«Man gehört nirgendwohin, solange man keinen Toten unter der Erde hat», heißt es im Roman «Hundert Jahre Einsamkeit» von Gabriel García Marquéz. Seit mehr als hundert Jahren beklagen und begraben Armenier*innen, Kurd*innen, Alevit*innen, Jesid*innen, Linke und Andere ihre Angehörigen, die in Untersuchungshaft verschollen sind oder auf offener Straße ermordet wurden. Die Täter? Unbekannt. Das ist die Realität der Türkei, die der Staat seit hundert Jahren versucht zu leugnen, die jedoch zu diesem Land gehört wie der Bosporus zu Istanbul.
Als Emine Ocak am 27. Mai 1995 zum ersten Mal auf dem berühmten Galatasaray-Platz in Istanbul demonstrierte, war ihr Sohn gerade mal seit 58 Tagen tot. Hasan Ocak, Gymnasiallehrer, war 30 Jahre alt, als er während der Unruhen in Gazi festgenommen wurde. Nach seinem Verschwinden wurde sein Leichnam in einem Waldgebiet abgeworfen und später auf einem Armenfriedhof entdeckt. Nicht umsonst werden die 1990er Jahre in der Türkei als «dunkle Zeiten» bezeichnet. Menschen, meist Aktivist*innen und Akademiker*innen wurden in Haft umgebracht und ihre Leichen aus Hubschraubern über Wälder abgeworfen, in Brunnen oder Massengräbern versteckt oder in Öfen verbrannt.
Seit 1995 demonstrieren Angehörige der laut offiziellen Angaben 17.000 Opfer ohne Täter jeden Samstag um 12 Uhr für eine halbe Stunde mit einem stillen Sitzstreik. Diese halbe Stunde des zivilen Ungehorsams mitten in der Istanbuler Innenstadt ist mittlerweile aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken. Genauso wenig wie die Polizei, die samt Wasserwerfern vor Ort ist und nach Bedarf entweder einschüchtert oder die Versammlung auflöst. So wie am 25. August 2018, als sich die Samstagsmütter zum 700. Mal treffen wollten und die Polizei noch vor 12 Uhr einschritt und Dutzende von ihnen festnahm, darunter auch die heute 82-jährige Mutter Emine.
Das Verschwindenlassen, eine tradierte Staatspraxis
Die Praxis des «Verschwindenlassens» geht auf die Idee eines homogenen Nationalstaates zurück, der entgegen der diversen Realität des Landes aus den Ruinen des Osmanischen Reiches entstehen sollte. Vor mehr als hundert Jahren, 1915, verschwanden 139 armenische Intellektuelle, später wurden dann im Namen des neuen türkischen Nationalstaats insgesamt 1,5 Millionen Armenier*innen, Pontos-Griech*innen, Jüd*innen, Jesid*innen und Angehörige anderer Minderheiten ermordet oder deportiert.
Bis heute wird diese Praxis des «Verschwindenlassens» weiter geführt. Ob während des Dersim-Massakers 1938, der Istanbul Pogrome 1955, nach dem Militärputsch von 1980, der Brandanschlag in Sivas 1993, die Morde der JITEM in den 1990er Jahren, das Attentat auf den armenischen Journalisten Hrant Dink 2007, das Roboski-Massaker 2011, die Zerstörungs- und Vertreibungspolitik im kurdischen Südosten nach den Wahlen im Juni 2015: der Staat lässt diejenigen verschwinden, die nicht in die dominante Erzählung einer homogenen türkischen Nation passen.
23 Jahre Samstagsmütter, 100 Jahre Gedächtnis
Neben Mutter Emine nimmt auch Pervin Buldan, die aktuelle Ko-Vorsitzende der HDP, seit 1995 an den Samstags-Protesten teil. Sie fordert Gerechtigkeit für den Tod ihres Ehemanns. Savas Buldan wurde 1994 aus einem Istanbuler Hotel gekidnappt und zwei Tage später tot aufgefunden. Auf seinem Körper fanden sich die Spuren schwerer Folter. Seit 2007 hat sich auch Rakel Dink den Samstags-Müttern angeschlossen. Sie ist die Ehefrau von Hrant Dink. Der junge Mann, der Hrant Dink auf offener Straße in Istanbul erschoss, wurde kurze Zeit darauf festgenommen und durfte mit einer türkischen Flagge in seinen Händen im Polizeipräsidium für die Journalisten posieren. Die Hintermänner sind bis heute nicht ermittelt worden, ebenso wenig wie jene im Fall von Tahir Elci, kurdischer Menschenrechtsanwalt und Präsident der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır, der 2015 während einer öffentlichen Ansprache vor laufenden Kameras von Unbekannten erschossen wurde. Kurz vorher hatte er in einer Talkshow auf CNN auf die Frage des Moderators, ob die PKK eine Terrororganisation sei, geantwortet, dass man nicht pauschal von solchen Kategorien sprechen könne. Tahir Elci und Hrant Dink waren unbequem für den türkischen Staat. Dink setzte sich für eine armenisch-türkische Freundschaft ein und betonte überall, dass die Armenier*innen genauso wie die Türk*innen und Kurd*innen Einheimische der Türkei seien. Elci und Dink wurden Opfer so genannter Morde ohne Täter. Beide hinterließen eine Familie, die sich mit weiteren hunderten Müttern, Vätern, Töchtern und Söhnen jeden Samstag am Galatasaray-Platz treffen, um Gerechtigkeit zu fordern.
Auch wenn die Proteste der Samstagsmütter ihren Anfang vor 23 Jahren nahmen, ist allein ihre Präsenz eine Mahnwache von 100-jähriger Einsamkeit. Besonders deutlich wurde dies während des Polizeieinsatzes auf der 700. Versammlung am 25. August, als Vedat Arik die historische und gesellschaftliche Verbundenheit verschiedener Traumata und Widerstände in einem Foto festhielt. Armenische, kurdische, türkische, säkulare und gläubige Oppositionspolitiker*innen der HDP leisten gemeinsam Widerstand, um die Festnahme von Arat Dink, Sohn von Hrant Dink, zu verhindern, indem sie mit ihren Körpern, Arm in Arm, einen Schutzwall bilden.
Auf meine Frage, wie es sich anfühlt für die 700. Mahnwache mobilisiert zu haben, antwortet Aysel Ocak, Schwester des ermordeten Hasan Ocak: «Ermüdend, weil es so schwer ist, Gehör zu finden für doch so fundamentale Forderungen, wie die Aufklärung der Morde oder eine gesellschaftliche Versöhnungspolitik. Aber gleichzeitig empfinde ich auch großen Stolz, weil wir seit 23 Jahren dieser Ungerechtigkeit zum Trotz jede Woche weiter Widerstand leisten.»
Seit zwei Wochen sperrt die türkische Polizei alle Wege zum Galatasaray-Platz und lässt nicht zu, dass sich die Samstagsmütter zum Sitzstreik treffen. Stattdessen kursieren Bilder im Netz, die zeigen wie sich die Polizei selbst auf den Platz setzt um auch den letzten Ort des zivilen Protests einzuvernehmen. Gleichzeitig erklärt der Innenminister Süleyman Soylu, die Verschollenen seien Terroristen und die Samstagsmütter ihre Propagandistinnen.
Für Aysel Ocak ist klar, dass der Widerstand nicht aufhören darf, sollte der Staat sich eines Tages mit seiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. «Leider folgt dann meist die Straflosigkeit. Wir sehen seit 1915, dass Straflosigkeit nur zur Wiederholung derselben Praktiken führt.» Ähnlich wie im Familiendrama von Marquéz: Solange die Samstagsmütter kein Gehör finden, wird das tragische Schicksal des Landes jede Woche neu geboren.