News | Div (Hg.): Marie Jahoda. Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930, 2017

Buch über die engagierte Pionierin der Sozialpsychologie

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Bernd Hüttner,

30 Jahre alt ist Marie Jahoda (1907-2011) als sie ihre Heimat Österreich 1937 verlässt und nach Großbritannien emigrieren muss. Da hat sie bereits ein ihr halbes Leben umfassendes und breites Engagement in der sozialistischen Jugend- und Bildungsbewegung hinter sich. Weiter eine von 1927 bis 1934 auf dem Papier bestehende Ehe mit dem Soziologen Paul Lazarsfeld, die sie aber auflöst und das gemeinsame Kind ab 1932 alleine erzieht. Sie wird den Großteil ihres sehr langen Lebens nicht in Österreich verbringen, und erst mit bereits 58 Jahren erhält sie 1965 einen Ruf auf eine Professur für Sozialpsychologie an der University of Sussex in Falmer (GB).

Jahoda ist vor allem für die Mitarbeit an der Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit« bekannt. Diese Arbeit gilt als eine der ersten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen mit Indikatoren; und als wichtiges, wenn nicht wegweisendes Werk in der empirischen Sozialforschung und erschien gedruckt erstmals 1933. ›Arbeit‹ war vor dieser Studie, in ihrer 1932 erstellten Dissertation und auch später immer wieder Gegenstand ihrer Forschung und ihrer Veröffentlichungen. Wissenschaftlich und politisch ist sie in ihrer Wiener Zeit von der marxistischen Philosophie des Austromarxisten Max Adler und der Empirie von Otto Neurath geprägt. 1936 wird sie verhaftet, verurteilt und nach der Haftentlassung wird ihr die Staatsbürgerschaft entzogen.

Das vorliegende Buch enthält den erstmals veröffentlichen Text der Dissertation von Marie Jahoda. Des Weiteren einen fast 100 Seiten umfassenden Artikel zu ihrer Biographie von Christian Fleck, einen Beitrag von Josef Ehmer zur sozialökonomischen Situation und Entwicklung in Wien zwischen 1850 und 1930, und einen von Meinrad Ziegler, der die Dissertation in die Biografie von Jahoda und die beginnende Forschung am Institut für Psychologie der Universität Wien einordnet. Eine Bibliografie der Erstpublikationen von Johada schließt den Band ab.

Die im Buch 140 Seiten umfassende Dissertation untersuchte das Leben bzw. dessen Deutung von 52 Personen. Jahoda interviewte 1931 insgesamt 30 Frauen und 22 Männer, die zum Zeitpunkt ihrer Interviews in sogenannten Versorgungshäusern in Wien lebten und zu den Geburtsjahrgängen 1842 bis 1869 gehörten und zu diesem Zeitpunkt zwischen 62 und 89 Jahren alt waren. Die Versorgungshäuser waren Einrichtungen der Stadt Wien für Menschen, die aus verschiedensten Gründen, meist Krankheit oder Armut, nicht in der Lage waren, einen eigenen Haushalt zu führen.

Jahoda benutzte einen Leitfaden und führt im Text ausführliche Zitate aus den Interviews an. Sie wollte untersuchen, inwieweit es einen von ihr angenommen ›Normallebenslauf‹ gibt, den sie dadurch definierte, dass in ihm die biologische und psychisch-soziale Expansion und Restriktion weitgehend parallel verlaufen. Falls die Interviewten von einem solchen Lebenslauf abwichen, interessierte sie, welche Ursachen und Folgen dies hatte. Sozusagen nebenbei beschreibt sie anhand einiger Beispiele, wie die Interviewten ihre Erinnerungen konstruieren, jene also mithin nicht objektiv ist. Die Dissertation gibt vor allem einen Eindruck vom Leben in einem Kapitalismus vor der Existenz eines Sozialstaates. Eines Kapitalismus‘, der stark von Urbanisierung, Migration und Wanderarbeit, wie auch der Tatsache, dass die Arbeiter_innen, eben im Vergleich zur Landwirtschaft und zu den vielen Formen der Hausangestellten und –diener_innen, in jener Periode eine vergleichsweise kleine Gruppe sind. Diese strukturellen Bedingungen werden dann von Josef Ehmer nochmals unterfüttert. Jahoda und auch ihr freilich minoritäres und randständiges akademisches Umfeld nannten ihren Ansatz ›Lebenspsychologie‹ heute würde dieser wohl der ›Lebenslaufforschung‹ zugeordnet.

Nach ihrer Emigration lebt Jahoda unter prekären Bedingungen bis 1945 in Großbritannien, danach kurz in den USA, wo sie 1949 ihre erste akademische Stelle antritt. Sie bekommt sogar 1950 die amerikanische Staatsbürgerschaft, kehrt aber dann nach Großbritannien zurück, wo sie 1958 einen Abgeordneten der Labour Party heiratet: Austen Harry Albu (1903-1994).

Die hier vorliegende Publikation gibt über die dokumentierte Dissertation einen Einblick in die Lebenswelt der ›Unterschicht‹ um die Jahrhundertwende in Wien, wie auch dann vermittelt über das Leben und Werk von Jahoda in die Reformzeit des ›roten Wien‹ der 1910er und 1920er Jahre und die dortige Etablierung der Psychologie als universitäres Fach. Drittens ist das Buch eine lesenswerte Schilderung eines bewegten und engagierten Lebens. Als Jahoda ihr Abitur machte, sei sie, so erzählte sie später, »komplett überzeugt« gewesen, dass sie «einmal sozialistischer Erziehungsminister in Österreich werden würde» (S. 276). Der ist sie nicht geworden, aber den in diesem Zitat zum Ausdruck kommende Elan und Willen hat sie Leben lang anscheinend nicht verloren.  

Marie Jahoda. Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850-1930. Dissertation 1932, hrsg von Johann Bacher / Waltraud Kannonier-Finster / Meinrad Ziegler, transblick, Band 13, Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag 2017, 392 Seiten, 26,90 EUR, ISBN 978-3-7065-5567-8

Diese Rezension erschien zuerst in ARIADNE. Forum für Frauen- und Geschlechterforschung, Nr. 73/74 (Kassel).