News | International / Transnational - Europa Verfangen in der »multikulturellen Demokratie«

Das Zusammenleben der verschiedenen ethnischen Bevölkerungsteile Estlands soll nach Maßgabe der Verantwortlichen in der Regierung Estlands nach dem Modell einer »multikulturellen Demokratie« funktionieren.

Mittlerweile sind nach der Erklärung der Unabhängigkeit bereits etliche Jahre Demokratie am südlichen Ufer des Finnischen Meerbusens ins Buch der Zeitgeschichte gewandert, doch ein wirklicher Durchbruch auf dem Weg zu einem gleichberechtigten und achtungsvollen Miteinander der verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen ist wohl noch nicht in Sicht. Auch der Beitritt des Landes zur Europäischen Union vor vier Jahren hat in dieser Hinsicht nur mäßige Fortschritte gebracht. Der hohe Standard, den die Europäische Union in Fragen Gleichberechtigung ethnischer oder nationaler Minderheiten weithin an den Tag legt, ist in Estland längst noch nicht gelebte Wirklichkeit. Umso auffälliger ist also der Kontrast zwischen den beiden Ufern des Finnischen Meerbusens. Während Finnland in Hinsicht Schutz und Gleichberechtigung der nationalen Minderheiten als vorbildlich gilt, muss sich Estland in dieser Frage noch immer sehr kritische und fragende Blicke gefallen lassen. In den Chor der Fragenden stimmten Anfang April 2008 auch die Mihkel-Martna-Stiftung und die Rosa Luxemburg Stiftung ein, die unter dem Titel „Multikulturelle Gesellschaften in der Europäischen Union“ zu einem Seminar mit internationaler Beteiligung nach Tallinn luden.

„Multikulturelle Demokratie“, so Raivo Vettik von der Tallinner Universität in seinen Ausführungen, betone auf ausdrückliche Weise Gruppenrechte, die im klassischen liberal-demokratischen Verständnis so nicht berücksichtigt seien. Auf den wichtigen Aspekt, wonach Demokratie im liberalen Verständnis immer zugleich Begrenzung der Mehrheitspositionen bedeute, ging er nicht ein. Vettik, der einer der Verfasser der Nationalitätenpolitik Estlands ist, verwies dann auf das besondere Gebot des Schutzes des Estentums, also der estnischen Kultur und Sprache. Dieser Schutz könne in ausreichendem Maße nur in Estland selbst erfolgen, weshalb das Land eine besondere Verantwortung wahrnehmen müsse. Aus diesem Gebot entspringe etwa der besondere Schutz der estnischen Sprache, wie er in Form eines Sprachengesetzes seinen Ausdruck finde. Da, wie es die Geschichte zeige, nur die Titulargruppe ausreichende Verantwortung für estnische Kultur wahrnehmen könne, sei ihre spezifische Rolle begründbar. Der Staat komme seiner Verpflichtung, über die Einhaltung des „kulturellen Pluralismus“ zu wachen, nach, indem er dafür sorge, dass sich alle anderen ethnischen Gruppen gleichberechtigt am Aufbau und der Gestaltung der allen gemeinsamen Aufgaben einbringen können. Diese Aufgaben beträfen etwa wichtige demokratische und gesellschaftliche Institutionen, den Bildungsbereich, die Ausbildung der gegenseitigen Toleranz und Achtung.

Rafik Grigorjan, Vorsitzender der Kammer für die ethnischen Minderheiten in Estland und selbst Armenier, brachte aus Sicht der ethnischen Minderheiten eine kritische Bestandsaufnahme der Nationalitätenpolitik Estlands zur Sprache. In einer ersten Phase, die von 1991 bis 1995 dauerte, sei es um die Wiederherstellung der nationalen politischen und gesellschaftlichen Institutionen gegangen, ein Prozess folglich, der die Kontinuität zur unabhängigen Republik Estland in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen betonte. Die Hoffnung einiger einflussreicher Politiker Estlands, dass die nichtestnische Bevölkerung freiwillig ausreisen werde, sei nicht in Erfüllung gegangen, denn über 90% aller nichtestnischen Einwohner Estlands seien - gemessen am Stand vor der Unabhängigkeitserklärung von 1991 - geblieben. Die Versuche, diese Bevölkerungsteile im Zusammenhang mit dem als Okkupation gewerteten Zeitabschnitt von 1940 bis 1991 moralisch und rechtlich ins Abseits zu stellen, riefen die Kritik von UN-, EU- und KSZE-Einrichtungen hervor.

In der zweiten Phase 1996-1999 sei unter dem Druck der Europäischen Union mit der Übernahme allgemein anerkannter Standards begonnen worden, in deren Genuss allerdings nur die Bürger mit Staatsbürgerschaft gekommen seien. Entscheidende Kriterien, um in den Besitz der estnischen Staatsbürgerschaft zu gelangen, seien das richtige Geburtsdatum oder staatlich geprüfte Kenntnisse der estnischen Sprache gewesen. Zugleich habe in dieser Phase die verstärkte Ausgrenzung nichtestnischer Menschen aus dem Bereich des öffentlichen Dienstes eingesetzt. In der dritten Phase, die von 2000 bis zu den Ereignissen um das Tallinner Denkmal des Sowjetsoldaten im April/Mai 2007 reichte, sei verstärkt der Begriff der Integration gebraucht worden, was sich formal vor allem darauf bezog, gemeinsam und gleichberechtigt an der Gestaltung und Entwicklung der estnischen Gesellschaft mitzuarbeiten. Zu Beginn dieser Phase seien 80% der Nichtesten zur Integration bereit gewesen. Dennoch seien die Ergebnisse begrenzt und eher enttäuschend. Im öffentlichen Dienst habe es keine spürbare Umkehr der in den Vorjahren sich abzeichnenden Tendenzen gegeben. Auch der Beitritt zur Europäischen Union habe keinen Durchbruch gebracht. Die Eskalationen im Zusammenhang mit der Abtragung des Soldatendenkmals vor Jahresfrist hätten das Scheitern des bisherigen Integrationswegs angezeigt, insbesondere weil die Enttäuschung vor allem bei den jüngeren Menschen manifest ist. Die Hilflosigkeit der staatlichen estnischen Behörden habe sich darin geäußert, dass in erster Linie Schuldige im Ausland gesucht wurden, was sehr an die in sowjetischen Zeiten verbreitete Logik erinnere. Vom Scheitern eines Konzepts sprach übrigens auch Raivo Vettik, der meinte, dass Estland einen hohen Preis für die Auseinandersetzungen um das Denkmal des Rotarmisten werde zahlen müssen.

Vor diesem Hintergrund waren die Ausführungen von Eva-Maria Asari aus dem Ministerium für Nationalitätenpolitik von besonderem Interesse, wagte sie doch einen Ausblick bis auf das Jahr 2013 hinaus. Langfristige Hauptziele der Nationalitätenpolitik der estnischen Regierung seien demzufolge die Verdichtung der Kontakte zwischen den Menschen unterschiedlicher Nationalität, die spürbare Erhöhung des Anteils russischsprachiger Menschen im öffentlichen Dienst, die Stärkung des Vertrauens zwischen den Bürgern unterschiedlicher Nationalität und der schrittweise Abbau sozialer Unterschiede, die sich bisher insbesondere auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar machten. Ein wichtiges Mittel zur Erreichung dieses letzten Zieles seien die Fortschritte beim Erlernen und Beherrschen der estnischen Sprache, wofür in den kommenden Jahren vermehrt finanzielle und logistische Mittel eingesetzt werden sollen. Estland, so ihre Botschaft, sei ein Staat aller Bürger des Landes, die gemeinsam Sorge tragen müssten, dass es diesem Staat gut gehe. Alle Bürger Estlands hätten das Recht, ihre kulturelle und nationale Identität zu wahren.

Alina Petropawlowska aus Lettland und Tatjana Michnjowa aus Litauen spiegelten die estnischen Erfahrungen vor den Erfahrungen ihrer beiden Länder, die bei ähnlichen Ausgangsbedingungen zum Teil unterschiedliche Wege eingeschlagen sind. Im Bericht der Aktivistin der Jugendorganisation „Für die Menschenrechte im einheitlichen Lettland“ wurden Parallelen zur Situation in Estland deutlich. So sei die russische Sprache im öffentlichen Raum diskriminiert, was zur Folge habe, dass viele Menschen nicht die Möglichkeit besäßen, bei Rechtsgeschäften ihren Namen in der Muttersprache zu schreiben. Sie fasse die Vorschrift, den Namen in der lateinischen Schriftvariante schreiben zu müssen, als Diskriminierung auf. Seit der Schulreform von 2004 werde auch im Bildungswesen die russische Sprache eher zurückgedrängt als gefördert. Hoffnungsvolle Ansätze seien hingegen vor allem dort zu bemerken, wo die öffentliche Hand weniger bedeutend ist.

Die Vorsitzende des litauischen „Koordinierungsrats russischer gesellschaftlicher Organisationen“ verwies indes auf andere Erfahrungen, denn in Litauen sei die Situation für die russischsprachigen Menschen wohl bereits deutlich besser als in Lettland oder Estland. Die Kenntnis der litauischen Sprache sei für das Wirken im öffentlichen Raum nicht ganz so ausschlaggebend wie die Sprachkenntnisse des Estnischen oder Lettischen in den beiden anderen Ostseerepubliken. Wichtiger seien Kenntnisse politischer Techniken, deren Anwendung durch die Menschen auch sehr gut innerhalb der Strukturen der nationalen Minderheiten gelernt werden könnte. Demzufolge sei die Präsenz russischsprachiger Menschen im Bereich der öffentlichen Hand gemessen am Anteil an der Gesamtbevölkerung auch sehr viel höher als in Lettland und Estland. Da es mit der polnischen Minderheit in Litauen eine dritte große Bevölkerungsgruppe gebe und Polen und Litauen gemeinsam EU-Mitglieder geworden seien, zugleich in Polen eine litauische Minderheit anerkannt sei, wäre die Situation für nationale und ethnische Minderheiten in Litauen von vornherein günstiger gewesen. Dies äußere sich auch im Staatsbürgerschaftsgesetz Litauens, welches auf einem sehr pragmatischen und praktikablen Ansatz beruhe.

Erfahrungen anderer EU-Länder stellten Martin Franc (Prag), Heiko Kosel (Bautzen) und Ivo Georgiev (Berlin) vor. Martin Franc, Vorstandsmitglied der tschechischen „Gesellschaft für den Europäischen Dialog“, skizzierte die Situation der nationalen und ethnischen Minderheiten in Tschechien und konzentrierte sich insbesondere auf die Lage der Roma. Heiko Kosel, Mitglied des Sächsischen Landtags für die Partei „Die Linke“, bekennender und engagierter Vertreter der sorbischen Minderheit in Deutschland, stellte anhand gut nachvollziehbarer Beispiele heraus, wie wichtig es sein könne, im Ringen um die Rechte von Minderheiten auf die Sympathien unter den Bürgern der Mehrheitsgesellschaft zu achten. Der Streik für den Erhalt sorbischer Schulen in Sachsen habe seinerzeit sehr viel Unterstützung und Sympathie bei den Deutschen gefunden. Ivo Georgiev, Rosa Luxemburg Stiftung Berlin, beschrieb die Lösung des lange Zeit schwelenden und teils handgreiflichen Konfliktes zwischen Bulgaren und türkischer Minderheit in Bulgarien als einen Erfolg durch Institutionalisierung. Bereits lange vor dem EU-Beitritt des Landes sei dieses Konfliktfeld, welches in den 1980er Jahren durch eine Bulgarisierungspolitik eskalierte, im Interesse des Landes in stabile und konstruktive Bahnen gelenkt worden. Alle drei stellten insbesondere den Wert friedlicher, einvernehmlicher Lösungswege heraus.

An der Veranstaltung in Tallinn nahmen überwiegend russischsprachige Menschen teil, was ein kleiner Hinweis darauf ist, dass die kritische Sicht auf die gegenwärtige Situation im Bereich der Nationalitätenpolitik Estlands zunächst von den unmittelbar Betroffenen artikuliert wird. Ausdruck dessen war auch die Tatsache, dass über die Tagung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Estlands informiert wurde, allerdings nur in der russischsprachigen Hauptnachrichtensendung. Auf Estnisch erfuhr das Fernsehpublikum darüber nichts.

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