen - in der DDR gab es vor allem Handbücher zur Betriebsgeschichte. Hier seien nur zwei westdeutsche Beispiele genannt.
Lindqvist (1989) veröffentlichte das Manifest der BarfußhistorikerInnen schon 1978 im schwedischen Original. Am Beispiel der Zementindustrie werden die unterschiedlichen Methoden, die eigenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu erforschen, dargestellt. Kinter et al (1985) ist eher ein Handbuch für die (damals) in Geschichtswerkstätten und ähnlichen Gruppen Aktiven. Es handelt u.a. von Ausstellungstechniken, Medieneinsatz und der Befragung von ZeitzeugInnen.