Presse release | Utopie als „wütender Aufschrei“ gegen das Bestehende

Auf einem interdisziplinären Kongress in Hannover debattierten Wissenschaftler über „Die Möglichkeiten einer anderen Welt“, die nur durch den Marxismus konkret werden kann (ND, 15.10.2005)

Anlaß war das fünfjährigen Bestehens der online-Zeitschrift Sozialistische Positionen (sopos), die diesen Utopie-Kongress gemeinsam mit der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vom 7. bis 9. Oktober 2005 an der Universität Hannover durchführte. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie das  Rosa Luxemburg Bildungswerk Niedersachsen gehörten zu den Förderern des Projek

ts. Susann Witt-Stahl berichtet im Neuen Deutschland über den Kongress:

Utopie als „wütender Aufschrei“ gegen das Bestehende

Auf einem interdisziplinären Kongress in Hannover debattierten Wissenschaftler über 
 „Die Möglichkeiten einer anderen Welt“, die nur durch den Marxismus konkret werden kann

Menschsein heißt Utopie zu haben. Auf allen seinen in die Zukunft aufsteigenden Entwicklungsstufen wisse der Mensch: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht“, sagte der marxistische Denker Ernst Bloch in seiner Vorlesung „Tübinger Einleitung in die Philosophie“. Herzstück seines spekulativen Materialismus, der auf einer „Ontologie des Noch-Nicht-Seins“ basierte, bildete die utopische Hoffnung. Unter Utopie verstand Bloch aber keine rauschhaft-schwärmerische Luftschloss-Architektur der menschlichen Fantasie, sondern eine konkret-wissende, eine prospektiv-eschatologische Utopie, die das Neue als im Vorhandenen vermittelt begreift.

Die einzige Philosophie, die nach Auschwitz noch vertretbar sei, schrieb Theodor W. Adorno in seinem Aphorismus „Zum Ende“, wäre der Versuch, „die Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten“. Nicht zuletzt, um die Unmöglichkeit dieser Perspektive um der Möglichkeit willen zu begreifen, wie es der Autor von „Minima Moralia“ verlangte, machten sich vergangenes Wochenende eine Reihe namhafter Philosophen, Politologen, Soziologen, Historiker und Kulturwissenschaftler – darunter Gunzelin Schmid-Noerr, Peter-Erwin Jansen, Christoph Görk und Michael Jäger – auf den Weg in das unmögliche „Nirgendsland“. Sie diskutierten in der Universität Hannover vor Publikum über konkrete Utopien und die Möglichkeit realpolitischer Intervention im Spätkapitalismus.

Eingeladen zu dem dreitägigen Kongress, der unter anderen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert wurde, hatte die Loccumer Initiative kritischer WissenschaftlerInnen und die Redaktion der Online-Zeitschrift Sozialistische Positionen. Aus diesen Institutionen hat sich ein Kreis von jungen Marxisten und Intellektuellen formiert, die sich dem Erbe der Frankfurter Schule insofern verpflichtet fühlen, dass sie Theoriearbeit leisten, die sich gegen die „richtige Widerspiegelung einer verkehrten Wirklichkeit“ (Max Horkheimer) wendet und real vorhandene Tendenzen in den gesellschaftlichen Prozessen zum Gegenstand von Ideologiekritik macht. 

Der Philosoph und Kunsttheoretiker Roger Behrens verteidigte die „negative Utopie“ der Kritischen Theorie, die auf „rücksichtslose Kritik des Bestehenden“ zielt: „Dass sowohl Benjamin wie auch Adorno in ihren Utopiebegriffen die Wahrheit des Bilderverbots aktualisieren“, erklärte Behrens, „ist keine Weltflucht, sondern radikale Theoriepraxis, die kraft begrifflicher Arbeit, begrifflicher Reflexion jeden Versuch vereitelt, das Utopische als bloß utopistischen, nämlich ahistorischen Luftschlossbau zu behaupten“. 

Radikale Kritik, nicht normative Theorien und einen „Rückgriff auf einen Wertehimmel, der weit weg von der sozialen Realität ist“, hält die Soziologin Regina Becker-Schmidt auch für eine unverzichtbare Basis für feministische Visionen, die „keine Rangordnung von sozialen Ungleichheitslagen“ kennen. In Anlehnung an die US-amerikanische Naturwissenschaftshistorikerin Donna Haraway will Becker-Schmidt eine kritische feministische Theorie entfalten, die Adornos  Idealismuskritik der Hierarchisierung von Vernunft und Materie, Geistigem und Körperlichen auch als eine Kritik der „Dichotomisierung und Stereotypisierung von Männlichkeit und Weiblichkeit“ deutet.
Obwohl und weil die totale Vermarktlichung von Mensch, Tier und Welt mit dem Einfließen von menschlichen Körpersubstanzen wie Eizellen in den Warenkreislauf und der In-Wert-Setzung seiner DNA, der Matrix des Menschen, erfolgreich abgeschlossen zu sein scheint, offenbart der Spätkapitalismus Bruchstellen – eine logische Konsequenz aus dem Bewegungsgesetz des sich selbst verwertenden Werts –, an denen konkrete Utopien aufscheinen. Daher habe Karl Marx positive Utopien für überflüssig gehalten, erklärte der Vielschreiber im „Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus“ Michael Krätke: „Marx war insofern ein Antiutopist, indem er sich ausschließlich der Utopie des reinen Kapitalismus als revolutionäre Produktionsweise zuwandte.“ Der Amsterdamer Politökonom machte in seinem Vortrag auf „das über sich Hinausweisende kapitalistischer Entwicklung“ aufmerksam: Wie schon im 19. Jahrhundert die Trennung von Eigentum und Funktion in den Aktiengesellschaften seien die amerikanischen Arbeitnehmer mittlerweile dank der Pensionsfonds zu wahren Eigentümern des US-Kapitals aufgestiegen. Zudem seien Überkapazitäten und Überproduktionskrisen Vorboten einer Gesellschaft, die den Wert als verselbstständigtes alle Verhältnisse dominierendes Subjekt überwunden hat: „Und mit der Automatisierung der Arbeit zieht sich die kapitalistische Produktionsweise selbst den Boden unter den Füßen weg, indem sie menschliche Arbeit überflüssig macht, obwohl die Arbeitskraft Quelle allen Profits ist“, erklärte Krätke und appellierte an das Auditorium, „ das Neue in der alten Ordnung zu suchen – alle anderen Bemühungen münden in tragische Don Quichottesken“.   

Auf die Möglichkeit des Eintritts des in Menschen in eine wahre Welt jenseits der Warenwelt beharrte auch der israelische Historiker Moshe Zuckermann. Er warnte jedoch davor, sich auf die Forderung eines großen Gegenentwurfs einzulassen, wie sie der Verleger Rolf Johannes in seinem Vortrag erhob. Letzterer rief die Intellektuellen auf, sich von „naiven Vorstellungen“ und „irrealen utopischen Parallelwelten“ zu lösen, „endlich in realen Kategorien“ über die dringlichen Probleme unserer Zeit zu reden und „Handlungsalternativen“ („die liberalen sind wesentlich fortgeschrittener als die linken“) innerhalb des Bestehenden mitzuentwickeln: „Der Kapitalismus ist nicht tot zu kriegen, solange er effizient ist“, betonte Johannes. „Daher müssen Konzepte geschaffen werden, die mächtiger sind.“ Eine Auffassung, der Moshe Zuckermann energisch widersprach: „Die Antwort auf die Frage nach dem Seinsollenden kann zur Ideologie verkommen und Fetischcharakter annehmen – so ist der Kommunismus als Albtraum erlebt worden.“ Es sei kein Zufall, dass Karl Marx „das Reich der Freiheit nur mit zarten Pastelltönen ausgepinselt hat“, gab der Vertreter der klassischen Kritischen Theorie zu Bedenken.

Im fortgeschrittenen Kapitalismus seien die gesellschaftlichen Negationspotentiale zwar weitgehend eliminiert worden, räumte Zuckermann ein, die Menschen seien von dem Gedanken der Verwirklichung ihrer Befreiung abgeschnitten, weil die letzte Bastion der menschlichen Freiheit, das subjektive Bewusstsein, durch „bis in die letzte Pore des menschlichen Daseins eingedrungene Kulturindustrie manipuliert und verdinglicht ist“. Ein Bewusstsein von Freiheit ist ohne Freiheit nicht möglich, und Freiheit wiederum nicht ohne das Bewusstsein von Freiheit. Dennoch müsse unermüdlich der Versuch gemacht werden, diesen scheinbar ausweglosen circulus vitiosus zu durchstoßen. Zuckermann rief zum Aufstand gegen die Macht des unannehmbar schlechten Faktischen auf, das immer wieder in die Barbarei münde. Utopie will sich der jüdische Gelehrte im Stande der Unfreiheit ausschließlich als „radikale Ideologiekritik“ denken, deren negative Aussagen als Spiegelschrift ihres Gegenteils zu lesen, vor allem aber als „wütender Aufschrei“ gegen das perennierende Leiden auf der Welt zu hören sein muss – „mit dem Verschwinden dieses Aufschreis wäre das humane Projekt endgültig gescheitert“.
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Nähere Informationen über den Kongress: http://www.sopos.org/utopiekongress.php3

Foto: Susann Witt-Stahl