Der kleine Trompeter. Ein Lied, das in der DDR jedes Kind gekannt hat. Die Verse erinnern an Fritz Weineck, Hornist im Roten Frontkämpferbund. Wehmütig klingt die Melodie, gleichzeitig aber auch nach Aufbruch und Weitermachen, trotz alledem.
Deshalb hätte Siegmar Buchwald vom Bildungsverein »Elbe-Saale« kaum einen besseren Ort wählen können als das ehemalige Fritz-Weineck-Ufer an der Saale (heute Rive-Ufer), um seinen Begleitern etwas von dem rebellischen Geist zu vermitteln, der seine Stadt einst zum »roten Halle« gemacht hat. Aus Serpuchow sind die Gäste angereist, das ist eine Industriestadt vor den Toren Moskaus, und in Halle wollen sie gegen eine deutsche Auswahl Schach spielen. Gleichzeitig geht es um sehr viel mehr: Das Treffen soll eine fast vergessene Tradition der sozialistischen Bewegung wiederbeleben. Das Arbeiterschach.
Fit für Klassenkampf
Ob Fritz Weineck jemals die Holzfiguren über das 64-Felder-Brett geschoben hat, ist nicht überliefert. Aber die Haltung des Hallensers, der sein Leben gab als überzeugter Kommunist, ist die gleiche gewesen, die einen Robert Oehlschläger vor gut 100 Jahren in Brandenburg an der Havel einen Schachklub gründen ließ, der sich ausdrücklich an die Werktätigen wandte. Erklärtes Ziel: Geistiges Training beim strategischen Spiel sollte mental fit machen für den antikapitalistischen Kampf. Wie es ein Manifest aus jenen Tagen formuliert: »Die Arbeiter-Schachspieler gliedern sich ein in die rote Klassenfront, die den Befreiungskampf des Proletariats führt.«
Aus bescheidenen Anfängen wuchs eine schlagkräftige Organisation, die zu ihren Glanzzeiten mehr als 10 000 Mitglieder zählte. Bis zum Sieg der Nazis 1933. Die verboten alle Arbeiterschachvereine, kommunistische und jüdische Aktivisten wurden in KZ verschleppt und ermordet.
Diesen historischen Hintergrund zeichnete Arndt Willeke zum Auftakt der deutsch-russischen Begegnung an diesen Apriltagen 2007 in Halle in einem Vortrag nach. Der 47-Jährige aus dem niedersächsischen Seesen handelt im Vermächtnis seines 2001 verstorbenen Vaters Gerhard, der als erster die Geschichte des deutschen Arbeiterschachs in einer Monografie zusammengefasst hat. Eigentlich ist das Buch mehr eine spannende Materialsammlung für Schachhistoriker. Dass es urplötzlich eine derart große Beachtung erfährt, »darüber würde Vater staunen«, ist sich sein Sohn sicher.
Den entscheidenden Anstoß hatte die russische Seite gegeben. Zufällig fand Viktor Schekin, Leiter der Delegation aus Serpuchow, Dokumente in den Archiven, die über einen denkwürdigen Ausflug nach Westen berichteten: über einen Schachwettkampf 1925 in Berlin zwischen sowjetischen und deutschen Genossen. Danach war, bedingt durch die Zeitläufe, die Verbindung abgerissen, und genau das weckte den Ehrgeiz des energischen Mittsiebzigers mit der wilden weißen Tolle eines Filmstars. Er fragte an beim Moskauer Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ob die vielleicht versprengte Veteranen des deutschen Arbeiterschachs ausfindig machen könnte. Die Stiftungsleute wiederum wandten sich an das Sportressort von Neues Deutschland. Es wurde ein Kontakt zu Arndt Willeke hergestellt, der rief seinen Verleger Godehard Murkisch an, und der startete einen Rundruf. Die Steine kamen in Bewegung. Im Dezember 2005 reiste eine Abordnung aus Deutschland nach Serpuchow, und sie machte beim Rückspiel nach 80 Jahren mit 4:1-Punkten die 3,5:1,5-Niederlage von Berlin wett.
Aljechin als Vorbild
So allerdings hatten sich die Russen das Rückspiel nicht vorgestellt. Zumal sie einiges zur Unterstützung aufgeboten hatten, einen Helden der Sowjetunion inklusive, den hoch dekorierten ehemaligen Kosmonauten Viktor Wassiljewitsch Gorbatko. Mannschaftskapitän Schekin forderte deswegen auch sofort »freundschaftliche Revanche auf deutschem Boden« – und um genau die ging es jetzt im April 2007 in Halle an der Saale; Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Bildungsverein »Elbe-Saale« hatten diesen abermaligen Deutschlandbesuch nach über 80 Jahren organisiert.
Zwar kann Serpuchow 2007 nur drei Kader mobilisieren, außerdem hat Kosmonaut Gorbatko keine Zeit, dafür schloss sich dem russischen Team ein Botschafter a. D. an. Rostislaw Sergejew hatte schon die Besuche von Adenauer und Ulbricht 1955 in Moskau attachiert, und er war später in Mexiko stationiert. Aber auch einen Vertreter der ganz jungen Generation bieten die Russen diesmal auf: den erst zehnjährigen Alexandar Shestun, der gleich nach der Ankunft couragiert mitteilt, dass er keinem geringeren als dem unvergessenen Weltmeister Aljechin nacheifere.
Die Anwesenheit des Aljechin-Jüngers bereitet den Deutschen einiges Kopfzerbrechen. Für den ersten Abend des Freundschaftskampfes im Intercity-Hotel in Halle-Neustadt findet sich kein gleichaltriger Herausforderer für Alexandar. Dolmetscherin Valentina Veremenko, die ersatzweise einspringt, fertigt der Dreikäsehoch ziemlich ungalant ab. Erst am nächsten Abend gelingt es dem deutschen Teamchef Anton Csulits, die Nachwuchshoffnung Leo Kämpfe herbeizutelefonieren, und der stoppt vorerst den Höhenflug von Aljechin Nr. 2 ...
Heißes Pflaster in Halle
Doch Halle soll dann 2007 auch insgesamt zum heißen Pflaster für die Russen werden. 4:2 heißt es am Ende für die deutschen Arbeiterveteranen. Das ist also eine klare Niederlage. Sie wird von den Männern aus Serpuchow trotzdem sportlich und locker weggesteckt, und sie holen zudem noch einen Plan aus dem Gepäck, der ein Zeichen setzen soll im deutsch-russischen Dialog. »Wir wünschen uns, dass der Austausch, der zwischen deutschen und russischen Arbeiterschachsportlern in Gang gesetzt worden ist, keine Episode bleibt«, erklärt Serpuchows Sprecher Viktor Schekin, nachdem die Schachuhren abgestellt worden sind. Sein Vorschlag: die Gründung eines grenzüberschreitenden Schachverbundes aus Sachsen-Anhalt und der Region Serpuchow. Ihm schwebe vor, dass ältere Spieler die Jungen motivieren und anleiten könnten, um den gemeinsamen Sport zu pflegen und die deutsch-russische Partnerschaft auszubauen.
Diplomatischer Vorstoß
Dieser Vorstoß entpuppt sich dann beim gründlicheren Gespräch als mehr als nur eine nette Geste. Schließlich ist die Liebe zum Schach eher ein nachgeordneter Grund, warum der einstige Botschafter Rostislaw Sergejew, der immerhin auch schon das 80. Lebensjahr vollendet hat, die Delegation aus Serpuchow begleitet. Sergejew gehört der russischen »Außenpolitischen Vereinigung« an. Die war 1991 in Moskau auf Anregung von Eduard Schewardnadse gegründet worden, des einstigen sowjetischen Außenministers und späteren georgischen Staatschefs. Gerade in Zeiten, da sich – siehe die aktuellen Raketenpläne der US-Amerikaner – ein neuartiger Ost-West-Konflikt abzuzeichnen drohe, könnte ein solcher Brückenschlag von Halle nach Serpuchow durchaus besondere Symbolkraft entfalten, resümiert der erfahrene Diplomat.
Auf diesen Zusammenhang weist dann auch Siegmar Buchwald vom Bildungsverein »Elbe-Saale« mit der Hoffnung hin, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung entsprechend reagiert und die Idee auf die bilaterale Ebene hebt. Anton Csulits, Teamchef der deutschen Arbeitersportler und gleichzeitig Geschäftsführer des Landesschachverbandes Sachsen-Anhalt, kündig an, dass er das Projekt in den zuständigen Gremien vortragen wird.
Womit Schach in der Traditionslinie des Arbeiterschachs irgendwie sogar Politik machen könnte. Eine Dimension, die der Sohn und Herausgeber des Arbeiterschach-Chronisten Gerhard Willeke »äußerst spannend« findet. »Ein kluges Spiel verbindet Völker. Das wär's doch.«
Presse release | Europa Nach 80 Jahren wieder Besuch aus Serpuchow
Eine alte Arbeiterschachtradition beginnt aufzuleben (Neues Deutschland, 4.5.07)