News | Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte - International / Transnational - Krieg / Frieden - Westasien - Türkei Nicht einmal vor den Toten haben sie Respekt

Türkische Nationalisten greifen die Beerdigung der Mutter der stellvertretenden HDP-Vorsitzenden Aysel Tuğluk an.

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Bastattung Hatun Tuğluk
Die Familie hat sich nach den Angriffen bei der Beerdigung von Hatun Tuğluk in Ankara entschieden, den Leichnam nach Dersim zu bringen und dort zu bestatten. Quelle: https://youtu.be/aL98rAGZQrk

«Wir lassen nicht zu, dass ihr hier eine Terroristin begrabt. Das ist kein Armenier-Friedhof». Mit diesen Worten stürmte am Abend des 13. September eine Gruppe türkischer Nationalisten die Beerdigung von Hatun Tuğluk auf dem İncek-Friedhof in Ankara.

Hatun war im Alter von 78 Jahren gestorben, ohne ihre Tochter Aysel Tuğluk noch einmal in Freiheit zu sehen. Diese sitzt seit dem 28. Dezember 2016 als kurdische Spitzenpolitikerin, Anwältin und stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Gefängnis. In einem der gegen sie laufenden Prozesse fordert die Staatsanwaltschaft allein schon 22,5 Jahre Haft. In den Augen des Staates soll sie führender Kopf einer «terroristischen Organisation» sein.

Lebend konnte sie ihre Mutter nicht wiedersehen, erst zu ihrer Beerdigung in Ankara erhielt Tuğluk eine Genehmigung, das Gefängnis in Begleitung von Militärpolizisten zu verlassen. Auf Fotos ist ihr der Schmerz über den Verlust in das Gesicht geschrieben, nur gestützt von Parteigenossinnen kann sie sich fortbewegen. Nachdem der Sarg gemäß dem Brauch erst im Cemevi, dem alevitischen Versammlungs- und Gotteshaus, aufgebahrt worden war, wird er gegen Abend beigesetzt. Die Erde ist noch frisch, die Kränze gerade erst aufgestellt, als ein Mob von türkischen Faschisten auf das Gelände stürmt und die Trauergäste angreift. Sie rufen, dass auf dem Friedhof «Märtyrer» der Armee begraben seien und es nicht sein könne, dass hier auch eine «Terroristin» liege. In das wütende Geheul mischen sich Sprüche wie «Gott ist groß» und «Das Vaterland ist unteilbar». Es handelte sich offenbar um einen geplanten Angriff. So berichtete der HDP-Abgeordnete Osman Baydemir von einem Traktor, der mitgebracht worden war, um den Leichnam wieder auszugraben. Die Familie Tuğluk entscheidet sich daraufhin, den Sarg selbst zu bergen und in das 800 Kilometer entfernte Dersim zu bringen.

Dass am Tag darauf der Gouverneur von Ankara lediglich von Pöbeleien gegen das Begräbnis spricht, macht die Haltung des Staates deutlich: Nicht einmal nach dem Tod wird den Menschen ihre oppositionelle Haltung vergeben.

«Wer Feindschaft sät, wird Barbarei ernten»

Ein Sprung zurück. Knapp zwei Jahre zuvor, diesmal im kurdischen Teil des Landes. In der Kleinstadt Silopi liegt ein Leichnam im Dezember-Schnee mitten auf der Straße. Es ist der Körper von Taybet Inan, heute bekannt als Mutter (Ana) Taybet. Sie hatte elf Kinder. Während der militärischen Belagerung und den Ausgangssperren in kurdischen Städten, wird sie vor ihrem Haus von einem Scharfschützen der türkischen Armee angeschossen. Jeden, der versucht die schwerverletzte Frau von der Straße zu ziehen und in ein Krankenhaus zu bringen, nimmt er ins Visier. Bis sie verblutet. Doch nicht nur sie. Ein Bruder von ihr wird angeschossen, als er sie zu retten versuchte. Er verblutet ebenfalls, weil mehr als 20 Stunden kein Krankenwagen vorgelassen wird. Taybets Leichnam liegt sieben Tage mitten auf der Straße und fängt schon an zu verwesen, als er endlich in einen Sarg gelegt werden kann. Tagelang bleibt dieser konfisziert, bevor er zur Beisetzung freigegeben wird. .

Dass nicht einmal Tote in Ruhe gelassen werden, zeigt auch der Umgang mit Friedhöfen, auf denen KurdeInnen beigesetzt sind, die als PKK-KämpferInnen ums Leben kamen. Besonders in den letzten beiden Jahren haben türkische Armee und Verwaltung die letzten Ruhestätten ins Visier genommen. Mit Baggern und Panzern werden Mauern eingerissen und Blumen überfahren, die Grabsteine mit Vorschlaghämmern zertrümmert. Die Friedhöfe, die sich außerhalb türkischer Grenzen befinden, also zum Beispiel im Kandil-Gebirge Südkurdistans, werden gezielt aus der Luft bombardiert.

Die HDP äußerte sich zum Angriff auf Hatun Tuğluks Beerdigung und spricht gleichzeitig auch die oben genannten Ereignisse an: «Eine Herrschaft, die in jede Zelle der Gesellschaft die Saat der Feindschaft aussät, die mit jeder Äußerung die Polarisierung der Gesellschaft vertieft und alles dafür tut, die Völker gegeneinander aufzubringen, ist die einzige politisch Verantwortliche für diese Ereignisse. Wer Feindschaft sät, wird Barbarei ernten.»

«Das ist kein Armenier-Friedhof»?

Eine tiefe Menschenverachtung kommt auch in einer weiteren Parole der Angreifer auf die Beisetzung Tuğluks zum Ausdruck: «Das ist kein Armenier-Friedhof». Dass in einem Land, das einen Völkermord zu verantworten hat, der Begriff «Armenier» nach wie vor als Schimpfwort gilt, spricht für sich. Und es deutet auf ein größeres, in der türkischen Gesellschaft tief verankertes Problem hin. In einem Staat, der Friedhöfe bombardieren, Leichname im Freien verrotten und Beerdigungen angreifen lässt, ist bereits die Schulbildung in diese Richtung gepolt. So gibt es Berichte von Ausstellungen in Grundschulen, auf denen Bilder aus Anatolien in den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts gezeigt werden. Darauf zu sehen sind tote schwangere Frauen mit aufgeschlitzten Bäuchen. Die vermeintlich Schuldigen: Die ArmenierInnen. Menschen, die auf einer solchen Grundlage erzogen wurden, haben keinen Respekt vor Toten und ihren Beerdigungen. Dieses Problem wird nicht aus der Welt sein, wenn die AKP und Erdoğan einmal nicht mehr da sein sollten. Es ist tief verankert. Doch wie geht man mit mit solchen nationalistisch und rassistisch verblendeten, gewaltbereiten Menschen um, wie kann man sie in eine demokratische Gesellschaft  integrieren? Eine Frage, die über die Zeit nach der AKP hinaus dringend diskutiert werden muss, wenn man eine Grundlage für einen gewissen gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein zukünftiges Zusammenleben der Völker in der Region sichern will.

Zum Schluss zurück zu Hatun Tuğluk. Sie besuchte die Prozesse gegen ihre Tochter in den letzten Wochen vor ihrem Tod im Rollstuhl. Bei einem der letzten Verhandlungstage Anfang Juli traf sie dabei auf die junge Regisseurin Lisa Çalan. Ihr wurden bei einem Bombenanschlag auf eine HDP-Kundgebung im Juni 2015 beide Beine abgerissen. Auch sie sitzt nun, mit Anfang 30 im Rollstuhl. Die alte Frau sah sie an und sagte nur «Ach, wir müssen viel Leid aushalten».

Hatun wurde am Tag nach dem Angriff auf ihre Beisetzung in ihrer Heimatregion Dersim begraben. Ihrer Tochter durfte diesmal nicht dabei sein.