Presse release | »Es geht um eine Strategie des Überlebens«

»Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Welche Bedeutung haben Erfahrungen sozialistischer Länder? Ein Gespräch mit Heinz Dieterich (junge welt, 11.11.2006)

Heinz Dieterich ist Professor an der staatlichen Autonomen Universität von Mexiko-Stadt

In Brasilien wurde Präsident Inácio »Lula« da Silva wiedergewählt, Hugo Chávez steht in Venezuela vor einem neuen Wahlsieg, Daniel Ortega ist in Nicaragua erneut Präsident. Geht es mit dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika voran?

Ja. Eine der Vorbedingungen für eine sozialistische Massenbewegung in Lateinamerika ist, daß zunächst die neoliberalen Regierungen aus dem Amt gehebelt werden. Dafür stehen die drei Wahlen. Es gibt jetzt eine Plattform, von der aus es leichter sein wird, den Übergang zum Sozialismus zu vollziehen.


Kann man davon sprechen, daß es z. B. in Venezuela Elemente einer Übergangsökonomie gibt?

In diesem Prozeß geht es gegenwärtig noch darum, die nationalen Ressourcen zurückzugewinnen, wie z. B. Gas und Öl in Bolivien oder Öl in Venezuela. Die erste Voraussetzung ist, die Rekapitalisierung der Industrie, der Landwirtschaft, die Sozial- und Entwicklungsprogramme für die Bevölkerung zu finanzieren. Auf dieser Grundlage und auf der Grundlage von Genossenschaften sowie über das Voranschreiten des gesellschaftlichen Bewußtseins werden wir, denke ich, bereits im kommenden Jahr die ersten konkreten Übergänge sehen. Das betrifft z. B. die Einführung einer Buchhaltung, die auf dem Wert beruht, nicht auf dem Preis, und das Ausweiten der Mitbestimmung in ökonomischen Fragen.

 
Sie haben einmal geschrieben, daß eine keynesianische Wirtschaftspolitik, also etwa wie die der westeuropäischen Sozialdemokratie in den 70er Jahren, faktisch die einzige Möglichkeit ist, in Ländern wie Venezuela eine Alternative aufzubauen. Gilt das noch?

Ja, aber es geht nicht um Keynesianismus allein. Er ist Teil einer Überlebens- und Akkumulationsstrategie, die gleichzeitig drei Aufgaben zu lösen hat: Aufbau sozialistischer Wirtschaftsformen, Verbreitung von sozialistischem Bewußtsein und lateinamerikanische Integration. Das muß parallel bewältigt werden, nicht in Etappen, wie das früher von den kommunistischen Parteien Lateinamerikas vorgeschlagen wurde – erst die bürgerliche Revolution und dann die sozialistische. Nein, das muß gleichzeitig geschehen.

 
Welche Rolle spielt Kuba in diesem Prozeß?

Die kubanischen Erfahrungen zeigen ebenso wie die in der DDR oder in der Sowjetunion, daß das zentralverwaltungswirtschaftliche System der Entwicklung der Produktivkräfte nicht angemessen ist. Es funktionierte in der Sowjetunion in den 30er und in den 50er Jahren. Angesichts des heutigen Weltmarkts, der Einführung der neuen Informationstechnologien ist diese zentralverwaltungswirtschaftliche Planung meiner Ansicht nach dysfunktional.

 
Sie nehmen in Berlin an der Konferenz über »Sozialismus im 21. Jahrhundert« teil, auf der es um die Erfahrungen sozialistischer Ökonomie gehen soll. Was ist aus Ihrer Sicht aktuell?

Die meisten sozialistischen Gesellschaften Europas und Kubas hatten außerordentlich große Erfolge in der Produktion öffentlicher Güter und Dienstleistungen, sowohl im Erziehungssystem wie im Versorgungssystem, z. B. im Schutz gegen Arbeitslosigkeit usw. Auf diesem Gebiet waren das außerordentliche Erfolgsökonomien.

 
Was ist mit den Planungsmethoden?

Lernen läßt sich, daß Versuche einiger Parteiführungen, z. B. von Walter Ulbricht in der DDR, mehr Mitbestimmung in den Betrieben herbeizuführen, von mittleren und unteren Strukturen des Staats- und Parteiapparates blockiert wurden. Das ist ein politisches Problem, das in jeder neuen sozialistischen Ökonomie auftauchen wird. Denn jede Demokratisierung gefährdet die existierenden Machtmonopole. Die Leute, die von ihnen profitieren, versuchen natürlich, Demokratisierung zu verhindern. Diese Potentiale der Sabotage eines sozialistischen Prozesses müssen außerordentlich genau in den Mißerfolgen der sozialistischen Ökonomie studiert werden.

Interview: Arnold Schölzel

* Konferenz »Sozialismus im 21. Jahrhundert – Probleme, Perspektiven in Wirtschaft und Gesellschaft«. Sonnabend, 11. November, 10 bis 17 Uhr, Rosa-Luxemburg Stiftung, Berlin, Franz-Mehring-Platz 1