Publication Rassismus / Neonazismus - Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte - Erweiterung des Terrains Bürgerrechte statt Ausschluss

Rainer Bauböck zu neuen Konzepten europäischer Bürgerschaft

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Rainer Bauböck,

Published

May 2017

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Rainer Bauböck
Rainer Bauböck, Foto: privat

Rainer Bauböck, Politikwissenschaftler und Mit-Koordinator des «European Union Democracy Observatory on Citizenship», zu Grenzen des Weltbürgertums, zur Notwendigkeit neuer Konzepte von europäischer Bürgerschaft und zur Frage, warum in Zeiten des Neoliberalismus ein Wirbelsturm Staatenlose hinterlässt. 

Unter dem Titel «Die Erweiterung des Terrains. Migrationspolitik als Transformationsprojekt. Eine Baustellenbesichtigung» befragt unser Autor Günter Piening zehn ausgewiesene Expert*innen im Bereich der Migrations- und Rassismusforschung zu Perspektiven (post-)migrantischer Interventionen. Die einzelnen Gespräche thematisieren das europäische Grenzregime, globale Bürgerrechte, die Rolle des Wohlfahrtstaates in den Klassenauseinandersetzungen, die Solidarität in betrieblichen Kämpfen, die Geschlechterfrage in postkolonialen Verhältnissen, die Kämpfe der Geflüchteten um Teilhabe und die Stärke (post-)migrantischer Lebenswelten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Migration als ein Vermögen begreifen, die soziale Frage in einem demokratisierenden Sinn zu beantworten. Unser Dossier «Migration» setzt damit der gesellschaftlichen Polarisierung, die gegenwärtig vor allem um die Frage von Einwanderung, Teilhabe und Bürgerrechte kreist, eine linke Position jenseits national-sozialer Kurzschlüsse entgegen.
Bis Ende Juni 2017 veröffentlichen wir jeden Montag eines der insgesamt zehn Expertengespräche.

Günter Piening: Was umfasst «Das Recht, Rechte zu haben» heute, vor dem Hintergrund globaler Migrationsbewegungen, aber auch vor dem Hintergrund des sozialen Abstiegs und der Marginalisierung großer Teile der autochthonen Bevölkerung?

Rainer Bauböck: In ihrem Buch über die Ursprünge totalitärer Herrschaft hat Hannah Arendt 1951 Staatsbürgerschaft als das «Recht, Rechte zu haben» bezeichnet. Sie wies damals darauf hin, dass die Nazis den deutschen Juden erst die Staatsbürgerschaft entzogen, bevor sie sie ausrotteten. In Arendts Sicht waren allgemeine Menschenrechte ein leeres Versprechen für jene, die von keinem Staat als Staatsbürger anerkannt wurden. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg fand dieses Argument viel Aufmerksamkeit. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte deklarierte schon 1948 ein Recht auf Staatsangehörigkeit. Staatenlosigkeit ist noch immer ein gravierendes Problem, aber die meisten MigrantInnen besitzen ja die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes. Ein Recht auf Einbürgerung ist im Völkerrecht jedoch nur ganz schwach entwickelt – und im wesentlichen reduziert auf ein Diskriminierungsverbot aufgrund rassischer, ethnischer oder religiöser Kriterien.
 

Das Recht, in zwei Staaten Rechte zu haben

Internationale MigrantInnen, die sich auf längere Zeit in einem anderen Staat niederlassen, haben aber in der Regel starke Bindungen sowohl an das Herkunfts-, als auch das Aufnahmeland. Um ihre Lebenspläne zu realisieren, brauchen sie das «Recht, in zwei Staaten Rechte zu haben», einschließlich des Rechts auf Mobilität zwischen diesen. Nur der Zugang zur Doppelstaatsbürgerschaft sichert diese. Was aus der Sicht der einheimischen Bevölkerung wie ein ungerechtfertigtes Privileg erscheint, ist nichts anderes als die Berücksichtigung der Tatsache, dass MigrantInnen – im Unterschied zu sesshaften BürgerInnen – in transnationalen Räumen leben und daher mehrere Staaten für den Schutz ihrer Rechte verantwortlich sind.

Die überwiegende Mehrzahl der Herkunftsstaaten toleriert inzwischen Doppelstaatsbürgerschaft und auch bei Einwanderungsstaaten gibt es einen klaren Trend zur Akzeptanz. In Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Norwegen wird dagegen in diskriminierender Weise zwischen jenen unterschieden, die per Geburt Doppelstaatsbürger sind oder deren Herkunftsland die Ausbürgerung verweigert, und jenen, die bei der Einbürgerung eine fremde Staatsangehörigkeit zurücklegen müssen.

Citizenship bedeutet allerdings mehr als Staatsangehörigkeit. Die amerikanische Soziologin Margaret Somers hat jene Afroamerikaner, die 2005 im vom Hurrikan Katrina verwüsteten New Orleans von den Evakuierungsteams zurückgelassen wurden, als «Staatenlose» im Sinne Arendts bezeichnet. Sie waren eine sozial so weit marginalisierte Bevölkerungsgruppe, dass sich der Staat selbst für die Rettung ihrer Menschenleben nicht mehr zuständig fühlte. Die Kombination von galoppierender sozialer Ungleichheit und Segregation, welche diese für die Mehrheitsbevölkerung unsichtbar macht, erzeugt tatsächlich eine Form der Rechtlosigkeit, welche die Legitimität staatlicher Herrschaft in Frage stellt.

Selbst die Superreichen, für die fast überall die Grenzbalken geöffnet werden, müssen sich zunächst die richtigen Pässe besorgen.

Wäre eine Art Weltbürgertum eine Lösung?

Solange es ein internationales System unabhängiger Staaten gibt, kann Staatsbürgerschaft nicht durch Weltbürgerschaft ersetzt werden. Selbst die wenigen Superreichen, für die in fast allen Staaten die Grenzbalken geöffnet werden, müssen sich zunächst die richtigen Pässe besorgen. Arendt hat insofern noch immer recht: Weltbürgerschaft auf der Basis universeller Menschenrechte bleibt eine Utopie, wenn Menschen nicht als Staatsbürger ihre Rechte von bestimmten Regierungen einfordern können.

Welche Folgen hat es für Gesellschaften, wenn – wie in Deutschland – rund 10 Prozent insgesamt und in den Ballungsräumen wie Berlins Innenstadtbezirien mehr als 20 Prozent der Bevölkerung langfristig von Wahlentscheidungen ausgeschlossen werden?

Unter den heutigen Umständen scheinen die Folgen dieses Ausschlusses nicht dramatisch. Die meisten dieser Menschen haben einen relativ sicheren Aufenthaltsstatus und dieser sichert ihnen weitgehende Gleichstellung bei den zivilen Freiheitsrechten und sozialen Wohlfahrtsrechten. Es gibt auch seitens der MigrantInnen keine vergleichbare Mobilisierung für das Wahlrecht, wie es sie für die Einführung des Frauenstimmrechts oder in den 1960er Jahren für die Abschaffung rassistischer Diskriminierung in amerikanischen Südstaaten gab.
 

Recht auf lokales Wahlrecht für alle Bewohner*innen

Anders ist die Situation auf kommunaler Ebene zu beurteilen. In Europa gibt es kommunale Wahlrechte nicht nur für EU-Bürger in den anderen Mitgliedsländern, sondern in insgesamt 14 Staaten ein staatsangehörigkeitsneutrales lokales Wahlrecht für alle, die sich in einer Gemeinde niederlassen. Auch in Südamerika gibt es diese Form der kommunalen Wohnbürgerschaft in immerhin acht Staaten. Dieser demokratiepolitische Trend hat in meinen Augen gute normative Gründe. Kommunen haben offene Grenzen und keine Kompetenz in der Einwanderungspolitik. Sie sind vielmehr für die Integration hochgradig diverser Gesellschaften zuständig und müssen für alle Bewohner öffentliche Güter und Dienstleistungen bereitstellen. Aus der Sicht der kommunalen Selbstverwaltung ist die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigen, EU-Bürgern und Drittlandsausländern eine willkürliche und daher diskriminierende Kategorisierung, die ihnen von der nationalen Gesetzgebung aufgezwungen wird.

Ich plädiere für ein Mehrebenenmodell der Bürgerschaft, in dem der politische Kern von Citizenship, nämlich das Wahlrecht, an den Status der Mitgliedschaft gebunden bleibt. Auf staatlicher Ebene wird die Staatsbürgerschaft per Geburt oder durch Einbürgerung erworben und geht bei Auswanderung nicht verloren. Das Wahlrecht kann daher auch von Auswanderern ausgeübt werden. Auf lokaler Ebene wird die Kommunalbürgerschaft dagegen durch Begründung eines Wohnsitzes erworben und das Wahlrecht hängt daher nur von diesem ab und geht auch mit der Auswanderung aus der Gemeinde wieder verloren.

Wie kann eine europäische Citizenship so gefasst werden, dass eine neue «europäische Apartheid», wie Balibar es nennt, verhindert wird?

Die europäische Unionsbürgerschaft ist ein historisch relativ einzigartiges Experiment, auch wenn sich in Lateinamerika heute vergleichbare Modelle mit Personenfreizügigkeit und supranationalen gewählten Parlamenten entwickeln. In meiner Sicht ist nicht die Ableitung der Unionsbürgerschaft von der Staatsbürgerschaft in einem Mitgliedsland das Problem – diese Konstruktion ist unvermeidbar für eine Staatenunion, die selbst kein Projekt des Nationenbaus verfolgt. Daraus ergibt sich auch, dass das Wahlrecht zum Europaparlament ebenso wie das Recht auf freie Einwanderung und Niederlassung in einem anderen Mitgliedsland nicht ohne weiteres auf alle Drittstaatsangehörigen ausgeweitet werden kann. Die Union würde sich damit in Richtung auf einen gesamteuropäischen Staat bewegen, der weder in den europäischen Verträgen vorgesehen ist, noch auf ausreichende Zustimmung in der europäischen Bevölkerung stoßen würde.