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Zum zweiten mal treffen sich Cineasten und Urbanistikaktivist_innen in Slawutytsch

Ende April fand im nordukrainischen Slawutytsch zum zweiten Mal das Urbanistik- und Filmfestival «86» statt. Das kleine Städtchen wurde unmittelbar nach der Tschornobyl-Katastrophe 1986 in der Nähe des Atomkraftwerks errichtet.

Slawutytsch verkörpert die sowjetisch sozialistische Stadtbauutopie – eine internationalistisch angehauchte Gartenstadt. Gebaut von mehreren Republiken innerhalb von zwei Jahren. Für 25.000 Fußgänger und Radfahrer konzipiert und damit Repräsentant verschiedener Visionen vom komfortablen und naturfreundlichen Massenbau.

An diesem Ort versammelte das Festival die Urbanistikaktivist_innen aus der ganzen Ukraine, überwiegend aber aus dem naheliegenden Kiew. Thematisch drehte sich das Programm um die Schwerpunkte Plattenbau in Osteuropa, rasche Urbanisierung in China, Eisenbahn und Fahrrad, Atomkraft und Naturverschmutzung.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützte im Rahmen des Festivals die Podiumsdiskussion über Formen der Hausbesetzung in einer globalisierten Welt. Es diskutierten unter anderen der in Deutschland lebende italienische Filmregisseur Hannes Lang, dessen Film «I want to see the manager» im Festival gezeigt wurde und der Aktivist und Anarchist einer der wenigen Hausbesetzungsinitiativen in der Ukraine, Dmytro Botavin.

Der Squatter Botavin stammt aus dem vom Krieg betroffenen Ort Makejewka in der Nähe von Donezk. Voriges Jahr hat er gemeinsam mit Übersiedlern von der Krim und aus den umkämpften ostukrainischen Gebieten sowie mit Aktivist_innen der lokalen Majdan-Proteste ein verfallenes Haus im ostukrainischen Charkiw besetzt, soweit es ging renoviert und zum Kulturzentrum ausgebaut. Dort werden Filme gezeigt, Vorträge gehalten, humanitäre Hilfe verteilt. Wer im Haus wohnen möchte, muss auch die dort geltenden Regeln akzeptieren. Im Haus darf kein Fleisch und kein Alkohol konsumiert werden. Respekt füreinander und die gemeinsame Instandhaltung und Reinigung des Hauses gehören zum gemeinsamen Konsens.

Die Diskussion drehte sich um verschiedene Erfahrungen mit Hausbesetzung – in Caracas, Kiew, Simferopol, Charkiw. Die meisten ukrainischen Hausbesetzungsversuche blieben bisher erfolglos. Zur Diskussion standen verschiedene Strategien. Kann man lokalen Verwaltungen kooperieren, oder ist das schon Verrat an der Idee? Wie offen darf man sein? Wie kann man sich gegen gewaltsame Übergriffe wehren? Wie geht man mit Versuchen der Kommerzialisierung um?

Botavin erzählte von zwei misslungenen Versuchen der Charkiwer Behörden, die Aktivisten aus dem Haus räumen zu lassen. Ein Paar Tage nach der Veranstaltung gab es einen dritten Versuch. Der Squatt «Avtonomia» (Autonomie) liegt in der Nähe des Stadtzentrums. Das verfallene alte Ex-KGB-Haus interessierte niemanden. Bis zu dem Zeitpunkt als die Aktivist_innen begannen, es zu reparieren. Plötzlich hatte die Stadt einen Privatbesitzer gefunden, der das Haus angeblich abreißen lassen möchte.

Die Feuerwehr inspizierte das Gebäude und attestierte dem Haus mangelnden Brandschutz. Eine seit den 2000er Jahren gewöhnliche Mafia-Praxis in der Ukraine. Man stiftet einen Brand und der Besitzer des Hauses wird so zur Auf- und Abgabe gezwungen.

«Avtonomia» ruft deshalb jetzt zur Solidarität auf. Während die Reichen sich die Geldbeutel vollstopfen und das kommunale Eigentum an sich reißen, müssen die anderen mit Brot und Buchweizen rauskommen. Wir werden die Willkür der Machthabenden nicht tolerieren und ziehen uns nicht zurück! Wir führen unser autonomes Leben weiter und erklären die Gründung des Komitees zur Gegenwirkung den eigenwilligen Bauherren, korrupten Behörden und Geschäftemachern!

Festivalprogramm

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