News | Peter von Oertzen zum Gedenken

Nachruf des Kuratoriums der Rosa-Luxemburg-Stiftung für den Theoretiker und politischen Vorkämpfer von demokratischem Sozialismus.

Am 16. März 2008 ist im Alter von 83 Jahren in Hannover Peter von Oertzen gestorben. Mit seinem Tod verlieren die demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten in Deutschland einen ihrer bedeutendsten Theoretiker und aktivsten politischen Vorkämpfer. Das Kuratorium der Rosa-Luxemburg-Stiftung gedenkt seiner als einer Persönlichkeit, die für ihre linkssozialistischen Überzeugungen zeitlebens mutig auch dann eingetreten ist, wenn in den Reihen der eigenen Partei – der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der er 59 Jahre (von 1946 bis 2005) angehörte – entgegengesetzte Auffassungen die Oberhand behielten.

Die bestimmenden Begriffe im Werk des marxistischen Wissenschaftlers und politischen Gestalters Peter von Oertzen wurden Demokratie und Sozialismus. Deren Wechselverhältnis sah er so: Eine Demokratie ohne Sozialismus bleibt substanzlos und realpolitisch ebenso gefährdet, wie ein Sozialismus ohne Demokratie als Widerspruch in sich inakzeptabel wäre.

Kennzeichnend für die Haltung von Oertzens in Programm-Fragen waren 1959 das gemeinsam mit Wolfgang Abendroth ausgesprochene CONTRA gegen das Godesberger Programm der SPD, in welchem sozialistische Ziele preisgegeben wurden, und dreißig Jahre später 1989 sein PRO für das auf dem Berliner Parteitag der SPD beschlossene Grundsatzprogramm, an dessen Text er als Koautor mitgearbeitet hatte. Darin heißt es: „Die bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit haben Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mehr beschworen. als verwirklicht. Deshalb hat die Arbeiterbewegung die Ideale dieser Revolutionen eingeklagt: Eine solidarische Gesellschaft mit gleicher Freiheit für alle Menschen. Es ist ihre historische Grunderfahrung, dass Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nötig.“

Diese Grunderfahrung ergab sich für ihn auch aus seinen Studien über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Novemberrevolution 1918/19. Er trat ein für die Anwendung demokratischer Prinzipien im Bereich der Wirtschaft.

Unermüdlich bemühte er sich um eine politische Bildung, die den Menschen hilft, ihre Situation in der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen und sozialistische Folgerungen daraus für ihr Denken und Handeln zu ziehen. So wirkten die von ihm während der sechziger Jahre herausgegebenen Arbeitshefte für linke Sozialdemokraten und Gewerkschafter. In diesem Sinne arbeitete er auch als Leiter der Programm-Kommission der SPD von 1973 bis 1975, die einen Orientierungsrahmen bis 1985 abstecken sollte. Ferner baute er die Parteischule der SPD neu auf, deren Leitung er übernahm. Im Landesverband der niedersächsischen Sozialdemokraten war er bis 1983 Vorsitzender.

In der Wahrnehmung ihm übertragener staatlicher Ämter – so seit 1963 als Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover (früher TH) und als niedersächsischer Kultusminister von 1970 bis 1975 – war er ebenfalls in initiativreicher Weise tätig. Das gilt besonders für das erfolgreiche Ingangbringen der damaligen Hochschul- und Bildungsreform in Niedersachsen. Dass er während seiner Ministerjahre die Berufsverbotsanordnungen der Regierung Willy Brandt gegen Kommunisten zunächst unterstützte, hielt Peter von Oertzen später für seinen „größten politischen Fehler“. Er setzte sich dann mit Vehemenz für die Rehabilitierung der von der politischen Unterdrückungsmaßnahme betroffenen Menschen kommunistischer, sozialistischer und anderer radikaldemokratischer Provenienz ein.

Nach der Vereinigung der deutschen Staaten 1990 verfasste er gemeinsam mit Michael Vester, Heiko Geiling, Thomas Hermann und Dagmar Müller das 1993 in Erstauflage und 2001 in erweiterter Nachauflage erschienene Werk „Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung“ – eine umfassende und gründliche Klassenanalyse der heutigen Bundesrepublik. Der darin enthaltene Erkenntnisschatz bedarf größerer Beachtung in den aktuellen sozialen und politischen Kämpfen der Linken. Lebhafte Diskussion verdienen die reichhaltigen Anregungen zur Unterstützung der sich differenzierenden Milieus von Facharbeitern, prekär Beschäftigten und Arbeitslosen, Frauen und Männern, Jungen und Alten in ihren Auseinandersetzungen mit sozialer Diskriminierung, „Abwertungskarrieren“, Deklassierung durch dauerhafte Armut und Arbeitslosigkeit und weiteren „neuen sozialen Ungleichheiten“, die das untergraben, was einst als sozialer Gerechtigkeitsvertrag aufgefasst worden war.

Als von Oertzen 2005 aus Protest gegen das von Schröder, Clement und Müntefering verfochtene Konzept einer verschärften asozialen Politik – genannt „Agenda 2010“ - aus der SPD austrat, verwies er darauf, dass der Kapitalismus menschheitsgefährdend ist, und fügte hinzu, er sei und bleibe Sozialist und sei daher „in der SPD nicht mehr am rechten linken Platz“. Er arbeitete zeitweilig als Mitglied der WASG mit. Zuvor hatte er – ebenfalls zeitweilig – unserem Kuratorium der Rosa-Luxemburg-Stiftung angehört. Mit diesem Schritt, den er damals noch als SPD-Mitglied tat, setzte er ein Zeichen der Bereitschaft, ungeachtet von Meinungsunterschieden und politischen Differenzen gemeinsam über Analysen und Lösungsvorschläge zu diskutieren. Es müsse, fand er, keine Grenzen geben, wo sie im Interesse der Gemeinsamkeiten überwunden werden können und sollten.

Für das Kuratorium der Rosa-Luxemburg-Stiftung:

Christa Luft, Hermann Klenner, Klaus Höpcke