News | Birke/Hien: Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn. «68» und das Ringen um menschenwürdige Arbeit, Hamburg 2018

Über ein Leben in der nicht immer konfliktfreien Schnittmenge zwischen Betrieb, Wissenschaft und politischer Bewegung

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Bernd Hüttner,

Wolfgang Hien (c) Fritz Hofmann

Zwischen 2012 und 2016 hat der Göttinger Historiker Peter Birke sieben lange Interviews mit Wolfgang Hien geführt. Herausgekommen ist nun ein beeindruckendes lebensgeschichtliches Dokument, das wichtige politische Debatten seit der Mitte der 1960er Jahre abbildet. Debatten um Arbeit, Gesundheit, Ökologiepolitik, um das stets schwierige Verhältnis von ArbeiterInnen- und Umweltbewegung und um die stoffliche Seite der Produktion. Ein Schisma in Folge von «1968» war, dass nun die gewerkschaftliche Orientierung nicht mehr nur auf mehr Wachstum und für höhere Löhne sein konnten, sondern von innen und erst recht von außen Forderungen und Debatten um ein anderes, gesundes, sinnvolles Arbeiten (und ebensolche Produkte) an die Gewerkschaften und die Betriebe herangetragen wurden. Der Fortschrittsoptimismus geriet in die Krise.

Dies waren, und dies zeigt das Buch deutlich, Debatten, die freilich in den Gewerkschaften nur unter wenigen Interessierten, die unter linken Betriebsräten und denjenigen in der außerparlamentarischen Linken stattfinden, die sich in diesem Bereich engagieren und organisieren.

Das Buch schildert die vier Phasen des Lebens, oder wie es in Anlehnung an die Cultural Studies genannt werden könnte, die Klassenreise von Hien: Kindheit und Lehre, dann politisch expressives, aber persönlich eher irrlichterndes junges Lebens, dann als dritte Phase die der Wissenschaft, die sogar noch in die gewählte Selbständigkeit mündet.

Wolfgang Hien wird 1949 im konservativen, katholischen Arbeitermilieu des Saarlandes geboren und beginnt als Schulabbrecher 1965 eine Lehre bei der BASF in Ludwigshafen. Die «Anilin» wie sie in der Region genannt wird, hat damals 60.000 Beschäftigte, davon fast zehn Prozent Auszubildende. Dort wird er Teil der Lehrlingsbewegung und trägt erste Autoritätskonflikte aus. Gesundheit, sein späteres Lebensthema, ist noch keines. In den 1970ern holt Hien das Abitur nach, lebt in Mannheim und Frankfurt, beginnt ein Studium und bricht dieses wieder, kehrt als Arbeiter wieder in verschiedene Betriebe zurück. Hien zieht nach Bochum um, arbeitet in Metallhütten, wo er 1981 gekündigt wird. Er macht eine Umschulung und engagiert sich im «Büro für Betriebsfragen», das von der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) getragen wird und das als überregionales Koordinierungs- und Motivierungsinstrument für linksgewerkschaftliche Betriebsräte und anderweitig im Betrieb engagierte wirkt. Er organisiert sich in jenen Jahren in der radikalen Linken, vor allem in der trotzkistischen «Gruppe Internationaler Marxisten», hat aber auch enge Kontakte zum operaistischen «Revolutionären Kampf» oder zum linkssozialistischen «Sozialistischen Büro». In jenen Jahren beginnt auch die links-alternative, sogenannte «Gesundheitsbewegung»: 1980 findet parallel zum Ärztetag in Berlin der sog. Gesundheitstagt statt. Auf ihm debattieren 12.000 TeilnehmerInnen in 300 Veranstaltungen, 1981 findet der zweite in Hamburg und 1984 der dritte in Bremen statt. In 32 Städten gibt es sogenannte Gesundheitsläden als Orte der Selbstorganisation und Verständigung linker und alternativer im Sozial-, Gesundheits- und anverwandten Bereichen tätigen Menschen. Hien wiederum ist engagierter Teil dieser Prozesse, reist viel. Dies ist auch möglich, weil er von 1982 bis 1988 am Krebsforschungszentrum in Heidelberg arbeitet, wo er viele Freiheiten hat.

Politisch gibt es immer wieder Diskussionen mit den Gewerkschaften, Gesundheit und Produktkonversion sind für viele Menschen Scharnierthemen zwischen der Ökologie- und der ArbeiterInnenbewegung. Mit über 30 Jahren beginnt Hien dann ein Studium an der Universität Bremen, das er 1988 abschließt. Er nähert sich dem akademischen Milieu stärker an, promoviert 1992 sogar, die gewerkschaftsnahe Hans Böckler Stiftung gibt ihm unter Verweis auf seine politischen Aktivitäten kein Stipendium. Auch in Bremen hat er, wie in Heidelberg, einen verständnisvollen «Chef». Rainer Müller, Professor und Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik, Arbeits-, Sozialmedizin des Zentrums für Sozialpolitik an der Universität Bremen wird sein Arbeitgeber. Die folgenden 14 Jahre bis 2002 ist Hien immer wieder in sehr prekären Verhältnissen an dieser Abteilung beschäftigt. Hien forscht, er befragt ArbeiterInnen auf Werften, oder aus dem Handwerk. Arbeitswissenschaft und Gesundheit sind nun seine Themen. 2003 bis 2005 arbeitet Hien als Hauptamtlicher für Arbeitsschutz beim Bundesvorstand des DGB, eine für ihn ernüchternde Erfahrung, die in einem Herzanfall endet und seiner selbstgewählten Kündigung endet. 2006 macht er sich dann auch formal selbständig. 2002 und 2007 publiziert er zwei Bücher, in denen er die Ergebnisse zweier größerer Befragungen ehemaliger Arbeiter der 1997 geschlossenen Bremer Vulkan Werft dokumentiert. In diesen bearbeitet er den Widerspruch zwischen dem männlichen Leistungsethos und Produktstolz und den krankmachenden Arbeitsbedingungen, der sich in den (kranken) Körpern und dem Selbstverständnis der vielen Befragten konflikthaft ausdrückt.

Ein 2017 bereits online erschienener Text von Hien über die Beziehung zwischen Umwelt- und Gesundheitsbewegung in den 1980er Jahren vertieft das Thema des Buches. Ein sehr hilfreiches Personen- und Sachglossar runden den Band ab.

Das Buch ist eher Quelle als wissenschaftliche Abhandlung, weniger Theorie, mehr Biografie. Es zeigt viele, wenn auch sicherlich nicht alle Aspekte eines faszinierenden, nicht glatt abgelaufenen Lebens eines authentisch und aufrecht gebliebenen «Arbeiterakademikers». Eines Arbeiterkindes, das mit der Akademie stets gefremdelt hat, obwohl es sichtlich ein beeindruckendes theoretisches und empirisch-fachliches Wissen akkumuliert hat. Hiens politischer Rahmen ist die Befreiungstheologie, dann der Marxismus und auch Operaismus. Sein Leben spielte sich in der nicht immer konfliktfreien Schnittmenge zwischen Betrieb, Wissenschaft und politischer Bewegung ab; in Verbindung und tiefer Empathie mit den arbeitenden Menschen, in deren Selbstorganisation und Kämpfe Birke und Hien zwar Hoffnung setzen, aber in die sie keine Illusionen hegen.

Parallel zu diesem Interviewbuch ist als Ergebnis eines langjährigen, unbezahlten Forschungsprojektes ein Band erschienen, in dem Hien aufbauend auf seiner großen Erfahrung in diesem Feld die Geschichte des Arbeitsschutzes in Deutschland und Österreich seit der Hochindustrialisierung erzählt. Dies tut er im Sinne einer «Geschichte von unten» oder einer Alltagsgeschichte und verbindet diese mit vielen Aspekten des Körpers und des (proletarischen) Leibes.

Peter Birke/Wolfgang Hien (Hrsg): Gegen die Zerstörung von Herz und Hirn. „68“ und das Ringen um menschenwürdige Arbeit, VSA Verlag, Hamburg 2018, 264 Seiten, 22,80 EUR