News | Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte - International / Transnational - Asien - Westasien - Türkei Auf den Ruinen alter Konflikte

Interview zu den historischen Perspektiven auf den Ausnahmezustand in der Türkei mit Mahmut Şakar, Co-Vorsitzender von MAF-DAD e.V. und Nazan Üstündağ, Wissenschaftlerin.

Information

Özlem Kaya spricht mit Mahmut Şakar und Nazan Üstündağ

Türkçesi aşağıdadır.

Welchen Einfluss hat das Regime des Ausnahmezustands auf die Politik in der Türkei hinsichtlich der Kurdenfrage?

Mahmut Şakar: Grundlegend für die Festlegung der Strategien der neu gegründeten Republik bezüglich der Kurden war der so genannte «Reformplan für den Osten» («Şark Islahat Planı») von 1925. Dieser aus 28 Artikeln bestehende Plan umfasst unter anderem folgende Richtlinien: Das allgemeine Verbot der (kurdischen, Anm. d. Red.) Muttersprache, auch zu Hause und auf dem Markt, Assimilation, erzwungene Migration, Beamtenverbot für Kurd*innen, Erhöhung der Zahl der Internate für Mädchen usw. In dem ersten Artikel dieses Schriftstücks heißt es: «Das Kriegsrecht hat bis zur Durchsetzung aller Artikel in diesem Plan Bestand.» Für das Verständnis der kurdischen Frage ist dies ein ganz zentraler Punkt. Ohne Kriegsrecht und Ausnahmezustand sind die Auslöschung einer Identität, Assimilation, Vertreibung aus der Heimat und die Fortsetzung all dieses bis zum heutigen Tag schlicht nicht denkbar. Deshalb ist die Kurdenpolitik der Regierung in einem außerordentlichen Verwaltungsregime verankert, in dessen Zentrum militärische Methoden stehen. Das Regieren per Ausnahmezustand spielt also für die Kurdenfrage die Rolle eines konstitutiven Prinzips. Es ist ein der Kurdenfrage innewohnendes, strukturelles Phänomen.
Das beste Beispiel für diese strukturelle Herangehensweise sind die Ausgangssperren, die 2015-2016 in 11 Provinzen und mindestens 49 Verwaltungsbezirken Kurdistans für mindestens 299 Tage unbefristet und den ganzen Tag über angeordnet wurden. In diesem Zeitraum wurden zivile Wohngegenden mit schwerem Geschütz beschossen, Bürger*innen am Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser und Gesundheitseinrichtungen gehindert, Menschen vor aller Augen in Kellern verbrannt und Leichname auf der Straße oder in Tiefkühltruhen warten gelassen. Welche rechtliche Grundlage hat eine solche Vorgehensweise, die aus unserer Sicht als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit zu definieren ist? Auf welches Gesetz hat sich die Regierung hier gestützt? Auf Artikel 11 C des sogenannten Kommunalverwaltungsgesetzes, dort heißt es: «Für Ruhe und Sicherheit innerhalb des Verwaltungsbezirks zu sorgen, gehört zu den Aufgaben und Pflichten des Governeurs. Um diese herzustellen, ergreift der Governeur die notwendigen Maßnahmen.» Das war’s. Sie brauchten also weder das Kriegsrecht noch den Ausnahmezustand ausrufen. Denn ob offiziell ausgerufen oder nicht, der Ausnahmezustand ist die grundlegende Regierungsform des Staates in Bezug auf die Kurdenfrage.

Mit dem Scheitern des Friedensprozesses stellen die im Sommer 2015 in den kurdischen Provinzen ausgerufenen Ausgangssperren eine Art Ausnahmezustand ohne Ausrufung des Ausnahmezustands dar. Wie bewertest du die Auswirkungen dieses Zeitabschnitts auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der Türkei?

Nazan Üstündağ: Die im Jahr 2015 in den kurdischen Provinzen angeordneten, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, über Monate hinweg fortlaufenden Ausgangssperren und Blockaden gingen über den Ausnahmezustand hinaus. Der türkische Staat hat hier nämlich in Abwesenheit von den im Falle eines Ausnahmezustands geltenden Notverordnungen und deren rechtlichen Rahmens direkt einer auf seinem Boden lebenden urbanen Bevölkerungsgruppe den totalen Krieg erklärt, was letztendlich einer umfassenden Besetzung und einem großen Massaker entsprach. Es ist durchaus bekannt, dass es dort zu jenem Zeitpunkt Gefechte, örtlich bewaffnete kurdische Jugendliche sowie mitunter auch, kleine Guerillagruppen gab. Jedoch haben der Staat und sein Militär in dieser Zeit nicht einmal das Kriegsrecht angewandt, wie auch das Permanente Völkertribunal jüngst in seinem Strafurteil bekannt gab. Dutzende von Zivilist*innen sind von den Scharfschützen der Sondereinsatzkommandos getötet worden, ihre Leichname hat man liegen gelassen und entblößt. Ebenso wurden Zivilist*innen gefoltert, misshandelt und schließlich bei lebendigem Leibe verbrannt.
Folglich lassen sich sowohl ein tiefer Riss in der Beziehung zwischen den Kurd*innen und dem Staat als auch ein vollständiges Zutagetreten der kolonialen Politik der Türkei gegenüber Kurdistan registrieren. Außerdem werden der türkischen Bevölkerung die Ereignisse in den kurdischen Provinzen im Unterschied zu früher besonders über die sozialen Medien vorgeführt und ihr ein Genuss am Leid des kurdischen Volkes eingeimpft. Auf der einen Seite wurde ein Klima von großer Angst und Hoffnungslosigkeit geschaffen, andererseits wurde offen verkündet, wie weit der Status beider Bevölkerungsgruppen für den Staat auseinanderklafft. Allerdings lässt sich sagen, dass manche Zusammenschlüsse, die sich zur Zeit des Friedensprozesses und der Friedensbemühungen zwischen kurdischen und türkischen Gemeinschaften herausgebildet hatten, in dieser Periode Widerstand geleistet haben. Gesundheitspersonal, Journalist*innen, Akademiker*innen, Frauen, sagen wir alle, die sich dem Schicksal der kurdischen Gemeinschaft verpflichtet fühlen, haben dafür, wenn auch in geringerem Umfang, büßen müssen.

Inwieweit spielen internationale gesetzliche und institutionelle Mechanismen eine Rolle dabei, die Türkei zu einer demokratischen Lösung der Kurdenfrage zu drängen?

Mahmut Şakar: Aus politischer Perspektive haben die gegenüber Kurdistan angewandten kolonialen Praktiken innerhalb der internationalen Machtverhältnisse Fortbestehen. Schon der Prozess, der damals zur Vierteilung Kurdistans führte, war ein Ergebnis der internationalen Politik jener Zeit. Als Mitglied insbesondere der NATO wie aber auch zahlreicher anderer internationaler Institutionen hat die Türkei ihre auf Verleugnung und Gewalt basierende Kurdenpolitik mit politischer, militärischer und wirtschaftlicher Unterstützung ebendieser Insitutionen und westlicher Regierungen durchgeführt. Internationale politische Mechanismen und die dominanten globalen Mächte stehen an oberster Stelle der Gründe für die Verleugnung und ungerechte Behandlung der Kurd*innen. Dass es von Zeit zu Zeit schwachen Einwand gegen die von den Kurd*innen erlebte Unterdrückung gibt, ändert nichts an diesem grundlegenden Fakt. Daher bleibt eine Türkei-Kritik, solange sie ohne eine Kritik am hegemonialen Westen betrieben wird, bedeutungslos.
Aus juristischer Perspektive hat wiederum der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der in den 90ern in gewisser Hinsicht noch eine positive Rolle gespielt hatte, seine Haltung gegenüber den repressiven Tendenzen der AKP-Regierung von Grund auf geändert. Da der Gerichtshof während der 2015-2016 verfügten Ausgangssperren auf nationales Recht verwies und keine gerichtliche Verfügung für die Verletzten auf der Straße oder in den Kellern anordnete, hat er sich leider von seiner Position als Gerichtshof für Menschenrechte entfernt. Dass dieser Richtungswechsel von Dauer ist, haben weitere Rechtssprüche in Folge der Ausrufung des Ausnahmezustands gezeigt.
Schlussendlich sollten diejenigen Mechanismen zur internationalen Ordnung, die einen Beitrag zum demokratischen Wandel der Türkei leisten wollen, sich der Türkei von einem wesentlichen Punkt aus, nämlich über die Kurdenfrage nähern, die Türkei von hier aus kritisieren und somit einen Wandel anstoßen. Gleichermaßen sollten sie sich auf eine Deutung der Türkei stützen, die fortschrittliche, demokratische Dynamiken ins Zentrum stellt. Andernfalls werden sie keinen positiven Einfluss auf die kurdische Gemeinschaft, die demokratischen Kräfte und den Wandel der Türkei haben.

Die Strafprozesse der Akademiker_innen, die in Form einer Petition verkündeten: «Wir werden uns nicht an diesem Verbrechen beteiligen», gehen weiter. Diese Prozesse werden zum einen im Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und dem steigenden Druck auf Universitäten diskutiert, zum anderen werden sie auch interpretiert als Anklage gegen die Forderung nach Frieden. Was denkst du zu diesem Thema?    

Nazan Üstündağ: Während die Friedensbemühungen und -verhandlungen weiterliefen, war eine der Strategien der kurdischen Freiheitsbewegung, die seit Ende der 1990er Jahre entwickelten Ideen und Vorschläge sowie seither gesammelte Erfahrungen mit einer breiten Öffentlichkeit zu diskutieren und diese so in den Prozess miteinzubeziehen. Innerhalb dieses regen Diskussionsklimas gehörten Akademiker*innen zu den wichtigsten Gesprächspartner*innen. In den letzten Jahren fanden Dutzende Konferenzen und Seminare in Amed, Van und vielen anderen kurdischen Städten statt. Im akademischen Bereich diskutierte Fragen, wie beispielsweise die lokale und autonome Organisation von Wirtschaft, Emanzipation, sektorenübergreifende Gleichstellung von Frauen oder die Errichtung von nachhaltigen urbanen Räumen, trafen bei diesen Konferenzen, Reisen, Seminaren und gemeinsamen Feldforschungen mit den Lösungsvorschlägen und Forderungen der Freiheitsbewegung aufeinander. Als die kurdischen Provinzen unter Blockade gestellt wurden, hatten bereits viele von uns in Kurdistan, in Amed, Sur, Cizre, Gewer, Derik und Nusaybin geliebte Menschen, Bekannte und Freund*innen. Deshalb wurden wir zu Zeug*innen ihrer Erlebnisse. Ich finde, dass wir Unterzeichner*innen in jener Schrift nicht von unserem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht haben. Denn das, was wir sagten, war nicht irgendeine Meinung, sondern die Wahrheit, eine Wahrheit, die auf einem Zeugnis beruht. Mark Nichanian, ein großartiger Denker, argumentiert im Kontext des Genozids an den Armenier*innen, dass diejenigen, die den Genozid und die Massaker durchführten, gleichzeitig die Mittel der Wahrheitsproduktion und Zeugenschaft zerstört hätten. Somit ist auch für uns in erster Linie unser Recht, Zeugnis abzulegen, verletzt worden. Wenn 1000 Akademiker*innen sagen, dass der Staat ein Massaker anrichtet, dann ist das Zeugnis einer Wahrheit. Da dies für den Staat inakzeptabel ist, treibt es diesen an, so würde ich sagen, genau diese Möglichkeit zu vernichten.

Am 8. Mai 2018 waren Mahmut Şakar und Nazan Üstündağ zu Gast in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin:

Auf den Ruinen alter Konflikte – Historische Perspektiven auf den Ausnahmezustand
Eski çatışmaların harabeleri üzerinde: Tarihsel bir perspektiften Türkiye'de OHAL

Es handelte sich um eine Veranstaltung der Salongesprächsreihe «Brave New Turkey?» Laboratorien, Krisen und Widersprüche der «Neuen Türkei» — «Yeni Türkiye» de deneyimler, krizler ve çelişkiler