News | Arbeit / Gewerkschaften «Und es ist richtig und tut richtig gut, ein Teil davon zu sein»

Ingrid Artus über die Feminisierung von Streiks

Der folgende Beitrag ist ein Auszug aus einem längeren Text von Ingrid Artus, der in einer Broschüre der Rosa Luxemburg Stiftung zur Vorbereitung der 4. »Streikkonferenz: Aus unseren Kämpfen lernen« (15.-17. Februar in Braunschweig) erscheinen wird. Analog zur »Tertiarisierungsthese« der Industriesoziologie richtete sich der Blick in der Arbeits- und Arbeitskampfforschung bislang eher auf eine Verlagerung von Streiks in den Dienstleistungsbereich. Ob und inwiefern dies mit einer »Feminisierung« verbunden ist, untersucht die Autorin in Teil I und II ihrer Broschüre, in dem es um einen historischen und einen aktuellen Blick auf »Frauen und/in Streiks« geht. Der hier dokumentierte dritte Teil fragt, »was es bedeutet, wenn Frauen stärker als früher in das Arbeitskampfgeschehen involviert sind«.

Ingrid Artus ist Professorin für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen- Nürnberg. Der Beitrag erschien in express 11/2018.

Nicht nur die Streikkultur, auch die Streikinhalte sind gegenderte Phänomene, in denen sich der gesellschaftliche Ort und die aktuellen – spezifischen – Bedingungen von Frauenerwerbsarbeit ausdrücken. Die Aufwertung feminisierter Berufsfelder war sehr explizit Gegenstand z.B. der Streiks in den Sozial- und Erziehungsdiensten. Der alte Kampf für »gleichen Lohn für gleiche Arbeit« geht aktuell offenbar in eine neue Runde. Die neuen Parolen lauten: »Gleicher Lohn für Männer- und Frauenarbeit« – oder: »Warum bezahlen wir Menschen, die unsere Autos bauen, mehr als Menschen, denen wir unsere Kinder anvertrauen?« – und: »Wer eine Horde von Kindern managt, verdient ein Managergehalt«. Die neuen Frauenstreiks sind Anerkennungskämpfe. In ihnen geht es um den Wert weiblichen Arbeitsvermögens – in symbolischer wie materieller Hinsicht. Und sie richten sich auch gegen die Ideologie, wonach Frauenlöhne nur einen Zuverdienst darstellen. Frauen sind längst auch Familienernährerinnen – und immer häufiger sogar die alleinigen. Neben klassischen Forderungen nach höheren Löhnen, die mit genderspezifischen Argumenten legitimiert werden, zeichnen sich die feminisierten »Sorge-Kämpfe« jedoch auch dadurch aus, dass sie qualitative Arbeitsbedingungen zum Thema machen. So thematisierte etwa der S&E-Streik 2009 unter dem Stichwort des »Gesundheitstarifvertrags« die hohen Arbeitsbelastungen des Erzieherinnenberufs. Im Erziehungs- wie im Gesundheitsbereich steht insbesondere die zu geringe Personalausstattung im Zentrum der Konflikte. Es geht um mehr Zeit für Kinder und PatientInnen – und um die Möglichkeit, qualitativ gute Dienstleistungen in gesellschaftlich zentralen Sorgebereichen leisten zu können. So hat der Streik an der Charité sogar »das deutsche Streikrecht erweitert. Denn lange war umstritten, ob für ein Anliegen wie mehr Personal überhaupt gestreikt werden darf« (Tügel 2017: 38). Dies ist mittlerweile – im Sinne der Streikenden – geklärt und die bundesweite Entlastungsbewegung für mehr Personal im Krankenhaus ist eine beeindruckende Folge. Gerade mit ihrer qualitativen Fokussierung gehen die feminisierten Sorge-Kämpfe zudem über klassische tariflich-begrenzte Interessenkonflikte hinaus und transzendieren diese im Sinne gesamtgesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Sorgedienstleistungen haben schließlich eine andere Stellung im Gesamtgefüge gesellschaftlicher Arbeitsteilung als etwa die Produktion eines Autos. Sie stellen eine soziale Infrastruktur sicher für die Gesamtgesellschaft, sozusagen Dienstleistungen für alle, und wenn diese schlecht sind, dann geht das auch alle an. Die Finanzierungsmodi des Gesundheits- und Sozialsystems geraten geradezu notwendig in den Blick – ebenso wie die Rolle des Staates. Arbeitskämpfe im Sorgebereich werfen also fast notwendig grundlegende, gesamtgesellschaftliche Fragestellungen auf wie: Was bedeutet eigentlich gute Arbeit? Und was ist diese wert? Nach welchen Prinzipien sollte Arbeit und sollte Entlohnung gestaltet werden? Wie kann eine gesellschaftliche Werteverteilung gesichert werden, die genügend Mittel für existentiell notwendige Dienste der Daseinsvorsorge bereitstellt? Welche Aufgaben hat der Staat? Wo ist profitorientiertes Arbeiten (vielleicht) sinnvoll – wo ganz sicher nicht? Wie müssten Gelder und Ressourcen umverteilt werden, um die Gesellschaft solidarisch zu gestalten? Welche Alternativen gibt es zu einem neoliberal verfassten Gesundheitssystem – und zum kapitalistischen Wirtschaftssystem? In welcher Gesellschaft wollen wir leben?

Neue Streikstrategien

Die feminisierten Sorge-Kämpfe sind also häufig in einem umfassenderen Sinne »politisch« als »einfache« Lohnkonflikte. Sie müssen es jedoch vermutlich auch sein, denn ihre Machtressourcen sind tendenziell heikler als im Fall »klassischer Produktionsstreiks«. Neue Streikstrategien sind nötig und die Suche nach ihnen hat längst begonnen. Um die Problemlage nochmal kurz zu skizzieren: Traditionelle fordistische Streiks beziehen ihre Wirksamkeit daraus, dass einzelne oder auch großflächige Produktionsbereiche stillgelegt werden und dadurch eine ökonomische Schädigung des Produktionsmittelbesitzenden erreicht wird. In den feminisierten Berufsbereichen sozialer Dienstleistungsarbeit funktioniert dieses Verfahren nur bedingt – und zwar aus mehreren Gründen: Zunächst sind Dienstleistungen an Menschen im Krankenhaus und an Kindern in der Kita eben keine Produkte, die frau einfach mal so unproduziert lassen könnte. Denn die Einstellung der Sorgearbeit kann existenzielle Folgen für andere (am Konflikt Unbeteiligte) haben. Des Weiteren richtet der Streik möglicherweise nur wenig oder gar keinen ökonomischen Schaden beim Konfliktgegner an. Im Fall der S&EStreiks waren v.a. die Eltern betroffen, die die Betreuung ihrer Kinder anderweitig sicherstellen mussten. Die kommunalen Arbeitgeber waren kaum tangiert – und sparten im Extremfall sogar Geld ein, weil sie den Erzieherinnen die Streikzeiten vom Lohn abziehen konnten. Der Streik traf also gar nicht oder nur bedingt die ökonomisch Verantwortlichen. Daraus lässt sich lernen: Die klassischen Strategien fordistischer Produktionsstreiks lassen sich nicht einfach 1:1 auf Arbeitskämpfe im Bereich der sozialen Dienstleistungen übertragen. Sie müssen vielmehr auf ihre Passfähigkeit überprüft, ergänzt und z.T. revidiert werden. Dies geschieht bereits. Die sozialen Dienstleistungsbereiche sind ein Laboratorium der Suche nach neuen Kampfstrategien. An dieser Stelle soll stichpunktartig auf wesentliche Elemente der neuen Streikstrategien eingegangen werden: Zen-tral ist zunächst die Solidarisierung zwischen Streikenden und KlientInnen, also in den Kitas mit den Eltern, den Kindern, in Pflegeeinrichtungen mit den PatientInnen selbst, aber auch deren Angehörigen etc. Es geht um die Konstruktion und Verdeutlichung eines übergreifenden gemeinsamen Interesses (an guten Dienstleistungen), die im Rahmen des Streiks vertreten werden – und auch konkret um die Organisierung eines Arbeitskampfs, der die KlientInnen möglichst wenig schädigt, sondern »mitnimmt « und eine Solidarisierung offensiv ermöglicht. Zu diesem Zweck und auch für die Organisierung zielgenauer Streikstrategien, die den Interessengegner wirksam ökonomisch treffen, bedarf es teils neuer, auch rechtlicher Instrumente (z.B. Notdienstvereinbarungen, die verbindliche Betten-/Stationsschließungen im Fall rechtzeitiger Streikankündigung vorsehen; Revision von Betreuungsvereinbarungen, so dass Eltern nicht-betreute Zeiten ihrer Kinder bei den Kommunen regresspflichtig machen können etc.), in jedem Fall aber entwickelter basisdemokratischer Strukturen. Letztere sind zwar auch im Fall »traditioneller Produktionsstreiks « unabdingbar. In Bereichen, die »streik-ungewohnt« sind und in denen zugleich ein schnelles, flexibles und passgenaues Reagieren strategisch zentral und (für die Betreuten) existentiell notwendig sein kann, sind sie jedoch besonders wichtig. Die TarifberaterInnen an der Charité, das Teamdelegiertensystem an den Krankenhäusern der Entlastungsbewegung oder auch die Delegiertenversammlungen und die Mitgliederbefragung während des S&EStreiks sind Ausdruck der (bereits erfolgreichen) Suche nach solchen verstärkt basisdemokratischen Strategien. Dennoch bleiben die Machtressourcen im Fall der Dienstleistungsstreiks prekär – weshalb die Zusammenarbeit mit überbetrieblichen UnterstützerInnengruppen (Solidaritätskomitees etc.) und eine streikbegleitende Öffentlichkeits- und Medienpolitik besonders zentral ist. Schließlich geht es um gesellschaftlich relevante Forderungen – die deshalb auch in die Gesellschaft hineingetragen werden können und müssen. Klassische Organizingtechniken und Kampagnenarbeit eignen sich hier besonders als Instrumente – und in jüngster Zeit erweist sich auch die Initiierung von Volksentscheiden als ein Element im Werkzeugkasten, um originär gewerkschaftliche Kämpfe in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen und eine gesamtgesellschaftliche Mobilisierung zu bewirken.

Folgen für die Gewerkschaft

Welche Folgen haben nun aber die neuen weiblich geprägten Streiks für die – bislang ja doch noch immer dominant maskulinen – Gewerkschaften? Welche Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse treten auf, wenn feminisierte soziale Bewegungen in einem männlich dominierten Organisationsrahmen stattfinden? Zumindest für die Krankenhausstreiks lässt sich zunächst feststellen: ver.di gewinnt viele neue weibliche Mitglieder und auch Aktivistinnen. Dieser Effekt war allerdings bei den S&E-Streiks, mit seinen von vielen Beteiligten als wenig überzeugend wahrgenommenen Ergebnissen, weniger eindeutig. Und gerade der S&E-Streik von 2015 gemahnt in manchen Aspekten daran, dass sich die Gewerkschaften vielleicht noch nicht so weit vom 19. Jahrhundert entfernt haben, wie frau gerne glauben möchte: Etwa 90 Prozent der Streikenden waren 2015 Frauen. Etwa 75 Prozent der Anwesenden auf den Streikdelegiertenkonferenzen waren Frauen. Streikleitung und die Schlichtungskommission waren hingegen rein männlich besetzt. Das alte Muster ist also nach wie vor intakt: Frauenstreiks werden von Männern repräsentiert und an-geführt. Zugegebenermaßen mag der S&E-Streik ein etwas extremes Beispiel sein. Schließlich gilt bei ver.di (wie in den meisten deutschen Gewerkschaften) eine recht strenge Quotierungsregel und Frauen sind längst aufgerückt in gewerkschaftliche Führungspositionen. So lässt sich hoffen, dass die männliche Führung weiblicher Arbeitskämpfe wenigstens zukünftig immer mehr der Vergangenheit angehört. Für die symbolische Ebene vergeschlechtlichter kollektiver Deutungsmuster von »Streik« und Streikenden gilt jedenfalls: Das alte Bild von Frauen, die passiv am Rand des Geschehens stehen, ist abgelöst. Die streikende Erzieherin und die streikende Krankenschwester haben sich als neue Prototypen von kämpferischem Aktivismus im gewerkschaftlichen Bewusstsein etabliert – und lösen dort quasi die militanten Müllmänner und Stahlarbeiter der 1980er und 1990er Jahre ab.

Der neue symbolische Platz von weiblichen Arbeitskämpfen im gesellschaftlichen Bewusstsein korreliert mit einem deutlich gestiegenen Selbstbewusstsein der Frauen in den Betrieben. Eine langjährige Gewerkschaftsaktivistin und Hortleiterin beschrieb diesen Sachverhalt wie folgt: »Was interessant, auch im Vergleich zu 2009, war, woraus die Gewerkschaft ver.di, vor allem der Vorstand, auch die Tarifkommission gelernt hat, die haben uns mehr oder weniger in den 2009er Tarifabschluss hineingedrückt, mit der Empfehlung: Annehmen. Und uns gar nicht mehr groß informiert. Und da hat sich im 2015er Streik einiges geändert. Da hat man diese erstmalige Mitgliederbefragung, wo man dann komplett erschrocken ist, dass die Kolleginnen gesagt haben: ›Wir machen weiter‹. Damit hat die Gewerkschaftsspitze nicht gerechnet, von meinem Gefühl jetzt. Im Streik 2009 wurden wir noch geführt. Den Streik 2015 haben wir selbst in die Hand genommen«. Die zitierte Hortleiterin beschreibt einen kollektiven Lernprozess der Aktivistinnen, die sich zunehmend selbstbewusst innerhalb der Gewerkschaft verorten und ihre Arbeitskämpfe »selbst in die Hand« nehmen. Es geht also um eine Art innerorganisatorischen Emanzipationsprozess. Ganz ähnlich wirkt die Schilderung einer jungen Krankenschwester und Gewerkschaftsaktivistin aus dem Saarland während einer Veranstaltung im September 2018 in Berlin: »Also man muss klar dazu sagen, auch in der Gewerkschaft, gerade bei uns im Saarland ist es noch so, dass es sehr männlich geprägt ist. Aber wir hatten eine Situation im Juni an zwei Warnstreiktagen, da haben sich die Kolleginnen durchgesetzt und haben gesagt: ›Nein, so könnt ihr das nicht machen.‹ (…) Und wir waren dann an dem Punkt, wo wir das gegen den Sekretär durchgesetzt und gesagt haben: ›Du machst nicht das. Sondern das und das muss so erfolgen, ansonsten machen wir hier nicht mit.‹ Also es ist auch mittlerweile der Punkt, wo auch den Kollegen bei uns, also den männlichen Kollegen, klar ist, okay, wenn die Kolleginnen nicht mitziehen, dann stehen wir alleine da. Weil sie bilden den Großteil von uns.« Das klingt fast nach einem neuen weiblichen Aufbruch »von unten«, der – jenseits von Quotierung und gender mainstreaming – weibliche Subjektpositionen in den Gewerkschaften zunehmend selbstbewusst durchsetzt.

Folgen für die Frauen – und die Gesellschaft

Es wird also deutlich: Die feminisierten Streiks sind gleichzeitig Ausdruck und Quelle eines neuen Selbstbewusstseins von Frauen – am Arbeitsmarkt, in den Gewerkschaften, in der Gesellschaft. Dass dieses neue Selbstbewusstsein nicht nur die gewohnten geschlechtsspezifischen Hierarchien in den Gewerkschaften erschüttert, sondern – notwendig – auch diejenigen am Arbeitsplatz, soll an einigen Zitaten und konkreten Beispielen aus den Krankenhausstreiks gezeigt werden. So berichtet etwa die bereits oben zitierte Krankenschwester von ihren eigenen Streikerfahrungen: »Ich habe eine Kollegin gehabt, die hat gesagt: ‚Ich hatte den Arzt am Telefon. Ich habe innerlich gezittert. Der zu mir gesagt hat: ›Na ja, das Bett ist ja erst ab sechs Uhr morgen früh gesperrt. Da kann ich dir jetzt um zwölf noch jemanden hinlegen.‹ Und die gesagt hat: ›Ich hatte wirklich, ich hatte Angst, aber ich habe wirklich zu ihm gesagt: ›Wenn du das tust, dann rufe ich dich ab vier Uhr alle fünf Minuten an, bis du mir dieses Bett wieder leergeräumt hast.‹ Und dann habe ich einfach ganz schnell aufgelegt.‹ Aber es hatte zur Konsequenz, das Bett blieb leer. Das war eine jüngere Kollegin und eine ältere Kollegin, die hat die Arme verschränkt, als der Arzt gesagt hat: ›Ich brauche ein Bett.‹ Und die hat gesagt: ›Nein, die Betten sind gesperrt.‹ Und er dann mit Fingerzeig auf das Bett meinte: ›Na ja, ich sehe das Bett doch. Da ist es doch. Es ist leer.‹ Und sie hat sich vor ihn gestellt und hat gesagt: ›Und dieses Bett ist gesperrt, du legst da niemanden rein. Wir haben kein Bett.‹ Das sind so Punkte. (…) Das hättest du vor ein paar Jahren nicht gehabt, an dem Punkt wärst du nicht gewesen. Und daran merkt man einfach, ja, dass die Kolleginnen sich nicht kleinkriegen lassen und an einem Punkt sind, an dem erheben sie ihre Stimme.«

Die Beispiele verdeutlichen gut, dass Streiks notwendig immer einen Verstoß gegen alltägliche ›normale‹ Hierarchien und Anweisungsverhältnisse bedeuten. Sie setzen Routinen außer Kraft – und wirken dadurch subversiv auf etablierte Herrschaftsverhältnisse. Sie lassen das Potential an Veränderungsmöglichkeiten erahnen und sind im Keim daher utopische Momente. Sie revolutionieren zumindest ansatzweise und vorübergehend die Klassenverhältnisse – und im Fall feminisierter Streiks auch die Geschlechterverhältnisse.