News | Asien - International / Transnational Was bedeutet «sozialistische Marktwirtschaft»?

Eine von vielen Fragen, mit denen sich das im April 2009 eröffnete Vietnam-Büro der RLS auseinandersetzen muss. Büroleiterin Dorit Lehrack berichtet.

Die Vorstellung trügt, es sei für eine linke Stiftung einfach, sich in einem links ausgerichteten Staat wie Vietnam, also gleichsam als Freund unter FreundInnen, inhaltlich zu positionieren. Der Transformationsprozess, den die Menschen dieses Landes durchlaufen, ist beispiellos. Zwar schaut Vietnam verstohlen auf China, aber auch das große Nachbarland hat Probleme, seine Grundwerte für die Gestaltung einer harmonischen Gesellschaft zu definieren. Die harmonische Gesellschaft ist auch das Leitbild in Vietnam. Sie baut auf Solidarität und Verantwortung für das Gemeinwohl. Die junge Bevölkerung jedoch will zuallererst einmal konsumieren und das Leben genießen. Junge Leute in Vietnam zeigen wenig Interesse an historischen Lernerfahrungen, die für eine Transformation des Landes in eine gerechte, faire und nachhaltige Gesellschaft wichtig sein könnten, sondern setzen sich lieber aufs eigene Moped und arbeiten von morgens bis abends für das Eigenheim - die erklärte Vision der jungen Vietnamesen. Selbst der Vietnamkrieg, für die Generation meines Alters so prägend, ist für die Mehrzahl der Menschen kein Thema (mehr). 

Noch recht überschaubar ist die Zahl der engagierten BürgerInnen, die sich in Vereinen organisieren, um Benachteiligten zu helfen, die Umwelt zu schützen oder Mitbestimmung des Einzelnen zu stärken. Diejenigen Organisationen, die ihr Handwerk schon gut können und somit Demokratie von unten stärken, sind gern gesehene PartnerInnen unserer Stiftung. Wir suchen den Kontakt zu engagierten NGOs die beispielsweise mit Gemeinden Diskussionsprozesse zur Erarbeitung von Gemeindeentwicklungsplänen so führen können, dass sich möglichst viele daran beteiligen und so möglichst viele dabei gewinnen. Andere NGOs, mit denen wir zusammenarbeiten, engagieren sich in der Umweltbildung, um dem Einzelnen Möglichkeiten und Chancen von individuellem Engagement für eine intaktere Umwelt aufzuzeigen. Da ein funktionierender Rechtsrahmen für die Arbeit dieser Organisationen noch rudimentär ist, bieten wir auch Möglichkeiten, das recht gute und vor allem sehr schlanke deutsche Vereinsrecht zu studieren und auf die Bedürfnisse Vietnams anzupassen.

Stärkung der Basisdemokratie ist durchaus im Sinne der vietnamesischen Partei und Regierung. Je mehr Menschen sich für das Wohl des Landes und das Gemeinwohl seiner Bürger engagieren, desto besser wird die Umgestaltung gelingen und desto weniger Menschen werden dabei auf der Strecke bleiben. So jedenfalls die Hoffnung der Entscheidungsträger im Lande.

Die Grundsatzdebatte «Was ist links?», und «Wie viel Sozialismus braucht die Marktwirtschaft?» spielt in der Kooperation mit den Partnern der Zivilgesellschaft eher eine nachrangige Rolle. Weil aber gerade diese Fragen auch essentiell für die deutsche Linke sind, suchen wir Partnerschaft mit den Kräften, die politikberatend oder politikentscheidend zur Transformation beitragen. Das sind vor allem staatliche und akademische Institutionen. Wir irren, wenn wir meinen, diese Fragen erschöpfend beantworten zu können. Es erstaunt selbst gestandene und politisch sattelfeste sich «links» definierende ReferentInnen aus Deutschland, welche Fragen von aufmerksamen ZuhörerInnen und analysierenden WissenschaftlerInnen zur Position der Linken in unserem Lande gestellt werden und wie schwer deren Beantwortung ist.

Auf einem kürzlich in Hanoi durchgeführten Workshop zu den Positionen der deutschen und europäischen Linken und den Schwierigkeiten, diese Positionen in Einklang zu bringen, interessierten sich die vietnamesischen Zuhörer brennend für das Ziel linker Politik. Soll die kapitalistische Gesellschaft einfach korrigiert und so ein bisschen sozialer gemacht werden oder streben die Linken die Überwindung des Kapitalismus an? Und käme danach wirklich ein Sozialismus? Wie sähe der dann aus? Auf welchem Wertefundament würde man eine neue Gesellschaft errichten wollen, wo der Marxismus und insbesondere der Leninismus nun historisch ausgedient hätten? In Vietnam gäbe es zumindest eine Wertediskussion.  Nicht nur Ho Chi Minh sondern auch das konfuzianische System der Hierarchien und Harmonien bilden eine kulturell akzeptierte Basis des Miteinanderlebens, auch wenn die Wirklichkeit sich eher um die kleinen Egoismen als um die gesellschaftliche Solidarität dreht. 

Und wir fragen im Gegenzug, was denn eigentlich «sozialistische Marktwirtschaft» ist. Eine Frage, die die GesprächspartnerInnen von ganz unterschiedlichen Positionen her beantworten: Es ginge um Netzwerkbildung von Benachteiligten. Wichtig wäre der Verbleib von Schlüsselindustrien in Staatshand. Junge Menschen sollten, bei allem Verständnis für die Moderne, den vietnamesischen Wertekodex respektieren. Der ideologische Unterbau des Marxismus-Leninismus ist nicht mehr tauglich, den Transformationsprozessen in beiden Ländern eine Richtung zu geben, darin ist man sich einig. Neue Konzepte können gemeinschaftlich entwickelt werden, auch und vielleicht gerade, weil die Kulturen so fremd, die Probleme aber so ähnlich sind.

Allerdings setzt jegliches Theoretisieren über neue sozialistische Ansätze ein tiefes Verständnis der tatsächlichen Vorgänge im Lande voraus. Wer gewinnt im Prozess der Transformation? Wer gerät in die Gefahr zu verlieren?  Wie muss Politik rechtzeitig gegensteuern, damit die Verlierer nicht gegen die Transformation an sich aufbegehren und somit auch die Stabilität des Landes gefährdet würde? So unterstützt die RLS auch die Sozial- und Gesellschaftsforschung in Vietnam. Dies allerdings in der Erwartung, dass Forschungsergebnisse nicht im Schreibtisch sondern auf den Tischen der ParlamentarierInnen landen und in Politikgestaltung übersetzt werden, die an den Bedürfnissen der sich verändernden Gesellschaft ansetzt und zu einer nachhaltigeren und emanzipatorischeren Gesellschaft beiträgt. Mit den Universitäten für Sozial- und Geisteswissenschaften in den drei Metropolen Hanoi, Ho Chi Minh Stadt und Hue verbindet uns eine langjährige Partnerschaft.

Vielleicht macht uns die Tatsache, dass auch wir Linken in Deutschland noch Suchende auf dem Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft sind, gerade deshalb zu einem geschätzten Partner in Vietnam.