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Interview mit Selin Yazıcı, Ahmet Yıldırım und Erbatur Çavuşoğlu über Raumkämpfe im Spiegel der Stadtbewegung.

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Die Stadtforscher*innen Selin Yazıcı, Ahmet Yıldırım und Erbatur Çavuşoğlu waren am 6. November 2018 zu Gast bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Urszula Wozniak sprach im Anschluss mit Ihnen über aktivistischen Widerstand in der Stadtpolitik der AKP-Regierung in der Türkei.

Seit Anbeginn der AKP-Regierung ist der Bausektor von zentraler Bedeutung für das wirtschaftliche und politische Leben in der Türkei. Inwieweit übertrifft das Ausmaß der so genannten «verrückten» Projekte der AKP sowie der Baupolitik als Ganzem die Raumpolitik der Vorgängerregierungen?

Erbatur Çavuşoğlu: Baupolitik und im weiteren Sinne Raumpolitik sind für die Türkei stets wichtige Instrumente zur Generierung von Kapital gewesen. Als ein sich vergleichsweise spät entwickelndes, nach Wachstum strebendes Land kann die Türkei ihren Bürger*innen lediglich begrenzte Mittel für Lebensunterhalt und Wohlstandssteigerung anbieten. Gerade deshalb sind Raumpolitiken sowie Reproduktion und Verteilung von Raum von entscheidender Bedeutung.

Bis etwa 1950 war die Türkei eine ländlich gepägte Gesellschaft. Zu jener Zeit wurde staatlicher Grundbesitz an landlose Dorfbewohner*innen verteilt. Nach 1950 pochten Regierungen hingegen darauf, eine städtische, konsumorientierte Mittelschicht zu schaffen, ohne dass dabei den neuen Städter*innen eine Grundversorgung mit Dingen wie Arbeit, Wohnen, Gesundheit und Bildung gewährleistet worden wäre. Um allerdings den Bausektor am Laufen zu halten, ließ man in dieser Hinsicht den breiten Massen auf der Suche nach eigenen Lösungen freie Hand. Die Besetzung öffentlichen Grundes an den Stadträndern ist ein Beispiel für die Umverteilung von Raum in jener Phase. Angesichts des neoliberalen politischen Kurses nach 1980 reichten die Realeinkommen der städtischen Mittelschichten kaum mehr zum Leben. Am Verbleib dieser Gruppen innerhalb des Systems interessiert, erließen Regierungen Bau-Amnestien, durch die der Bau von bis zu vier Stockwerken auf städtischen Grundstücken erlaubt wurde. So wurde mithilfe von Bau- und Raumpolitik ein neuer Wirtschaftszyklus angestoßen.

Die Regierungsübernahme durch die AKP folgte abermals auf eine Wirtschaftskrise. Auch sie sah in der Raumpolitik ein probates Mittel, um sich die Zustimmung der Massen zu sichern. Daraufhin war zu beobachten, wie sowohl in ländlichen als auch städtischen Regionen alle Grundstücke ausnahmslos in den Immobilienmarkt eingegliedert wurden. Egal ob Parks, Wälder, Küsten, Wasserreservoire, Industriegebiete, Wohngebiete, Schulen oder Krankenhäuser, alles wurde niedergewalzt und musste riesigen Bauvorhaben weichen. Über die Produktion von Raum konnten sich Grundbesitzer*innen im System halten und zu Reichtum gelangen.

So knüpfte die AKP mit der Fortsetzung von Reproduktion und Umverteilung von Raum als Strategie zum Ausbau der eigenen Legitimität zwar an eine Tradition an. Dabei hat der Bausektor jedoch ein ungeheures Ausmaß erreicht, was mit einer deutlich dramatischeren Zerstörung von Natur und historischem Erbe ebenso wie der Ausbeutung von Arbeitskraft einherging.

Viele sozial benachteiligte Nachbarschaften in Istanbul und anderen Städten der Türkei sind Schauplatz der so genannten städtischen Transformation («kentsel dönüşüm»), ihre Bewohner*innen werden zumeist zwangsvertrieben. Seit vielen Jahren kämpft eine Reihe von Nachbarschaftsorganisationen gegen diese Entwicklungen an. Welche Beispiele des Widerstandes nähren Dich mit Hoffnung?

Selin Yazıcı: Während Prozesse zur Umgestaltung der Städte in den letzten 15 Jahren in der Türkei einerseits regelrecht aufgezwungen wurden, ist andererseits zu beobachten, dass sich soziale Bewegungen die Forderungen nach einer Demokratisierung der (Re-)Produktion von Raum und nach direkter Teilhabe an diesen Prozessen zusehends auf die eigenen Fahnen geschrieben haben. Ein Beispiel, das mich besonders hoffnungsvoll stimmt, ist die Stadtviertelvereinigung (Mahalleler Birliği). Die Vereinigung ist eine Plattform aus Dutzenden Stadtviertelvereinen und -kooperativen aus Istanbul, Izmit, Izmir und Eskişehir, die gemeinsam für ihre Rechte eintreten. Dies betrifft sowohl die rechtliche Sicherheit in den Wohnvierteln als auch die als auch die Tatsache, dass die Projekte zur Stadterneuerung die Bewohner*innen der Viertel ignorieren. Aus den partnerschaftlichen Beziehungen innerhalb der Stadtviertelvereinigung, die auf Gleichstellung und Gleichwertigkeit fußen, können die Viertel gemeinsam Kraft schöpfen. Sie setzen ihren auf lokaler Basis begonnenen Einsatz für Gerechtigkeit unterdessen auch auf nationaler Ebene fort.

Sehr hoffnungsvoll ist auch das Beispiel des Widerstandes der Bewohner*innen von Artvin gegen das Bergbauvorhaben in Cerattepe, mit dem diese „nicht nur die Natur, sondern einen ganzen Lebensraum“ zu schützen suchen. Wieder andernorts, in Düzce, blicken wir auf Mieter*innen, die durch das Erdbeben ihre Viertel und Wohnungen verloren haben und nun ihr Recht auf gesunden und sicheren Wohnraum geltend machen wollen. Während so auf der einen Seite Stadtviertel samt ihres jahrzehntealten kulterellen Erbes zerstört werden, sprießt auf der anderen Seite mit den so genannten Hoffnungshäusern in Düzce (Düzce Umut Evleri) ein Wohnprojekt hervor, bei denen Planung und Entwurf der Viertel und Wohnungen in den Händen derer liegt, die letztendlich dort wohnen sollen. Die Hoffnung mag in diesen schwierigen Zeiten manchmal schwer zu finden sein, aber wo es Menschen und Leid gibt, sind Kampf und Hoffnung letztlich unvermeidlich.

Die im Juni 2015 einsetzenden, monatelang andauernden Militäroperationen haben ganze Straßenzüge und Viertel mehrerer Städte im Südosten, darunter der historischen Altstadt von Diyarbakir (Suriçi), dem Erdboden gleichgemacht. Ist es Sarkasmus, in diesen Militäroperationen einen Vorwand für urbane Transformation zu sehen?

Ahmet Yıldırım: Mit Blick auf Analysen, welche die Problematik von Intervention und Widerstand im städtischen Raum aus historischer Perspektive beleuchten wollen, lässt sich feststellen, dass überwiegend die Klassenfrage im Vordergrund steht (Lefebvre, Harvey).

Wie aus Ihrer Frage schon hervorgeht, sind Eingriffe in die Städte heutzutage aber stärker von städtischer Transformation getrieben. Ohne klassenbasierte und kapitalistische Hierarchien aus den Augen zu verlieren, müssen wir festhalten, dass wir bei den 2015 einsetzenden Eingriffen in die historische Altstadt von Diyarbakır mit einer viel tiefliegenderen Tatsache jenseits dieser Fragen konfrontiert sind. Die in der Zerstörung der Altstadt resultierenden Operationen hatten weder den Umgang mit Klassenwiderstand noch die Schaffung neuer Märkte durch die Herrschenden zum Zweck. Was in Sur passiert ist, kommt einer Fortsetzung des auf verschiedenste Weise durchgeführten Massakers gegen die ethnische Gruppe der Kurd*innen und ihr Lebensumfeld gleich. Der dortige Eingriff der Türkei hat auch nichts mit klassischer Sicherheitspolitik zu tun. In Sur sind wir vielmehr Zeug*innen eines Urbizides auf ganzer Linie geworden. Klassische Definitionen von Interventionen in den Raum reichen nicht aus, um das zu erklären. So gesehen verdient Sur eine neue theoretische Diskussion und Begriffsbestimmung.

Ahmet Davutoğlu versprach im Februar 2016, dass Sur nach seinem Wiederaufbau «wie Toledo werden» würde. Welche Art von Wiederaufbau hat Sur de facto erlebt, und welches Verständnis von kulturellem Erbe liegt dem zu Grunde?

Ahmet Yıldırım: Die Abrissarbeiten in den Jahren 2015 und 2016 erstreckten sich nicht nur über die durch die bewaffneten Auseinandersetzungen beschädigten Gebiete, sondern umfassten auch unbeschädigte Orte, ja gar Orte, die von den Gefechten überhaupt nicht betroffen waren. Der von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannte Nordosten von Suriçi, der auf eine Geschichte von Tausenden von Jahren zurückblicken kann, wurde dem Erdboden vollständig gleichgemacht. Zwei Ziele wurden dadurch verfolgt: Neben den Spuren des Massakers wollte man gleichzeitig auch die Wurzeln der Geschichte beseitigen. An ihre Stelle wurden und werden zum einen betonierte und asphaltierte Alleen gebaut, die die Hässlichkeit der kapitalistischen Moderne zur Schau stellen. Zum anderen werden große befestigte Gendarmeriestationen aus dem Boden gestampft. In Sur gibt es eine Straße, die der teuersten Allee von Paris, dem Champs Élysées, sehr ähnelt. Letzterer war einst der Ort, an dem das Herz der Pariser Kommune schlug. Durch ein Projekt des damaligen Pariser Präfekten Haussmann, von dem insbesondere das Kapital profitierte, wurden die kleinen Straßen, die auf den Champs Élysées führten, in breite Straßen und Alleen verwandelt, um so der Errichtung von Barrikaden ein für alle Mal den Riegel vorzuschieben. Wahrscheinlich ist es das, was Ahmet Davutoğlu, der während der Urbizide in Kurdistan das Amt des Premierministers innehatte, im Sinn hatte, als er versprach, dass Sur wie Toledo werden würde.

Zusammen mit dem Center for Spatial Justice (Mekanda Adalet Derneği, MAD) arbeitet ihr derzeit an einem Buch, welches die Gerichtsverfahren gegen den dritten Flughafen dokumentiert. Was kann legaler Widerstand gegen ein staatlich subventioniertes Mammutprojekt wie den dritten Flughafen leisten in einem Land, in dem der Rechtsstaat derart bröckelt?

Selin Yazıcı: Legaler Widerstand allein reicht zur Verteidigung der Rechte nicht aus. Der springende Punkt ist hier, ob legaler Widerstand eines unter vielen Instrumenten einer breiteren gesellschaftlichen Opposition ist oder nicht. Das heißt, dass sich unser Einspruch gegen derlei Projekte nicht an der Frage der Rechtskonformität orientieren sollte. Vielmehr sollte es darum gehen, die Selbstorganisierung von Menschen ins Zentrum zu stellen, somit eine breitere gesellschaftliche Opposition zu bilden und dabei das Recht als ein Instrument dieser Selbstorganisierung zu begreifen. Denn sobald wir Widerstand über das Prinzip der Rechtskonformität artikulieren, stellt sich die Frage, ob «was rechtens ist, auch immer gerecht ist». Dass etwas gesetzlich unproblematisch ist, bedeutet nicht zwangsläufig, dass es auch gerecht ist. Weil das Recht eines der Mittel von Gruppen ist, die sich um die Forderung nach Gerechtigkeit herum organisieren (Widerstand gegen städtische Transformation, Widerstand gegen verschiedene Energieprojekte, die Natur und Lebensraum zerstören etc.), sind rechtliche Auseinandersetzungen dennoch wichtig. Das schließt Bemühungen von Bürger*innen mit ein, die Bürgerklage als ein Rechtinstrument zu mobilisieren. Im Kampf gegen Entwicklungsprojekte, die sich schädlich auf Menschen und Leben in der Stadt ebenso wie in der Natur auswirken, ist die Popularklage ein wichtiges Mittel, um die eigenen Rechte einzufordern. Selbst wenn das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit irgendwann durchgesetzt sein und auf Demokratisierung hingearbeitet werden sollte, gilt es für uns weiter, uns in rechtlichen Fragen auszukennen und gegen Ungerechtigkeit anzukämpfen. Mit dem Buchprojekt «Mit Bürgerklagen zu räumlicher Gerechtigkeit» zielt das MAD darauf ab, solche Erfahrungen zu sammeln, diesbezügliches Wissen zu produzieren und zu verbreiten sowie die Grenzen und Perspektiven des legalen Widerstands aufzuzeigen. Auf diese Weise wird ein bescheidener Beitrag in Hinblick auf die Zukunft geleistet.

Am 6. November 2018 waren Selin Yazıcı, Ahmet Yıldırım und Erbatur Çavuşoğlu zu Gast in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin:

Fass meine Stadt nicht an! Raumkämpfe im Spiegel der Stadtbewegung

Es handelte sich um eine Veranstaltung der Salongesprächsreihe «Brave New Turkey?» Laboratorien, Krisen und Widersprüche der «Neuen Türkei» — «Yeni Türkiye» de deneyimler, krizler ve çelişkiler

Wer sind die Profiteur*innen der so genannten urbanen Transformation, aber auch der in Naturgebieten umgesetzten Projekte der letzten 15 Jahre?

Erbatur Çavuşoğlu: Die Türkei schneidet bei der Produktion in Bereichen wie Landwirtschaft, Industrie, Tourismus, Finanzen und Kultur äußerst schwach ab. Die Wirtschaft des Landes hängt einzig und allein von der Baubranche ab. Deswegen misst ihr die Regierung auch so große Bedeutung bei. In gleichem Maße wie die AKP-Regierung die Baubranche kontinuierlich fördert, hat sie diese vollständig der eigenen Kontrolle unterworfen. Die Partei nutzt die staatliche Wohnungsbaubehörde TOKI sowie selbst gegründete und eigens kontrollierte Bauunternehmen zur Realisierung von Planung und Bau. Dank dieser Mittel vermag die AKP festzulegen, welche Gebiete an Wert gewinnen oder verlieren und wer an der Produktion und Verteilung des so entstehenden Reichtums beteiligt werden soll. Deshalb befinden sich unter den Profiteur*innen  in erster Linie Unternehmen in den Händen der Führungskader der AKP-Regierung, dann das der Parteiführung treu ergebene Kapital sowie schließlich Grundbesitzer*innen, die einen eigenen Anteil innerhalb dieses Systems herauszuschlagen versuchen. Auch einfache Bürger*innen, die sich auf Basis ihrer Realeinkommen kaum noch über Wasser halten können, können über Beteiligung an dem im Rahmen der Projekte zur städtischen Transformation generierten Reichtum kleine Gewinne verbuchen. Man kann eigentlich von einer kolossalen Bau-Sekte sprechen, die in Form einer Pyramide aufgebaut ist. Während diejenigen an der Spitze enorm profitieren, müssen sich jene an der Basis mit relativ geringeren Anteilen begnügen.