Presse release | Konsequent sein

Die Rückkehr des Viktor Agartz. In Remscheid erinnerte eine Tagung an den »Oskar Lafontaine der 50er Jahre« (junge welt, 19.12.2007)

Es war ein besonderer Tag. Am 13.Dezember 1957 verließ mit Viktor Agartz einer der bedeutendsten Politiker der 1950er Jahre den Bundesgerichtshof in Karlsruhe als zwar freier, aber politisch toter Mann, wie es die Welt damals treffend formulierte. Agartz, der neben Hans Böckler und Kurt Schumacher einstmals wichtigste Funktionär der sozialdemokratischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung der Nachkriegszeit, war in einem Landesverratsprozeß wegen vermeintlich verfassungsverräterischer Verbindungen zum ostdeutschen Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) angeklagt worden, weil er im Laufe des Jahres 1956 die damals stolze Summe von über 100000 DM aus Ostberlin angenommen hatte, um die Herausgabe seiner gewerkschaftsoppositionellen Zweiwochenzeitschrift WISO finanziell abzusichern.

Das stempelte ihn im antikommunistischen Klima der Adenauer-Zeit zum Fellow-traveller der Kommunisten. Daß der Bundesgerichtshof der Staatsanwaltschaft nicht folgen wollte und Agartz aus Mangel an Beweisen freisprach, konnte nichts mehr daran ändern, daß die das ganze Jahr 1957 anhaltende Medienkampagne Agartz zur persona non grata und den westdeutschen Linkssozialismus zum Zwillingsbruder des Kommunismus stempelte.

Daran erinnerte der Bochumer Historiker Christoph Jünke die über einhundert Teilnehmer einer Agartz-Fachtagung, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung zusammen mit der Rosa Luxemburg-Stiftung im Remscheider Werkzeugmuseum, der Heimatstadt von Agartz, just am 13. Dezember 2007 organisierte. Beide hier erstmals gemeinsam auftretenden Stiftungen hatten eingeladen, um anläßlich des 110.Geburtstages (15.November 1897) an Agartz zu erinnern und die Frage zu diskutieren, ob seine lohn- und wirtschaftspolitischen Überlegungen auch heute noch Relevanz haben könnten.

Zur Annäherung an den aus dem kollektiven Gedächtnis der Linken weitgehend verdrängten Agartz zog Jünke den provozierenden historischen Vergleich, daß man es bei Agartz mit einer Art »Oskar Lafontaine der 1950er Jahre« zu tun gehabt hätte. Beides seien in ihrer Zeit führende Politiker des sozialdemokratischen Establishments, die in einer Zeit des historischen Umbruchs und Übergangs ihren vermeintlich veralteten Überzeugungen treu blieben und dafür gesellschaftspolitisch ausgegrenzt, beschimpft und diffamiert wurden – nicht zuletzt, weil sie sich, so Jünke, für eine erneuerte Linke engagierten. Doch während Lafontaine die Tradition des nachhaltig ausgehöhlten deutschen Sozialstaates erneuern wolle, stand Agartz diesem aufsteigenden Sozialstaat ausgesprochen skeptisch gegenüber und wollte »nichts weniger als die radikale, sozialistische Tradition der deutschen Arbeiterbewegung erneuern« (Jünke).

 
Mit Bodenhaftung

Auch der zweite Referent, der Amsterdamer Politikwissenschaftler Michael Krätke, betonte die Originalität von Agartz, der sozialistische Überzeugungen und Strategien mit einer empirischen Bodenhaftung verbunden habe, die man heute nur noch selten finde. Am Beispiel eines Agartzschen Gesetzentwurfes zur umfassenden wirtschaftspolitischen Neuordnung nach Faschismus und Krieg stellte Krätke Agartz' Vision einer mit radikal-demokratischen Methoden organisierten sozialisierten Gemeinwirtschaft vor, die verblüffende Ähnlichkeiten zu den heutigen sozialwissenschaftlichen und politisch-theoretischen Diskussionen aufweise, die man zumeist unter dem Stichwort eines »neuen Marktsozialismus« oder einer »Sozialisierung des Marktes« kenne.

 
Auftritt Ehrenberg

Der ehemalige sozialdemokratische Bundesarbeitsminister Hans Ehrenberg nahm danach den historischen, bei Jünke eher sachlich-nüchtern intendierten Vergleichsfaden zwischen Agartz und Lafontaine wieder auf, benutzte ihn jedoch für einen heftigen Angriff auf den für Gewerkschafter seines Erachtens unannehmbaren Lafontaine. An Agartz dagegen sei jedoch auch heute noch anzuknüpfen, vor allem an dessen Ende 1953 aufgestellter Idee einer expansiven Lohnpolitik. Es sei einfach falsch, daß Agartz' Versuch, mittels expansiver lohnpolitischer Forderungen die gesamtwirtschaftliche Lohnquote nachhaltig zugunsten der Arbeitnehmer zu verändern, anderen etwas wegnehme. Geschmälert werde nicht der Gewinn des Unternehmens, sondern einzig der private Gewinn des Unternehmers. Die Gewerkschaften sollten deswegen wieder, so Ehrenberg mit Enthusiasmus, zu einer aktiven, ja mehr noch, zu einer »positiven Lohnpolitik« als Mittel der Konjunktur- und Strukturpolitik wie in den 1970er Jahren zurückkehren.

Mit ihrer eindrücklichen Darstellung der realen historischen Entwicklung der Löhne versuchten dagegen Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten vom gewerkschaftseigenen Wirtschaftsforschungsinstitut WSI die Grenzen einer gewerkschaftlichen Lohnpolitik aufzuzeigen. Selbst in den Hochzeiten des lohnpolitischen Kampfes, also in den 60er und 70er Jahren, habe die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft allenfalls mit dem Produktivitätsfortschritt gleichziehen können. Ein steigender Anteil am gesamtgesellschaftlichen Kuchen, eine reale Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten, sei damit nicht verbunden gewesen. Es komme eben ganz darauf an, nicht einzelne Aspekte wie die Lohnpolitik oder die Mitbestimmung aus dem an sich ganzheitlichen Neuordnungskonzept herauszulösen. Dann verändere sich auch der Charakter der Einzelaspekte. Daß jede Form einer neuen lohnpolitischen Offensive nur im Verbund mit einer entsprechenden Wirtschafts- und Finanzpolitik funktionieren könne, vertieften in der abschließenden Podiumsdiskussion auch noch Gustav Horn von der Hans Böckler-Stiftung, Sabine Reiner von ver.di und Hans-Jürgen Urbahn von der IG Metall.

So schloß sich der Diskussionskreis der Tagung zu den einleitenden Ausführungen Jünkes, der betont hatte, daß die Aktualität der Auseinandersetzung mit Agartz' Leben und Werk weniger in der Zustimmung oder Ablehnung dieser oder jener These bestehe, sondern darin, daß dieser gewerkschafts- und gesellschaftspolitische Positionen mit einer selten anzutreffenden Autorität und Konsequenz formuliert hat, die auch heute noch im Zentrum der aktuellen Diskussionen stehen.