Publication Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Rassismus / Neonazismus - Arbeit / Gewerkschaften - Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte - Europa - Westeuropa - Erweiterung des Terrains Ein neues Koordinatensystem

Manuela Bojadžijev zu den neuen transnationalen Netzwerken und Perspektiven linker Migrationspolitik

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Manuela Bojadžijev,

Published

June 2017

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Manuela Bojadžijev
Manuela Bojadžijev, Foto: Privat

Die Migrationsforscherin Manuela Bojadžijev zum Verhältnis von Klasse und Rassismus und zu den Aufgaben und Perspektiven linker Migrationspolitik.

Unter dem Titel «Die Erweiterung des Terrains. Migrationspolitik als Transformationsprojekt. Eine Baustellenbesichtigung» befragte unser Autor Günter Piening Anfang 2017 zehn ausgewiesene Expert*innen im Bereich der Migrations- und Rassismusforschung zu Perspektiven (post-)migrantischer Interventionen. Die einzelnen Gespräche thematisieren das europäische Grenzregime, globale Bürgerrechte, die Rolle des Wohlfahrtstaates in den Klassenauseinandersetzungen, die Solidarität in betrieblichen Kämpfen, die Geschlechterfrage in postkolonialen Verhältnissen, die Kämpfe der Geflüchteten um Teilhabe und die Stärke (post-)migrantischer Lebenswelten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Migration als ein Vermögen begreifen, die soziale Frage in einem demokratisierenden Sinn zu beantworten. Unser Dossier «Migration» setzt damit der gesellschaftlichen Polarisierung, die gegenwärtig vor allem um die Frage von Einwanderung, Teilhabe und Bürgerrechte kreist, eine linke Position jenseits national-sozialer Kurzschlüsse entgegen.
Mit dem Interview mit Manuela Bojadžijev schließen wir die Gesprächsreihe. Eine gedruckte Publikation der Gespräche ist zu einem späteren Zeitpunkt geplant.

Günter Piening: Mehr denn je werden die Fragen der Produktion von gesellschaftlichen Aus- und Einschlüssen  unter dem Label «Migration» verhandelt und entlang dieser Konflikte bilden sich die politischen Lager. Sollten wir nicht aufhören, von «linker Migrationspolitik» zu reden? Es geht doch um Grundfragen der Gesellschaftspolitik.

Manuela BojadžijevIm Rahmen einer über Monate systematisch geführten gemeinsamen Diskussion zu den Engpässen kritischer Migrationsforschung im Labor Migration des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität haben wir diese Forderung nach einer solchen Verschiebung in die Formel «Entmigrantisierung der Migrationsforschung und Migrantisierung der Gesellschaftsforschung» übersetzt. Dieser seit 20 Jahren überfällige Perspektivenwechsel gilt nicht nur für die Forschung. 

Aber geändert hat sich wenig. Gedacht wird immer noch in Kategorien wie «Innen» und «Außen», in national verfasstem Raum mit einer bestimmten mehrheitlich nationalen Bevölkerung. Die Regeln zur Einwanderung und zur Staatsbürgerschaft sichern diesen Raum durch Ausschluss und bringen ein grundlegendes undemokratisches Moment in unsere Gesellschaften. Wenn wir wollen, dass unsere Gesellschaften Demokratien sind, werden wir Abschied nehmen müssen von der Vorstellung einer homogenen Bevölkerung, in die hinein etwas integriert wird. 
 

Demokratisierung heißt schneller Zugang zu Rechten

Das betrifft zum einen das Grenzregime. Es ist politisch sehr ergiebig, Grenze als differenzierte und differenzierende Institution zu sehen. Grenze ist nicht nur «außen» an Rändern, sondern überall, wo im Zusammenhang mit Einwanderung Rechte zugewiesen werden – in den Kontrollen auf den Bahnhöfen, auf der Ausländerbehörde, aber eben auch in Bezug auf die Zugänge zum segmentierten und transnationalen Arbeitsmarkt. Wie und nach welchen Regeln diese umfassende Institution «Grenze» arbeitet, muss in den demokratischen Entscheidungsprozess zurückgeführt werden.
Demokratisierung in diesem umfassenden Sinne heißt vor allem auch, dass die Leute schnell über alle Rechte verfügen müssen, dass wir Wohnen, Arbeit, Bildung, Gesundheit umorganisieren, damit die, die kommen, daran schnell teilhaben können.

Zentrales Anliegen linker «Migrationspolitik» sollte es also sein, die unter dem Abschottungsparadigma autoritär gewordenen europäischen Demokratien demokratisch zu erneuern.

Derzeit scheinen aber eher autoritäre Antworten auf die europäische Krise beim Wahlvolk beliebt zu sein. Macht die Linke etwas falsch?

Die Linke stellt sich, selbst dort, wo sie nicht glaubt, den Abschottungspolitiken das Wort reden zu müssen, den mit Fragen der globalen Migration verbundenen Verschiebungen unzureichend. Man hat keinen positiven Entwurf. Man hat eine humanistische Haltung oder eine naive, oder eine, die der politischen Situation ausweicht, oder eine utopistisch radikale Position. Aber es fehlt an konkreten positiven Positionen und den Bildern, den Narrativen, die das erläutern.

Stattdessen haben manchmal linke und rechte Argumente eine ähnliche Grundierung, besonders wenn es um die Thematisierung von Migration und Sozialstaat geht ...

Ja, leider. Ich halte das für eine fatale Strategie. Aber neben einer rein strategisch oder taktischen Bewertung im politischen Feld spielen auch kulturelle Fragen der Organisierung eine Rolle. Wer sind Linke? An wen treten sie heran? Wem hören sie aktiv zu? Welche sozialen Welten kennen sie? Jenseits des proklamatorischen Internationalismus gibt es hier manchmal erschütternde Antworten.

Das ist übrigens ein Phänomen, das weit über die Linke hinaus geht. Leider wissen wir bislang viel zu wenig darüber, in welchem Maße wir es mit kulturellen und sozialen Segregationen zu tun haben. Das hat auch viel damit zu tun, dass die oftmals alten Institutionen der Arbeiterschaft immer noch als national gedacht werden.
 

Die Linke muss ein anderes Koordinatensystem entwickeln

Besonders folgenreich ist, wenn von Linken die Aufnahme von Geflüchteten als eine Überforderung der unterprivilegierten deutschen Bevölkerung gesehen wird. Erstens ist das empirisch jenseits aller Realität, denn Armut in Deutschland ist migrantisch. Strategisch landet man also im Niemandsland, denn wer sagt, er oder sie vertritt die Unterprivilegierten und verschätzt sich völlig, wer das ist, der spricht niemanden an. Es hat aber auch massive Auswirkungen auf die migrantische Bevölkerung. Der Rassismus in der deutschen Politik und die Erfahrung, dass sie nicht vertreten werden, stärken auch dort autoritäre Strukturen. Wir leben in einer Einwanderungsgesellschaft, und da von einer deutschen Bevölkerung auszugehen, ist kontrafaktisch. D.h. Linke Politik muss ein anderes Koordinatensystem entwickeln.

Wie wäre in diesem anderen Koordinatensystem der Zusammenhang von sozialer Frage und Rassismus, von Klasse und Rassifizierung so zu entwickeln, dass er Ausgangspunkt für tragfähige linke Politiken sein kann?
 

Klassenpolitik wird zu einer Art Identitätspolitik für Deutsche umgedeutet

Das ist eigentlich ganz leicht erklärt. Diese Argumente sind schon seit einer Ewigkeit verfügbar, auch wenn sie selbstverständlich stets aktualisiert werden müssen. Sie werden aber ignoriert, vergessen, nicht priorisiert etc. Die Zusammenhänge lassen sich zum Beispiel beim Soziologen W. E. B. Du Bois nachlesen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es seine Studien zur Situation der Schwarzen in den USA. Seine und auch die Überlegungen anderer sind seitdem immer wieder erneuert worden – in allen Bewegungen, die sich gegen Rassismus zur Wehr gesetzt haben und die einen Sinn für seine strukturelle Dimension entwickelten.

Rassismus wird viel zu häufig allein als gesellschaftliche Differenzkategorie betrachtet und von der strukturellen Ungleichheit unserer Wirtschaftsweise getrennt. Diese Ungleichheit versteht man aber gar nicht, wenn man nicht Rassismus als ihr integrales Element nachzeichnet.