Presse release | Sammlung offener Fragen

Ein "linkes" Nachschlagewerk (Maerkische Allgemeine Zeitung, 16.3.2006)

Über zwei Kilogramm wiegt die "Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000". Aber die Schwerkraft alleine macht das neue Handbuch wohl nicht zum "gewichtigsten und bedeutendsten Projekt der Rosa-Luxemburg-Stiftung", wie deren Vorsitzende Evelin Wittich es bei der Vorstellung des Buchs in Berlin nannte. Mit dem Nachschlagewerk, das von Konzeption bis Druck mit Mitteln der PDS-nahen Stiftung gefördert wurde, soll vielmehr die deutsche Geschichtsschreibung neu ausgerichtet werden. Denn die Entwicklung der beiden deutschen Staaten wurde vor allem im Hinblick auf deren Unterschiede untersucht.

Das Handbuch soll nun eine gesamtdeutsche Sicht präsentieren, die den Gemeinsamkeiten mehr Platz einräumt. Laut den Initiatoren ein Novum in der historischen Wissenschaft. Das Handbuch wurde jedoch nicht für Experten geschrieben, sondern für einen weiten Kreis interessierter Leser und vor allem für "junge Leute", wie Mitherausgeber Clemens Burrichter bemerkt. Es soll ein Nachschlagewerk für jedermann sein, in dem sich Westdeutsche ebenso über die Geschichte und den Alltag der DDR informieren können, wie Ostdeutsche über die Vorgänge im Westen.

Deshalb wurde darauf Wert gelegt, dass es mit fast 40 verschiedenen Autoren aus Ost und West keinen einseitigen Blick auf die Dinge gibt. Darüber hinaus soll die deutsch-deutsche Geschichte nicht wie üblich nur aus politikwissenschaftlicher, sondern auch aus soziologischer, kunstgeschichtlicher und - vor allem - ökonomischer Sicht betrachtet werden.

Das erste und längste Kapitel des Buches beschäftigt sich denn auch ausschließlich mit der Wirtschaftspolitik der beiden deutschen Staaten. Und zieht dabei bemerkenswerte Schlüsse. Der Autor Jörg Roesler stellt darin die These auf, dass die antagonistischen ideologischen Wertesysteme nur eine Art politischer Begleitmusik zur wirtschaftlichen Entwicklung waren. Die wirklichen Lenkungsprozesse wurden von Politikern im Einzelgang ohne politische Leitlinie vollzogen. Ob Erhard oder Ulbricht, beide reagierten nur auf ökonomische Prozesse, ohne dabei unbedingt der offiziellen Staatsideologie zu folgen: "Wenn die Regeln eingehalten wurden, dann oft formal, vielfach war man nachträglich bemüht, Political Correctness herzustellen - für die Öffentlichkeit, für die Geschichtsschreibung."

Hier zeigt sich wörtlich die Intention des Buchs, hinter die offizielle Historiographie zu schauen. Das Ergebnis ist überraschend, da die "Zeitgeschichte" ein "linkes Handbuch" sein soll. Roeslers Sicht der Geschichte mutet da fast neoliberal an. Solche Reibungsflächen sind laut Verleger Jörn Schütrumpf gewollt: "Dieses Buch ist weniger eine Zusammenfassung vorhandenen Wissens, als eine Sammlung der offenen Fragen."