Presse release | Selbstbewusste Modernisierer und der Optimismus der Straße

Was bringen Regierungsbeteiligungen der Linken? Auf jeden Fall viel Diskussionsstoff (Neues Deutschland, 6.2.2006)

Es ist viel von Rosa Luxemburg die Rede, wenn die deutsche Linke über Regierungsbeteiligungen diskutiert. Irgendeine Textstelle findet sich immer – für jeden Standpunkt. Vielleicht entsteht so im »Blauen Salon« am Berliner Franz-Mehring-Platz der Eindruck, die große Dame des Sozialismus würde ein wenig beleidigt zur Seite blicken. Möglicherweise ist das Porträt an der Wand neben dem Podium aber auch nur schlecht aufgehängt.


Was hätte Luxemburg zur Debatte über das Wohl und Wehe von linken Regierungsbeteiligungen gesagt? Hätte sie, wie 1901 in einer auch heute oft zitierten Artikelserie über den Eintritt des französischen Sozialisten Étienne-Alexandre Millerand in die bürgerliche Regierung Waldeck-Rousseau darauf bestanden, dass »die Sozialisten als Gegner der gesamten bestehenden Ordnung im bürgerlichen Parlament grundsätzlich auf die Opposition angewiesen sind«? Oder wäre ihr Urteil mit Blick auf die Koalitionen der Linkspartei in Berlin und Schwerin gute 100 Jahre Kapitalismus später doch anders ausgefallen? Und haben nicht auch die Recht, die für die Befürworter der Regierungsvariante den Luxemburg-Satz bemühen, nach dem die Freiheit stets auch die Freiheit der anders Denkenden ist?

Das »anders denken« über Regierungsbeteiligungen ist eine Angelegenheit, die derzeit bei WASG und Linkspartei für viel Streit sorgt. Kritiker der PDS-Politik in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern befürchten ein »friedliches Hineinwachsen in die Kapitulation«, Kritiker einer auf pure Opposition festgelegten Strategie warnen vor einer »Verweigerungshaltung«.

Beteiligung klingt wie Mittäterschaft

Von den Wortgefechten anderer Tage ist am Samstag in Berlin allerdings nur wenig zu spüren. Beim »gesellschaftspolitischen Forum« über »die Linke in Regierungsverantwortung« bleibt es zwar nicht immer sachlich, aber ruhig. Vielleicht liegt es am Titel der Veranstaltung, »Verantwortung« klingt irgendwie besser als »Beteiligung«, wo man gleich an Mittäterschaft denkt.

Um es vorweg zu nehmen: Einen Sieg kann nach zehn Stunden Debatte keine der Strömungen für sich beanspruchen. Das Forum, organisiert von der PDS-nahen Luxemburg-Stiftung, dem Netzwerk WissenTransfer und der WASG-nahen Zeitschrift »Sozialismus«, könne doch »nicht alle Fragen zum Thema linkes Regierungshandeln beantworten«, sagt Cornelia Hildebrandt von der RLS. Es sei eher ein Versuch, »sich selbst und den anderen besser zu verstehen«.

Dabei soll Dag Seierstad helfen. Der Mann von der Sozialistischen Linkspartei Norwegens, die sich an einer Mitte-Links-Regierung in Norwegen beteiligt, sitzt da wie zum Beweis. Als nach den Wahlen im vergangenen Jahr das Bündnis geschmiedet wurde, war auch hier zu Lande der Jubel groß. Das Beispiel aus dem Norden weckte Hoffnungen, die Parallelen waren nicht zu übersehen: Das Ende des Zeitalters der »siamesischen Zwillinge« aus Gewerkschaftsbewegung und Sozialdemokratie, deren neoliberale Politik zu deutlichen Einbußen bei Wahlen führte und einer links davon verorteten parlamentarischen Alternative Zulauf verschaffte. Seit September 2005 sitzt die SV am Kabinettstisch, ist in Schlüsselressorts wie das Finanzministerium eingezogen und freut sich über erste Erfolge.

In Optimismus verfällt Dag Seierstad deshalb aber noch lange nicht. Die »sehr vorläufige Bilanz« des SV-Vorstandsmitglieds müsste den hiesigen Regierungsbefürwortern sogar Sorgen machen: Es sei ungewiss, ob das Bündnis überhaupt hält. Und sollte die Regierung tatsächlich Erfolge vorweisen können, sei die Wahrscheinlichkeit groß, dass bei den nächsten Wahlen die Sozialdemokratie am stärksten davon profitiert. Auf der anderen Seite, sagt Dag Seierstad, könnte ein geglücktes Mitte-Links-Bündnis ja auch bei Labour zum Umdenken führen: »Selbst Sozialdemokraten können sich ändern.« Im »Blauen Salon« wird hämisch gelacht.

Kann der Blick nach Norwegen der hiesigen Debatte auf die Sprünge helfen? Wohl genauso viel oder wenig wie das Beispiel Frankreich. Die Lage der Linken dort sei nach gescheiterten Koalitionsbeteiligungen »desaströs«, sagt Joachim Bischoff vom Bundesvorstand der Wahlalternative. Dass der Schritt in ein Kabinett aber automatisch zum »Auftakt einer Niederlage« und zur »Integration der Opposition in den Mainstream« führt, glaubt Bischoff nicht. Seit der Koalitionstisch drohend über der sozialistischen Linken hängt, seit Millerands Schritt in Frankreich 1899 also, habe sich schließlich viel verändert. Der Kapitalismus sei »kein fester Kristall«, das habe schon Karl Marx so gesehen. Die Frage, ob man sich an einer Regierung beteiligen soll, stellt sich also immer wieder neu. Maßgeblich sei, so Bischoff, ob ein solches Projekt dazu beiträgt, den neoliberalen Zug aufzuhalten.

Aber was heißt das? Es sind die Maßstäbe, die in der Debatte eine Verständigung so schwer machen. Was lässt sich als Erfolg des Mitregierens ausgeben? Schlimmeres verhindert zu haben? Oder muss, um gerechtfertigt zu sein, eine linke Regierungsbeteiligung die Tür in Richtung Sozialismus mindestens einen Spalt breit aufstoßen?

»Veränderung beginnt mit Opposition«

Peter Ritter hat seine ganz eigenen Erfahrungen mit solchen Überlegungen gemacht. Der Landeschef der Sozialisten in Mecklenburg-Vorpommern hat sich 1998 als einer von wenigen in der Landtagsfraktion der Stimme enthalten, als es darum ging, den Weg ins Schweriner Schloss perfekt zu machen. Bis Mitte der 90er Jahre hieß der Wahlslogan der PDS ja auch nicht ohne Grund »Veränderung beginnt mit Opposition«. Ritter hat sich irgendwann gefragt, »was kommt danach«? Heute verteidigt Ritter Erfolge in Mecklenburg-Vorpommern, spricht über Verbandsklagerecht und Arbeitsmarktpolitik und davon, dass vieles von dem, was schon 1994 in einem PDS-Papier mit dem lustigen Namen »Regieren wie am Runden Tisch« gestanden habe, heute Realität sei.

Edeltraud Felfe sieht das anders. Die Sozialwissenschaftlerin spricht das Publikum mit »Genossen« an, lobt den Einsatz der PDS-Minister und kommt dennoch zu einem vernichtenden Urteil über die Schweriner Koalition. Ein »Politikwechsel ist derzeit objektiv nicht möglich«, sagt die Greifswalderin, es sei falsch, diese Hoffnung zu wecken. Dann führt sie Erwerbslosenzahlen an, spricht vom übermächtigen neoliberalen Bundestrend und findet: »Eine Schmerzgrenze für die Beteiligung an der Regierung lasse sich derzeit bei den Sozialisten im Nordosten nicht ausmachen.«

Das Zwiegespräch, das Felfe und Ritter dann auf dem Podium miteinander führen und in dem von persönlichen Angriffen und fehlerhaften Urteilen die Rede ist, steht symptomatisch für die Diskussion. »Die Wahrnehmung der Tatsachen hängt nun einmal von der jeweiligen sozialen Erfahrung ab«, sagt Felfe. Nicht jeder ist Minister, aber viele sind arbeitslos.

Das gilt auch in Berlin, und Benjamin Hoff vom Landesvorstand der Ex-PDS hat sogar eine Theorie dafür parat: Im »magischen Dreieck des gesamtpolitischen Gleichgewichts« lege jeder, Fraktion, Kabinettsmitglieder und Partei, seine eigenen Erfolgsmaßstäbe ans Regieren an. Hinzu komme »das Umfeld«, wo sich die Zahl der Kriterien, was als Erfolg zu gelten hat, zwischen sozialen Bewegungen, Lobbygruppen und Medien weiter potenziert. Während Hoff redet, stöhnen die SAV-Anhänger, als würden sie gequält. Und dann bekommt man ein Destillat der »Berliner Debatte« zu hören: Sozialticket, Hartz IV, Bankgesellschaft, Verschuldung, Wasserbetriebe, öffentlicher Dienst, Privatisierung ...

Das Verhältnis zwischen Linkspartei und WASG in der Hauptstadt lässt sich mit den aktuellen Außentemperaturen am besten beschreiben. Bedingungen werden aufgestellt und empört zurückgewiesen, Foren vereinbart und wieder abgesagt. Man könnte auch sagen: eine lebhafte Debatte. Draußen vor der Tür des »Blauen Salons« werden Broschüren verteilt. »Die große Kürzungs-Koalition. Testfall für die neue Linke« steht auf einem Titel. Zu einem solchen könnte der Regierungs-Streit in der Tat werden. Niemand weiß genau, welche Folgen ein konkurrierender Antritt bei Landtagswahlen im Herbst hätte. Die Linksfraktion im Bundestag hat vorsorglich die Juristen bemüht. Die Geschäftsordnung des Parlaments nimmt auf linke Diskussionen keine Rücksicht.

Es ist keine Sache von Reformern gegen Fundis, die das »Linksbündnis« umtreibt. Das Terrain ist viel unübersichtlicher. Axel Troost vom Vorstand der WASG nennt sich selbst »einen absoluten Realo. Aber eben einen aus der Wahlalternative«. Auch da gibt es also Unterschiede. Troost versteht was von Finanzpolitik und Wirtschaft und lässt sich durch einfache Argumente nicht beeindrucken. Weder von der einen noch von der anderen Seite. In der Regierungs-Debatte plädiert der WASG-Mann für genaues Hingucken, es seien völlig verschiedene Dinge, ob man über den Bund, Länderregierungen oder die kommunale Ebene rede. Eine Gefahr für Linke am Kabinettstisch sieht Troost in der Gewöhnung, im »muddling through«, im nur so Durchwurschteln. Danach gefragt, wie er die beiden rot-roten Koalitionen sehe, sagt Troost knapp: Den Genossen in Schwerin sei wohl »der alternative Schwung verloren gegangen« und in Berlin sieht er »ein bisschen zu selbstbewusste Modernisierer am Werk«.

Realos, Fundis, Reformer, Revoluzzer

Modernisierer, Realos, Fundis, Opportunisten, Pöstchenjäger, Gestalter, Revoluzzer – ein Koordinatensystem der Regierungsdebatte zwischen Linkspartei und WASG wäre ein heilloses Unterfangen. Das beginnt schon damit, dass die Debatte keineswegs »zwischen« beiden Parteien geführt wird, sondern in ihnen und darüber hinaus.

Versuchte man eine stark vereinfachte Ordnung, sie sähe vielleicht so aus: An einem Ende der Skala stehen die Befürworter des Mitregierens, zuletzt repräsentiert unter anderem durch einige Strategiepapiere ostdeutscher PDS-Verbände. Eine rechnerische »linke« Mehrheit (aus Linkspartei, Grünen und SPD), die das Bundestagswahlergebnis vom Herbst 2005 nahe legte, müsse bei nächstmöglicher Gelegenheit mit Leben, das heißt mit Regieren gefüllt werden. Im Übrigen führe der Weg in die Bundesregierung über die Länderkabinette – im Osten. An der WASG-Spitze findet sich das Argument in abgewandelter Form: Es mache »keinen Sinn«, heißt es in einem Papier, »auf absehbare Zeit die Aufgaben des Regierens auf kommunaler, Landes- und Bundesebene immer nur den neoliberalen Parteien zu überlassen«. Von hier aus sind die Übergänge zu jenen fließend, die Regieren als »Gestalten« ebenfalls befürworten, allerdings auch klare politische Grenzziehungen fordern.

Ein exponierter Vertreter dieser Strömung ist Oskar Lafontaine, der in seiner Januar-Rede einen pragmatischen Umgang mit der Frage des Mitregierens forderte. Zugleich aber zog Lafontaine eine rote Linie ein, deren Überschreiten die Linke ihre Glaubwürdigkeit kosten werde: keine Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, keine Umverteilung von unten nach oben.

Haushaltssanierung durch Demonstrieren?

Das können auch viele Kritiker und Gegner (ein Unterschied!) der aktuellen Regierungsbeteiligungen unterschreiben. Allerdings beginnt hier, fast am anderen Ende der Meinungsskala angekommen, auch etwas, das man »Optimismus der Straße« nennen könnte. Das Argument geht so: Man hätte, hieß es auch am Samstag aus dem Publikum, statt in der notorisch klammen Hauptstadt mit gebundenen Händen unsoziale Politik zu machen, die Berliner Bürger vor das Kanzleramt mobilisieren müssen. Dann wäre der ganze Kladderadatsch nicht passiert. Sondern? Wäre der Haushalt etwa durch Demos saniert worden? Egal. Mit solchen Hoffnungen wird auch an der PDS-Basis sympathisiert. Und dann finden sich noch jene, deren Haltung zur Regierungsfrage eine eher instrumentelle ist und eigentlich ganz andere Ziele verfolgt. Die Kritiker der Postenjäger sind manchmal nämlich selber welche.

Die Debatte, so alt sie ist, wird weitergehen. Es kommt aber immer mal eine Stunde der Wahrheit. Hans Modrow, der große alte Mann der PDS, sieht eine solche »Phase der Entscheidung« bald kommen. Im März sind Landtagswahlen in drei Bundesländern, in Sachsen-Anhalt steht die Frage nach dem Platz am Kabinettstisch wenigstens theoretisch im Raum. Im Herbst wird in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin gewählt. Es ist nicht mehr viel Zeit. »Wir haben zwei Parteien und eine Fraktion. Was, wenn wir aus zwei Parteien nicht eine machen können? Was wird dann aus der Fraktion?«

Man täte Hans Modrow jedoch unrecht, wenn man seinen Zwischenruf als Appell für eine bloß pragmatische Lösung verstehen würde, in der Regierungsbefürworter nur deshalb die Oberhand über den »Optimismus der Straße« behalten, weil sonst Konsequenzen für eine Bundestagsfraktion drohen. Man werde, sagt Modrow, die Diskussion über das Mitregieren ja auch danach weiter führen müssen. Rosa Luxemburg auf ihrem Porträt schaut nicht mehr ganz so beleidigt. Neue Bedingungen, neue Anläufe, neue Antworten.