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Sammelrezension zu "1968"

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Gottfried Oy,

Das Thema ist „abgefrühstückt“ – um mal eine dieser unsäglichen journalistischen Redewendungen zu gebrauchen. Das sind wohl die Auswirkungen einer Gesellschaft des Spektakels: Erst arbeitet eine ganze Branche darauf hin, Verlage und AutorInnen terminieren ihre Publikationen und dann fehlt die Muße oder einfach der Wille, sich mit dieser Flut von Veröffentlichungen überhaupt auseinander zu setzen. Leider gehen so auch viele gute Bücher dabei unter – Grund genug, sich einmal mehr in einer Rezension mit 1968 zu beschäftigen.
Vielleicht sind es ja gerade die spannendsten Bücher, die die entsprechende Jahreszahl gar nicht im Titel führen: Richard Heigl etwa beschäftigt sich mit Wolfgang Abendroth und der Entstehung der Neuen Linken im Vorfeld von 1968. Die Brückenfigur Abendroth – ein Vermittler zwischen dissidenten linkssozialistischen Strömungen der Weimarer Zeit sowie der unmittelbaren Nachkriegszeit und der traditionalistische Flügel des SDS stehen im Mittelpunkt dieser Abhandlung. Heigl nimmt eben nicht, wie so viele, die Antiautoritären für das Ganze und zeichnet den Weg nach, den die Bewegung nahm, deutet aber auch an, welche Wege sie hätte nehmen können. In der zugespitzten Situation des Prager Frühlings und seiner Niederschlagung war die Westlinke noch einmal gezwungen, ihr Verhältnis zum Staatssozialismus zu klären, das traditionalistische Lager zerbrach daran, die Gründung der DKP leistete dem Ende dieser Debatte Vorschub. Heigl sieht aber auch die Schwierigkeiten, die Linkssozialisten wie Abendroth mit der antiautoritären Strömung hatten, betont die kulturellen Differenzen, die eine weitere Zusammenarbeit nahezu unmöglich machten. Wenn Heigl auch stellenweise der Gefahr unterliegt, die Person Abendroth zu überhöhen, ist doch sein biografischer Zugang von genügend kritischer Distanz geprägt, was seine Arbeit sehr lesbar macht.
Niels Seibert orientiert sich ebenso nicht an den gängigen Zeitmarken, sondern beleuchtet Internationalismus und Antirassismus in der Bundesrepublik von 1964 bis 1983. Dabei wird deutlich, dass migrantische Proteste oftmals Ursprung von später bekannten Bewegungen waren, von ersten begrenzten Regelverletzungen im Vorfeld von 1968 bis hin zum Frankfurter Häuserkampf, den keineswegs Cohn-Bendit und Co. begannen, sondern türkische und italienische Arbeiterinnen und Arbeiter auf der Suche nach bezahlbaren und menschenwürdigen Unterkünften. Viele Geschichten, die Seibert erzählt, sind in Vergessenheit geraten, sei es die Cabora Bassa-Kampagne gegen die portugiesische Kolonialpolitik, die Black Panther-Unterstützung oder die Fluchthilfe für US-amerikanische Vietnamkriegsdeserteure. Oftmals handelte es sich um sehr konkrete Unterstützungsaktionen, praktische Solidarität statt großer Publizität. Entsprechend prekär ist hier die Quellenlage. Leider verzichtet Seibert allzu oft auf Quellennachweise, unklar bleibt, an welchen Stellen er sich auf Zeitzeugeninterviews - die im Anhang aufgeführt werden - bezieht und wo er schriftliche Dokumente auswertet.
Eine randständige Publikation anderer Art ist allein schon wegen ihres Themas die von Thomas Hecken. Hier stehen einmal nicht die spektakulären und medienwirksamen Aktionen und Happenings rund um 68 im Mittelpunkt, sondern „Texte und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik", wie es im Untertitel dieses Essays heißt. Während zahlreiche Interpreten, wie etwa zuletzt Götz Aly, nicht müde werden zu betonen, wie unlesbar die Theorieproduktion aus jener Zeit heute sei, überzeugt Hecken vom Gegenteil. Er greift das Stichwort der „Lesebewegung" auf und widmet sich konsequenter Weise der intellektuellen Produktion der 68er und ihrer Vorläufer - ein durchaus interessantes Unterfangen.
Sein Essay bleibt durchgängig historisch, unter dem Titel „Kritik an der 68er-Bewegung" greift er abschließend zeitgenössische Kritiker der antiautoritären Revolte auf. Mit Habermas, Hobsbawm und Pasolini präsentiert er eine internationale Mischung, welche die zentralen Argumente beinhaltet: Kritik am Voluntarismus, an der mangelnden Schärfe der Gesellschaftsanalyse und an der Bürgerlichkeit der Bewegung.
Ingrid Gilcher-Holtey legt mit „1968. Eine Zeitreise“ eine der wohl besten Publikationen im Jubiläumsjahr vor – trotz der sehr wohl vermeidbaren Jahreszahl im Titel – siehe Heigl und Seibert. Bei Gilcher-Holtey hat eben diese Jahreszahl aber eine äußerst konkrete Bewandtnis: Ihr Text orientiert sich im Aufbau chronologisch an den Ereignissen eben jenes Jahres, beginnend mit der „Tet“-Offensive des Vietcong im Januar über bekannte, aber auch unbekannte Ereignisse bis hin zu Auseinandersetzungen um Mitbestimmung an der London School of Economics und der Frankfurter Universität im Dezember. Ihr gelingt es kurz und prägnant den internationalen Charakter der „68er“-Bewegung zu verdeutlichen ohne die Unterschiede zwischen den verschieden politischen Strömungen, den spezifischen Situationen in verschiedenen Ländern und der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Ebene zu verwischen. Während einzelne Abschnitte, etwa zu Mexiko, etwas kurz gehalten sind, werden andere Bereiche, etwa die Situation in Frankreich, deutlich umfangreicher und vor allen Dingen auch analytisch gehaltvoller abgehandelt. Dies ist wohl Gilcher-Holteys Schwerpunkten geschuldet, sie hat schon 1995 eine umfangreiche Habilitationsschrift zum Pariser Mai vorgelegt.
Fast schon dreist zu nennen ist hingegen ihre zweite, fast titelgleiche Publikation in der Edition Suhrkamp: „1968. Vom Ereignis zum Mythos“. Hierbei handelt es sich um die identische Wiederveröffentlichung des Sonderheftes 17 der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“, einer zehn Jahre alten Veröffentlichung, die gemeinhin als Meilenstein in Sachen Historisierung von 1968 gilt.
Erst, wenn man zum Ende der mit „Prolog“ überschriebenen Einleitung liest, dass diese in „Bielefeld, im Frühjahr 1998“ abgefasst wurde, wird deutlich, dass es sich hierbei um ein noch nicht einmal überarbeitetes oder mit einem neuen Vorwort – das sich etwa mit der zehnjährigen Rezeptionsgeschichte beschäftigt – versehenes Buch handelt. Der Verlag hält sich mit Hinweisen darauf in der Ankündigung vornehm zurück. Das ließe sich auch so interpretieren, dass schon vor zehn Jahren das Wichtigste geschrieben wurde – angesichts mancher Veröffentlichung im aktuellen Jubiläumsjahr vielleicht die richtige Einstellung.
Das Projekt der Historisierung ist indes 1998 nicht stehen geblieben, auch zehn Jahre danach steht es weiterhin im Mittelpunkt, Museen widmen sich verstärkt dem Thema. So war im Frankfurter Historischen Museum dieses Jahr die Ausstellung „Die 68er. Kurzer Sommer - lange Wirkung" zu sehen, die für sich in Anspruch nahm, die einzig umfassende Ausstellung in der Bundesrepublik gewesen zu sein - neben regionalen Schauen etwa in Hamburg und Berlin. Der Ausstellungskatalog, eine umfangreiche, großformatige und reich bebilderte Publikation ist gemäß der Themen der Ausstellung gegliedert: Unter einem mentalitäts- und alltagsgeschichtlichen Fokus werden Aspekte der „68er"-Bewegung wie Bildung, Sexualität, Geschlechterverhältnisse, Selbstverwaltung, NS-Aufarbeitung, Internationalismus und Gewaltfrage aufgegriffen.
Sympathisch am Katalog ist zunächst, dass nicht ausschließlich auf die ganz großen Namen gesetzt wird, allerdings bleiben viele Artikel doch sehr allgemein, geraten damit auch in Schieflage. Die neue Frauenbewegung beispielsweise wie Dagmar Herzog allzu stark auf Fragen der Sexualität zu reduzieren, verleugnet deren Auseinandersetzung mit Arbeitsverhältnissen und Geschlechterhierarchien in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Andere Themen, wie etwa Selbstverwaltung werden etwas hingebogen - wenn hier Oskar Negt Unterschiede zwischen Mitbestimmung und Selbstverwaltung nivelliert und dabei ausblendet, dass die Neue Linke eben auch eine scharfe Kritik an der traditionellen Linken formulierte und der gewerkschaftlich organisierten Mitbestimmung - institutionell ausgehöhlt und schon lange ihrer Sprengkraft beraubt - eine Absage erteilte. Es ging 1968 nicht nur um ein Stück vom Kuchen, sondern um die ganze Bäckerei.
Als großformatige Publikation lebt der Ausstellungskatalog natürlich nicht allein von seinen Texten, sondern eben auch von der umfangreichen Bebilderung durch Fotografien der Ausstellungsstücke. Hier ist der Hinweis der Kuratoren interessant, dass sie sich des Missverhältnisses zwischen dem Charakter der Archivalien und dem Charakter der Bewegung, der sich durch in erste Linie bedrucktes Papier kaum vermitteln lässt, bewusst sind.
Sie thematisieren zudem einen nicht zu vernachlässigenden Nebenaspekt der Historisierung. Dokumente, bislang ehrenamtlich von Aktivisten in Bewegungsarchiven gesammelt, wandern zunehmend in offizielle Archive und verändern dadurch ihren Charakter: Was bis vor kurzem noch frei zugänglich war, einen haptischen Eindruck vermitteln konnte, wird nun sachgemäß restauriert und aufbewahrt, kann nur noch mit Handschuhen berührt werden. Der Preis der professionellen Archivierung, die nicht zuletzt dem breiten Zugang einer interessierten Öffentlichkeit dient, ist somit die endgültige Historisierung der Dokumente – und letztendlich auch ihres Gegenstandes selbst.
Historisierung - ist das das Stichwort, das übrig bleibt von diesem Jubiläumsjahr? Mit Sicherheit ist es einer der zentralen Aspekte der Debatte, wobei es weiterhin politische Auseinandersetzungen um den Bezugspunkt einer solchen Historisierung gibt: Es ist eben ein Unterschied, ob auf Seiten des Staates von einer Fundamentalliberalisierung gesprochen wird oder ob sich soziale Bewegungen ihrer geschichtlichen Vorgänger bewusst werden wollen. Allzu oft wird 1968 in eben diese Logik der Entwicklung von Staat und Gesellschaft eingebunden, einmal mehr fallen dabei die Bewegungen, die ganz andere Vorstellungen und Perspektiven hatten unter den Tisch - von den einzelnen Akteuren ganz abgesehen.


Ingrid Gilcher-Holtey: 1968. Eine Zeitreise, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 236 Seiten, 10 Euro
Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.): 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 414 Seiten, 14 Euro
Richard Heigl: Oppositionspolitik. Wolfgang Abendroth und die Entstehung der Neuen Linken. Argument Verlag, Hamburg 2008, 372 Seiten, 24,90 Euro
Thomas Hecken: 1968. Von Texten und Theorien aus einer euphorischen Zeit. Transcript Verlag, Bielefeld 2008, 179 Seiten, 18,80 Euro
Andreas Schwab, Beate Schappach, Manuel Gogos (Hrsg.): Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung, Klartext Verlag, Essen 2008, 302 Seiten, 29,90 Euro
Niels Seibert: Vergessene Proteste. Internationalismus und Antirassismus 1964-1983, Unrast Verlag, Münster 2008, 224 Seiten, 13,80 Euro

Gottfried Oy lebt in Frankfurt/Main und ist Mitglied des Gesprächskreises Geschichte der RLS.