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Rezension von: Bernd Riexinger, «Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen»

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Mario Candeias,

Bernd Riexinger (Foto: Ben Gross)
Foto: Ben Gross

«Während ich aus einem Arbeiterhaushalt komme und fast mein ganzes erwachsenes Leben inmitten der Auseinandersetzungen der realen Arbeiter*innenklasse verbracht habe, wird mir nun im Feuilleton diverser Zeitungen vorgeworfen, die Arbeiterklasse… zu vernachlässigen» (78), wundert sich Bernd Riexinger. Dies gehört zu den Absurditäten der gegenwärtigen Debatte um Klassen. Da wird in der Debatte doch allzu häufig die «Linke mit der Sozialdemokratie gleichgesetzt» (87), teilweise auch in den eigenen Reihen. Distinktions- und Machtkämpfe. Dabei ist schon unklar, wie die Arbeiterklasse heute eigentlich aussieht. Eine Klassenanalyse dürfe nicht «die Vielgestaltigkeit des ‹gesellschaftlichen Gesamtarbeiter›», die Veränderungen der Klasse, die Analyse «internationaler oder geschlechtlicher Arbeitsteilung» außen vor lassen, kein «monolithisches» oder reduktionistisches Bild der Arbeiterklasse zeichnen (86).

«Wer vor dem Neoliberalismus an Klassenkampf dachte, hatte eher Stahl- und Industriearbeiter vor Augen. Heute sind die Gesichter der sozialen Kämpfe weiblicher und migrantischer geworden. Sie arbeiten in Branchen, die lange Zeit als ‹unorganisierbar› galten», v.a. im Dienstleistungssektor, sie verfügen über eine besserer Bildung und Ausbildung als ihre Eltern. «Viele haben einen akademischen Hintergrund, etliche sind Arbeiterkinder oder Kinder von Migrant*innen.» (88) Und doch sind sehr viele von ihnen quer zu den Qualifikationsniveaus prekär, ohne direkte «Produktionsmacht» (10). Ausführlich belegt Riexinger die Veränderungen von Produktions- und Arbeitsverhältnissen und ihre gravierende Auswirkungen für die Neuzusammensetzung der Klasse.

Analyse vor dem Hintergrund tiefer Erfahrung - Kämpfe um die Arbeit

In gewisser Weise ist diese Umwälzungen im «Bauch der Produktionsweise» in Bernd Riexingers politische Biografie eingeschrieben. Von seiner Zeit als Lehrling über seine Gewerkschaftsarbeit bei der HBV und später Verdi bis zum Co-Vorsitz bei der Partei DIE LINKE. Entsprechend sind überall Erfahrungen eingeflochten, Geschichten von Einzelnen, und von gemeinsamen Niederlagen und Kämpfen. Keine Anekdoten, sondern wichtige Ausgangspunkte für Analyse und strategische Reflektion aus der Mitte der Organisierung der realen Kämpfe.

Der Ort der avanciertesten Kämpfe hat sich dabei verschoben, «Die Streikbewegungen folgen der veränderten Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse. Sie verschieben sich in den Dienstleistungssektor, erfassen nach und nach Branchen, die neu entstanden oder stark gewachsen sind, ihre Akteure werden weiblicher und migrantischer. Sie widerlegen, dass sich klassische Büroangestellte oder prekär Beschäftigte nicht organisieren und kämpfen können.» (118) Detailliert werden Arbeitskämpfe, Streikstrategien und Streikpraxis in unterschiedlichen Dienstleistungsbereichen wie Banken, Handel, Sozial- und Erziehungsdiensten, Krankenhäusern, dem Dienstleistungsproletariat in der Logistik (Amazon) und anderen Bereichen des digitalen Plattformkapitalismus oder beim Kampf um Arbeitszeit bei der IG Metall nachgezeichnet. Wie ein roter Faden ziehen sich dabei die Fragen der Demokratisierung gewerkschaftlicher Kämpfe und Organisierung durch, die Riexinger in seiner Zeit in Stuttgart mit den Kolleg*innen beispielhaft entwickelt hat. Um nicht missverstanden zu werden, schickt Riexinger voraus: «Arbeitskämpfe sind sicher nicht der alleinige Ausdruck von Klassenauseinandersetzungen, aber doch ein wichtiger.» (93)

Kämpfe um die Reproduktion

«Die fortschrittlichsten Teile der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung haben immer das gesamte Leben in den Blick genommen… Ob die Wohnung bezahlbar ist, ob es eine schnelle U-Bahn-Verbindung zur Arbeit oder einen Bus vom Land in die Stadt gibt, ob die Kinder gut versorgt sind und ihnen gute Bildung zugänglich gemacht wird, ob für humane Pflege im Alter, ein patient*innenorientiertes Gesundheitssystem, saubere Luft, Wasser, Energie gesorgt ist: Diese Fragen der Reproduktion oder… der öffentlichen Infrastruktur spielen» eine bedeutsame Rolle. Und wie eine solche öffentliche Infrastruktur beschaffen und finanziert werden soll ist eben Gegenstand von Verteilungs- und Klassenkämpfen (11f).

Dabei gilt es «den Blick auf die Lohnabhängigen als ‹ganze Menschen› und damit auch auf ihre Lebensweise» und vielfältige Interessen zur richten (89): Dies impliziert einen anderen Interessenbegriff. Denn die Einzelnen haben vielfältige Interessen. Teilweise sind diese gegensätzlich, die Widersprüche gehen mitten durch die Subjekte. Insofern sind Interessen nicht «objektiv» gegeben, sondern werden in Auseinandersetzungen permanent geformt, im besten Fall gemeinsam. Entsprechend vielfältiger sind auch die Kämpfe.

Dennoch werden soziale Frage und «kulturelle» Fragen häufig gegen einander gestellt, obwohl sie «im Alltagsleben miteinander verbunden sind: Wie wir arbeiten und leben und dabei fühlen, denken, lieben, trauern, Erniedrigung, Diskriminierung, Gewalt und Macht erfahren, uns dabei schämen, hilflos und wütend fühlen» (89). Es gilt sich vorzusehen vor einer «verkürzten Liberalismuskritik», die die politische Auseinandersetzung noch gegen einen mit dem «Neue Mitte» Diskurs von Schröder und Blair verbundenen sozial-liberalen Kurs verbindet, sozusagen den neoliberalen Entwendungen wichtiger Errungenschaften von Frauen-, LGBT-, Antirassismus-, Ökologie- und anderen Bewegungen. Denn längst haben sich die «Linien der Auseinandersetzung» verschoben: Inzwischen geht es um einen autoritären Kapitalismus, der ganz umfassend liberale wie soziale Rechte einer solidarischen und demokratischen Lebensweise angreift. Statt falsche Gegensätze zu reproduzieren ist es «die Aufgabe der Linken, mit einer antirassistischen, feministischen, und emanzipatorischen Klassenorientierung die Potenziale der heutigen Gesellschaft für ein selbstbestimmtes Leben, die das Bürgertum nur als Freiheiten für wenige verwirklichen kann, für alle Menschen zu erkämpfen» (91). Die Stärke der gesellschaftlichen Mobilisierungen um das Öffentliche oder ums Wohnen, für Antirassismus und Antifaschismus, für Emanzipation aller sind Elemente des Klassenkampfes, um «alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes… Wesen ist» (MEW 1, 385). Für Riexinger ist dieser bunte Klassenkampf nicht nur eine harte und bittere Auseinandersetzung, vielmehr haben ihn die vielen an der Organisierung der Kämpfe Beteiligten gelehrt, «wie sehr Solidarität und Lebensfreude zusammengehen» können (12).

Spaltung und Gemeinsames

Riexinger geht dabei von der Differenzierung, Segmentierung, ja Spaltung der Arbeiter*innenklasse aus, alles andere wäre naiv. Die Differenzierungen verlaufen entlang der Stellung im Produktions- und Reproduktionsprozess, entlang beruflicher Identitäten, geschlechtlicher, oder ethno-nationaler (Selbst)Zuschreibungen, von Konsum- und Lebensweisen, von Stadt und Land etc. Auf Basis von Differenzen innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen, werden gesellschaftliche Hegemoniekämpfe ausgetragen, die zu Spaltungen, zu Fraktionierungen führen, indem Teile der Arbeiter*innenklasse in unterschiedlicher Weise in Herrschaftsprojekte integriert werden. Als einem der stärksten Spaltpilze verweist Riexinger auf die «enge Verbindung von Rassismus und ‹Klassenpolitik von oben›», bezieht sich auf Theorien des Verhältnisses von «Rasse, Klasse und Nation» (bei Stuart Hall, Balibar und Wallerstein, 87).

Dagegen setzt Riexinger die Erfahrung: Migrant*innen «bildeten vielfach das Rückgrat der gewerkschaftlichen Kämpfe, insbesondere in den wilden Streiks 1969 und 1971. …Voraussetzung dafür war, dass die damals so bezeichneten ‹Gastarbeiter› in die Tarifverträge einbezogen wurden. Ihre arbeitsrechtliche Gleichbehandlung war eine Grundlage» um sie in gewerkschaftliche Auseinandersetzungen einzubeziehen (21). Der Autor fordert auf, Geflüchtete und Migrant*innen als Teil er Klasse, als tätige Subjekte zu betrachten, «mit ihnen zusammen für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne zu kämpfen», für soziale Rechte für alle (81). Und er macht dies praktisch anhand der Streikbewegungen etwa im Handel, die er selbst organisiert hat. Der gewerkschaftliche Kampf wird verbunden mit politischen Initiativen, die einem Dreiklang folgen:

  1. Fluchtursachen bekämpfen;
  2. soziale Offensive für alle, d.h. ein ehrgeiziges Investitionsprogramm;
  3. Willkommens- und Integrationspolitik einschließlich der Schaffung sicherer Fluchtwege.

«Wer sagt, diese Position sei ‹naiv›, weil sie an den aktuellen Kräfteverhältnissen scheitert, gibt letztlich den Anspruch auf gesellschaftliche Veränderung auf.» (79) Immerhin wäre eine solche soziale Offensive für alle deutlich billiger als die Bankenrettung von 2018, die auf 236 Milliarden Euro kam (81). Andere gesellschaftliche Verhältnisse durchzusetzen, um eine solidarische Einwanderungsgesellschaft zu realisieren, weist für Riexinger «über die notwendige und richtige antirassistische Haltung hinaus», ist praktische, verbindende Klassenpolitik (85).

Die Formierung gemeinsame Interessen ist auch «Ansatzpunkt für eine solidarische Klassenpolitik» zwischen unterschiedlichen Segmenten der Arbeiterklasse: In diesem Zusammenhang versteht Riexinger Prekarisierung in Anlehnung an Marx als Auseinandersetzung um «den gesellschaftlich durchschnittlichen Wert der Ware Arbeitskraft», «als Versuch die Standards» von Teilhabe und Absicherung abzusenken (71), Druck auf das gesamte Lohnniveau und die Arbeitsbedingungen in allen Bereichen auszuüben. Die noch gut-situierten Teile der Lohnabhängigenklasse oder die sogenannten «Stammbelegschaften können (daher) kein Interesse an der wachsenden Prekarisierung haben. Es gibt ein gemeinsames Klasseninteresse» - dieses zu «formulieren und dazu gewerkschaftliche und politische Praxiserfahrungen zu organisieren, ist die Aufgabe moderner Klassenpolitik» (71). Dabei werde oft «übersehen oder unterschätzt, dass auch die Technisierung und Computerisierung der Arbeit in den meisten Branchen» - auch in den Dienstleistungen oder Verwaltungen - «zu ähnlichen Entwicklungen führt»: «Leistungsdruck und Dauerstress» (42f) produzieren eine gemeinsame Klassenlage der ausgebeuteten «Hamster» im Laufrad verdichteter und flexibilisierter Arbeit.

Ein gemeinsames Interesse ist auch für den Bereich der öffentlichen Infrastruktur und des Sozialstaates zu finden und zu formulieren: denn der Druck zur Absenkung sozialstaatlicher Leistungen wirkt sich nicht nur auf Hartz-IV-Bezieher*innen aus, sondern auf alle Lohnabhängigengruppen und drückt noch einmal den Wert der Arbeitskraft durch absenken des sogenannten «zweiten Lohnes». Überdies zeigen Untersuchungen, dass nicht die Armen oder Prekären, sondern vor allem die sogenannten Mittelschichten am meisten vom Sozialstaat profitieren. Das würde jedoch bedeuten, dass «die verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen ein großes gemeinsames Interesse an gut ausgestalteten Sozialsystemen, einer gut ausgebauten öffentlichen Daseinsvorsorge» haben (74).

«Erfahrung organisieren»

Das ist kein Selbstläufer, sondern bedeutet mühsame und langfristige Organisierungsarbeit - auch die Erfahrung von Konflikten zu organisieren: «Sobald Menschen ihre Interessen… formulieren und sich organisieren, um sie durchzusetzen, stoßen sie auf den Widerstand anderer Klassen» (125) - Dies ist der Moment wo ein entwickelter und inklusiver Klassenbegriff von Nutzen sein kann, solidaritäts- und identitätsbildend Haltungen stärken kann, «wenn deine Geschichte auch meine ist…», so Riexingers Freund und Theaterregisseur Volker Lösch (126). Klasse zu denken hilft auch bei der Gegnerbestimmung. «Dramatisiert die soziale Gerechtigkeit» (Lösch) und die gesellschaftliche Lage (127)!

Ein schlichtes Nebeneinander ungleichzeitig geführter Kämpfe ist «kein ausreichendes Instrument». Nötig ist sie «zu verallgemeinern, auszudehnen, zu koordinieren, die Kräfte besser zu bündeln, zu politisieren» (119), auf ein gemeinsames Projekt hin zu orientieren: Riexinger schlägt dafür die Idee eines Neuen Normalarbeitsverhältnisses vor, einen «Kampf für eine grundlegende Veränderung der Arbeitswelt» als «das Herz einer verbindenden Klassenpolitik» (128). Er formuliert im Anschluss an seine Erfahrungen mit Kolleg*innen aus allen möglichen Bereichen Ansprüche, «die unter den gegenwärtigen Bedingungen der Produktivkraftentwicklung, des erwirtschafteten Reichtums und vorhandenen Möglichkeiten als selbstverständlich», als «normal» gelten müssten (130) - eine neue «moralische Ökonomie der Arbeiterklasse» (E.P.Thompson).

«Es gibt auch in einer gespaltenen Arbeitswelt gemeinsame, von einer großen Mehrheit der Beschäftigten geteilte Ansprüche» an gute Arbeit und ein gutes Leben, wie etwa auch der DGB-Index «Gute Arbeit» ein ums andere mal nachweist (130). Dynamik gewinnt die Idee eines Neuen Normalarbeitsverhältnis nur, «wenn das Ganze in den Blick genommen wird… ein Horizont einer neuen Beziehung zwischen Arbeit und Leben» (139). Stichworte sind kurze Vollzeit für alle (131), Zeitsouveränität, mehr Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie, eine Kampagne für 100.000 Pflegekräfte, aber auch eine Mietenkampagne, der Kampf ums Öffentliche, ein sozial-ökologischer Umbau als ökologische Klassenpolitik. Alex Demirovic zitierend weist Riexinger darauf hin, die Linke müsse alle Aspekte der Lebens- oder Existenzweise «der verschiedenen Teile der Klasse im Blick haben und kritisch als Themen und Folgen der kapitalistischen Form der gesellschaftlichen Arbeit und privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums ansprechen» (156).

«Der Gebrauchswert einer sozialistischen verbindenden Partei besteht darin» in diesen harten gesellschaftlichen Klassenauseinandersetzungen, «als eine im Alltag verankerte Organisierung der ‹gesamten Klasse› mit ihren verschiedenen Gesichtern» (158) zu fungieren, eine Partei, die diese Vielfalt der Klasse aktiv repräsentiert, organisierend tätig ist, von den Einzelnen angeeignet wird - die ermächtigt. Nicht die Einheit der Klasse ist das Ziel, vielmehr die Verbindung ihrer unterschiedlichen Teile und vielfältigen Interessen, bei Respekt und in Anerkennung von Differenz.

Die dichte Verknüpfung von realen Klassengeschichten, analytischem Tiefgang, reicher Erfahrung und strategische Reflexion weisen dieses Buch als Wurf eines organischen Intellektuellen ganz im Sinne Antonio Gramscis aus.
 

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

 

Bernd Riexinger
Neue Klassenpolitik - Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen


160 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 978-3-89965-827-9
VSA: Verlag Hamburg 2018