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«Die deutsche Regierung muss aufhören, Tauschgeschäfte mit Erdoğan einzugehen», meint der ehemalige HDP-Abgeordnete Ahmet Yildirim.

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Ahmet Yildirim,

Ahmet Yildirim
Ahmet Yildirim, HDP

Interview zum Erdoğan-Besuch in Berlin und zu den deutsch-türkischen Beziehungen mit Ahmet Yildirim, der als Abgeordneter der HDP von 2015 bis 2018 im türkischen Parlament saß.
 

Die Türkei steckt wirtschaftlich in der Krise. Was verspricht sich Erdoğan von dem Treffen in Berlin?

Ahmet Yildirim: Eigentlich muss man zunächst einmal sagen, dass Erdoğan mit seinem Besuch einer Einladung folgt. Bundespräsident Steinmeier höchstpersönlich hat ihn nach den Wahlen im Juni nach Deutschland eingeladen. Die derzeitige Wirtschaftskrise in der Türkei sowie der sich zusehends ausweitende politische Legitimitätsverlust Erdoğans sind ausschlaggebend für den konkreten Zeitpunkt des Besuches. Dass Deutschland als Lokomotive Europas in solch einer kritischen Phase Erdoğan durch die Botschaften, die es sendet, stützt, sollte uns zu denken geben. Bekanntlich ist Deutschland nach China das Land, aus dem die Türkei die meisten Importe einfährt. Die Türkei ist für Deutschland also ein bedeutender Markt. Kanzlerin Merkel hat geäußert, dass Deutschland «eine wirtschaftlich prosperierende Türkei» sehen möchte. Von einer Krise hat natürlich niemand etwas. An Wohlstand und Frieden für die Türkei sind wir mehr als alle anderen interessiert. Doch Merkel vergisst in ihrem Kommentar, dass die Wirtschaftskrise auch politische Gründe hat. Erdoğan mit diesen Gründen zu konfrontieren, versäumt sie genauso, wie auf die Unangemessenheit der kriegerischen Haltung seiner Regierung mit Blick auf die Türkei und den Nahen Osten hinzuweisen. Faktisch befindet sich die Türkei nach wie vor im Ausnahmezustand, weshalb zahlreiche Politker*innen, Journalist*innen und Intellektuelle weiterhin die türkischen Gefängnisse füllen. Selahattin Demirtaş, der seit geraumer Zeit von Erdoğan als politische Geisel im Gefängnis gehalten wird, hatte damals in einem Treffen mit Herrn Steinmeier während dessen Amtszeit als Außenminister die antidemokratischen Maßnahmen in aller Offenheit dargelegt. Es scheint also, als wären die deutschen Amtsträger*innen sich der Lage zwar durchaus bewusst, würden aber den wirtschaftlichen Beziehungen größeren Wert beimessen als Menschenrechten und Grundfreiheiten. Dennoch hoffe ich, dass Steinmeier während des Treffens mit Erdoğan sowohl nach Selahattin Demirtaş als auch nach all den anderen Parlamentarier*innen, Co-Bürgermeister*innen und Politiker*innen fragt, die sich momentan in Geiselhaft befinden.

Wann immer Erdoğan sich in die Ecke gedrängt sieht, nutzt er Spannungen im internationalen Beziehungsgefüge aus, um sich aus der Bredouille zu manövrieren. Erst kommt die Annäherung mit den USA, dann der Überwurf, schließlich die Annäherung an Russland. Nun steuert er zwecks eigener politischer Interessen und als Konsequenz seiner populistischen Politik auf die EU zu. Vielleicht aber werden wir aus seinem Munde schon in ein, zwei Monaten wieder Schmähungen der EU und ihrer Werte hören. Das gilt es, sich bewusst zu machen. Erdoğan sucht einen Deal. Falls Deutschland sich darauf einlässt und es zu neuerlichen Abkommen kommt, ist zu befürchten, dass dies nicht nur frischen Wind in Erdoğans Segel bläst, sondern vor allem dem europäischen Geist schaden wird.

Geschäfte mit Erdogan sind Beihilfe zur Konsolidierung der Diktatur.

Wie wird man dem türkischen Präsidenten Ihrer Meinung nach in Deutschland begegnen?

Das lässt sich konkret natürlich nur schwer vorhersagen. Für unseren Teil sind wir jedenfalls der Meinung, dass die deutschen Amtsträger*innen die politischen Probleme der Türkei Erdoğan gegenüber thematisieren müssen. Das ist die Aufgabe, die auf die deutsche Regierung wartet. Eine solche Haltung ist nicht nur angesichts der ungerechten Behandlung von Millionen Menschen in der Türkei notwendig, sondern auch mit Blick auf die eigens vertretenen Werte mehr als angebracht. Unter Tausenden von Personen, die derzeit in türkischen Gefängnissen eingesperrt sind, ist Deniz Yücel nur ein Beispiel für viele andere, die dort als politische Geisel gehalten werden. Wenn die Türkei im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen nicht weniger als eine Vollmitgliedschaft erwartet, muss man ihr deutlich zu verstehen geben, dass dafür Maßnahmen zur wirtschaftlichen und politischen Normalisierung unabdinglich sind. Ob Deutschland sich nämlich im Umgang mit der Türkei vorrangig den eigenen wirtschaftlichen Interessen oder aber den allgemeinen Menschenrechten verbunden fühlt, ist eine Frage der Einstellung gegenüber den in Europa über 300 Jahre hinweg errungenen Werten. Deutschland muss endlich aufhören, gewaltbereite, despotische Regierungen in der Türkei, die Freiheit und Frieden mit Füßen treten, durch sein Auftreten zu unterstützen. Vielmehr sollte man die reaktionäre türkische Regierung an die Kopenhagener Kriterien erinnern. Erdoğan präsentiert sich selbst und die Interessen seiner Partei als die Interessen und Bedürfnisse der gesamten Türkei. Dieser Rhetorik darf man in Deutschland nicht auf den Leim gehen. Anderenfalls wird auch Deutschland einen Teil der Verantwortung für die sich vorhersehbar weiter verstärkenden faschistischen Praktiken in der Türkei tragen müssen und deren Folgen zu spüren bekommen.

Die deutsch-türkischen Beziehungen haben eine lange Historie. Beispiele wie der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgenommene militärische Erfahrungsaustausch dokumentieren, wie weit der Beginn der Zusammenarbeit zurückliegt. Außerdem schickte die Türkei in jener Zeit Student*innen und technische Fachkräfte zur Ausbildung nach Deutschland. Später standen beide Länder dann im Zuge des Ersten Weltkriegs auf derselben Seite. Einigen Historiker*innen zufolge gibt es sogar wesentliche Ähnlichkeiten zwischen der konstitutiven Ideologie der Türkei des frühen 20. Jahrhunderts und dem deutschen Nationalismus. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Beziehungen ließe sich anführen, dass ein Teil der Schienen für die Bagdadbahn von den Deutschen gebaut wurden. Heutzutage können wir ironischerweise in den Nachrichten lesen, dass Deutschland der Türkei ein Angebot zur Modernisierung des Schienensystems vorgelegt hat; fast eine historische Anspielung. Dazu kommen neue Waffendeals.

Erdoğans feindselige Haltung gegenüber den Kurd*innen hat dazu geführt, dass ganze kurdische Städte zerstört wurden, Menschen bei lebendigem Leibe in Kellern verbrannt sind und die Türkei sich zuletzt militärisch in Syrien eingemischt hat. Trotzdem sieht es so aus, als würde die Aussicht auf Profite aus neuen Waffendeals die sich türmenden Verbrechen in den Hintergrund drängen. Was die Wirtschaftskrise betrifft, bemüht sich die deutsche Regierung durch Unterstützung und Großinvestitionen wie im Falle des Schienenprojektes die Türkei aus der misslichen Lage zu befreien, in die Erdoğan und seine Regierung das Land bugsiert haben.

Es wird erwartet, dass Erdoğan eine Rede vor seinen Anhänger*innen halten wird. Wie beurteilen Sie dies?

Man sollte die Auftritte von Politiker*innen im Ausland im Rahmen der Meinungs- und Gedankenfreiheit bewerten. Erdoğan geht als der Parteivorsitzende in die Geschichte ein, der seinen politischen Rivalen vor, während und nach den Präsidentschaftswahlen als politische Geisel im Gefängnis schmoren lässt. Er fordert, überall auftreten zu dürfen, kann aber gleichzeitig mit den aus demokratischer Sicht völlig legitimen Reaktionen der Menschen nicht umgehen. Aus dem gewalttätigen Auftreten seiner Bodyguards gegenüber unseren Parteianhänger*innen und anderen Demonstrant*innen bei den friedlichen Protesten während seiner USA-Reise sollte man Lehren ziehen. Dass in Deutschland zuletzt umgekehrt kurdische Veranstaltungen und Demonstrationen behindert oder gar verboten wurden, bereitet uns Sorge. Zum Beispiel wurde vor zwei Jahren erstmalig das bis dahin 23 Jahre lang ununterbrochen stattfindende Internationale Kurdische Kulturfestival verboten. Auch das diesjährige Festival wurde kurzfristig gekippt. Wenn wir also davon reden, dass Erdoğans Repressionen nach Europa überschwappen, dann meinen wir damit genau solche Praktiken. Wir sind der Meinung, dass nicht nur Erdoğan ein Recht auf Auftritte vor seinen Anhänger*innen haben sollte, sondern dass auch diejenigen, die gegen ihn protestieren wollen, das Recht dazu haben müssen. Diese Meinung ist offensichtlich im Einklang mit den europäischen Werten.

Wir wünschen uns einzig und allein, dass Deutschland und Europa die eigenen Werte schützen und selbstgefasste Beschlüsse vertreten.

Was für ein Auftreten Erdoğan gegenüber wünschen Sie sich von der deutschen Regierung?

Die deutsche Regierung sollte Erdoğan auf Probleme der Demokratisierung der Türkei in Bezug auf universelle Werte hinweisen. Es wäre für die ganze Menschheit schädlich, wenn wirtschaftliche Interessen und Finanzkapital allein das Auftreten der Regierung bestimmen sollten. Denn dann wird Erdoğans Diktatur gestärkt aus diesem Treffen herausgehen. Aber Erdoğan repräsentiert nicht die ganze Türkei. Man darf nicht vergessen, dass die Wahlen durch Betrug gewonnen wurden. Deutschland darf also nicht aus den Augen verlieren, dass Erdoğans politische und gesellschaftliche Legitimität alles andere als unbestritten ist. Die deutsche Regierung muss davon Abstand nehmen, gegenüber unterdrückten Bevölkerungsgruppen als Unterstützer und Protektor Erdoğans aufzutreten. Sie erinnern sich vielleicht, dass der Fortschrittsbericht der EU-Kommission erst nach dem 1. November 2015 veröffentlicht wurde, damit nicht der Eindruck entsteht, man würde sich in die zu dem Zeitpunkt in der Türkei stattfindenden Wahlen einmischen wollen. Während Erdoğan die Flüchtlingsfrage in seiner Beziehung zu Europa wie ein Damoklesschwert nutzt, haben die Kurd*innen bislang von Folter, über Vertreibung bis zur Zerstörung ihrer Städte ein beispielloses Ausmaß an Gewalt erlitten, dessen Ende leider nicht in Sicht ist. Das Schweigen Deutschlands und der anderen europäischen Nationen hat dazu beigetragen, dass in der Türkei Stück für Stück eine Diktatur errichtet werden konnte. Kurd*innen und andere unterdrückte Gruppen hegen nun kaum noch konkrete Hoffnungen, was Deutschland betrifft. Wir wünschen uns einzig und allein, dass Deutschland und Europa die eigenen Werte schützen und selbstgefasste Beschlüsse vertreten. Wenn ein Land den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht nachkommt, obwohl es sich laut eigener Verfassung dazu verpflichtet, und wenn die europäischen Länder sich zu diesem Thema in Stillschweigen hüllen, dann stellt das die Vertrauenswürdigkeit des EGMR und der anderen europäischen Institutionen in Frage. Deshalb sollte Deutschland unbedingt nach demokratischen Prinzipien handeln. Menschenwürde und demokratische Werte dürfen wirtschaftlichen Interessen nicht einfach zum Opfer fallen. Denn wo demokratische Werte zusehends außer Acht gelassen werden, bekommen wir es mit Diktaturen, Konflikten und Chaos zu tun. Das Resultat ist, dass eine große Zahl an Menschen nach Europa flüchtet. Die von Erdoğan regierte Türkei ist ein Land, in dem das Gesetz außer Kraft gesetzt ist und der Ausnahmezustand faktisch weiterläuft. Politiker*innen und Journalist*innen befinden sich in politischer Geiselhaft und selbst die Sitzaktion der «Samstagsmütter», die ihre Kinder und Angehörigen verloren haben, sind mittlerweile verboten. Jedes Gespräch mit dem Anführer eines solchen Landes, in dem diese Dinge nicht thematisiert werden, kann nicht mehr als Beihilfe zur Konsolidierung der Diktatur sein.

Was ist für Deutschland wichtiger: Die eigenen wirtschaftlichen Interessen oder die universellen Menschenrechte?

Wie sollte die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Deutschland in Zukunft aussehen, gerade auch unter Rücksichtnahme auf die derweiligen politischen Spannungen?

Dazu sollten wir zunächst unserer Erinnerung auf die Sprünge helfen und uns die zurückliegenden Krisen zwischen den beiden Ländern vor Augen halten. Nachdem der deutsche Bundestag am 2. Juni 2016 den Beschluss fasste, den Völkermord an den Armenier*innen als solchen anzuerkennen, sorgte das von der Türkei für den Luftwaffenstützpunkt Incirlik verhängte Besuchsverbot für deutsche Bundestagsabgeordnete für Streit. Das Parlament beschloss im Anschluss eine Verlegung der deutschen Truppen nach Jordanien.

Damit nicht genug: Die infolge des Putschversuches vom 15. Juli 2016 von türkischen Soldat*innen und Offizier*innen in Deutschland gestellten Asylanträge, die Spionagevorwürfe gegen Imame des Dachverbands der türkischen Moscheegemeinden (DITIB), die Absagen mehrerer Veranstaltungen in Deutschland, bei denen türkische Minister im Vorfelde des Volksentscheids über das Präsidialsystem in der Türkei im April 2017 hatten auftreten wollen, sowie der von Erdoğan mit Blick auf diese Verbote angestellte Nazi-Vergleich waren weitere Anzeichen für eine sich zuspitzende Krise.

So ließ der damalige deutsche Außenminister Sigmar Gabriel im Juli 2017 verlauten, dass Deutschland «mit der Geduld am Ende» sei. Erdoğan konterte mit dem Aufruf, bei den Bundestagswahlen «Keine Stimme für türkeifeindliche Parteien» zu geben. Die Situation der in der Türkei inhaftierten deutschen Staatsbürger*innen war dabei maßgeblich für die Verschärfung des Tons.

Jetzt scheint man die Krise überwunden oder zumindest hinter sich gelassen zu haben, ohne dass auch nur eines der Probleme wirklich gelöst worden wäre. Doch ist die Türkei nach diesen Spannungen in den deutsch-türkischen Beziehungen nun demokratischer geworden? Hat die Türkei für politische Stabilität und Verlässlichkeit hinsichtlich der internationalen Stützpunkte gesorgt? Nur aufgrund schmerzhafter wirtschaftlicher Sanktionen und eines verschärften Tonfalls wurden einige der inhaftierten deutschen Staatsbürger*innen letztendlich freigelassen. Das zeigt auch, dass die türkische Justiz einer Einparteien- oder «Ein-Mann»-Herrschaft unterstellt ist. Darum muss die deutsche Regierung aufhören, Tauschgeschäfte mit Erdoğan einzugehen: Sie darf ihn nicht länger schützen.

Mit unserer Aufforderung an die EU und an Deutschland als Lokomotive Europas, sich an die eigenen Werte zu halten, wollen wir nicht mehr und nicht weniger als den Wunsch zum Ausdruck bringen, dass man im Auge behält, ob und wie sich Vorstellungen von Menschlichkeit und Demokratie mit rechtlichen Verfahren und wirtschaftlichen Maßnahmen vertragen.

Ahmet Yildirim ist Geograf und war an der Dicle-Universität in Diyarbakır in der Lehre tätig, bevor er 2015 als Abgeordneter der HDP in das türkische Parlament gewählt wurde. Im Februar 2018 wurde ihm sein Mandat ohne jegliche Legitimität entzogen und mehrere Gerichtsverfahren gegen ihn eröffnet, die sich auf Reden im Rahmen seiner Abgeordnetentätigkeit beziehen. Seit sieben Monaten befindet er sich nun in Deutschland.