Bernard Schmid lebt in Paris, arbeitet als Anwalt und freier Autor für verschiedene deutschsprachige Medien. Mit ihm sprach Nelli Tügel, Redakteurin der Tageszeitung neues deutschland. Im Dezember 2018 war sie in Frankreich, in Paris wie auch in der Provinz, um über die Gilets Jaunes zu berichten.
Nelli Tügel: Seit inzwischen über vier Monaten protestieren Woche für Woche die Gilets Jaunes. Viele Linke in Deutschland haben den Eindruck: Erst war die Bewegung heterogen und politisch unbestimmt, dann wurde sie durch die Beteiligung von Linken und Gewerkschaftern nach «links» gerückt. Kann man das so sagen?
Bernard Schmid: Es hat tatsächlich eine Verschiebung im Laufe der Wochen stattgefunden, maßgeblich wegen der stärkeren Beteiligung von Gewerkschaftern. Am 6. Dezember 2018 rief erstmals eine branchenübergreifende Gewerkschaftsorganisation explizit zur Teilnahme an Demonstrationen der Gilets Jaunes auf, die Union Syndicale Solidaires ein Zusammenschluss linker Basisgewerkschaften (SUD u.a.). Zuvor waren es überwiegend lokale Gewerkschaftsgliederungen, die an den Demonstrationen teilnahmen, und dies vor allem in westfranzösischen Städten wie Rennes, Nantes oder Toulouse.
Weil die Linke dort stärker ist, nicht wahr?
Genau. In Westfrankreich ist das Gewicht der extremen Rechten innerhalb der sozialen Unterklassen erheblich schwächer als in Nordost- und Ostfrankreich. Wobei es in Ostfrankreich auch einen linken Pol innerhalb der Protestbewegung gibt, mit den auch in Deutschland bekannt gewordenen Versammlungen in Commercy in der Nähe von Nancy. Dort fand am 26. und 27. Januar 2019 ein landesweites Vernetzungstreffen statt. Eine Folgeversammlung wird es am 5. bis 7. April in Saint-Nazaire in Westfrankreich geben.
Die Dachverbände der Gewerkschaften hielten sich unterdessen zunächst bedeckt oder explizit von der Bewegung fern.
Am 5. Februar 2019 gingen ja dann aber der Gewerkschaftsbund Confédération générale du travail (CGT), Gilets Jaunes und andere Teile des Protestspektrums gemeinsam auf die Straße. Änderte sich die Bewegung damit endgültig?
Nicht unbedingt. An dem heterogenen und politisch unbestimmten Gesamtcharakter dieser Bewegung hat sich nicht grundsätzlich etwas geändert. Es gibt jetzt eine stärkere Teilnahme von Linken und von Gewerkschaftsmitgliedern. Doch nach wie vor befinden sich neben progressiven und gewerkschaftlichen Kräften, Autonomen und unzufriedenen Angehörigen des Kleinbürgertums auch militante Faschisten sowie eine bedeutende Anzahl von Verschwörungsgläubigen in dieser Protestbewegung.
Dazu passt, dass immer wieder verschiedene Teile der Gilets Jaunes aufeinander losgehen. An einigen Orten wurden Nazis und Antisemit*innen von Demonstrationen geprügelt. Dann wieder wurde beispielsweise die prominente Gilet Jaune Ingrid Levavasseur angegriffen auf einem der Samstagsproteste, weil sie eine Europawahlliste angekündigt hatte.
Von Anfang an war die Bewegung ein Kampffeld, auf dem Auseinandersetzungen um politisch-ideologische Hegemonie geführt wurden. Dabei treten organisierte politische Strömungen, vor allem Parteistrukturen, nicht offen auf. Sonst würde an sie sofort der Vorwurf der «Vereinnahmung» (récupération) gerichtet, was im Übrigen auch nicht neu ist. Den Vorwurf hat es bereits im Mai 1968 gegeben, wenn auch in einem gänzlich anderen Kontext.
Das bedeutet aber nicht, dass Parteien nicht vor Ort präsent wären, mit Basismitgliedern, manchmal auch mit auf kommunaler Ebene gewählten Vertreter*innen. Das war in den ersten Wochen eher auf der rechtsextremen Seite der Fall. Seit Januar 2019 sind, jedenfalls an vielen Örtlichkeiten, bei den samstäglichen Demonstrationen eher Linke wahrnehmbar. Priscillia Ludosky, eine der exponierten Vertreter*innen der Gilets Jaunes, die zu den progressiven oder jedenfalls eindeutig nichtrassistischen Teilen gehört, kritisierte Ende Februar wiederum La France Insoumise, die Partei von Jean-Luc Mélenchon, für deren in ihren Augen plumpe Vereinnahmungsversuche.
Und das Wahllistenprojekt um Ingrid Levavasseur wurde durch die Mehrzahl derer, die auf die Straße gehen, ebenfalls als Vereinnahmungsversuch für werdende oder Möchtegern-Berufspolitiker*innen oder Karrierist*innen betrachtet und stieß auf viel Ablehnung.
Lass uns noch kurz bei der Gewalt bleiben. Erst einmal ist da ja die unglaubliche Polizeigewalt. Libération berichtete schon Anfang Januar unter Berufung auf das französische Innenministerium von etwa 50 Schwerverletzten unter 1700 verletzten Gilets Jaunes. An jedem der Protestsamstage werden Tränengas und Hartgummigeschosse eingesetzt. Der Acte 13 am 9. Februar 2019 stand deshalb auch im Zeichen der Polizeigewalt, der Demonstrationszug in der Hauptstadt wurde von bei den Protesten verkrüppelten Menschen angeführt. Sie haben Augen oder Gliedmaßen verloren. Dann gab es wiederum vielbeachtete Attacken aus Reihen der Gilets Jaunes, so auf den rechtskonservativen jüdisch-französischen Intellektuellen Alain Finkielkraut. Und die erwähnten Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten ...
Die gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Mitgliedern rechtsextremer Gruppen und militanten Faschisten kamen von Anfang an vor und wurden meist durch Letztere provoziert. Am 1. Dezember 2018 schlugen antifaschistisch orientierte Protestierende den faschistischen Leitkader Yvan Benedetti zu Boden, er war wegen allzu expliziter antisemitischer Aussprüche im Juni 2011 vom damaligen Front National ausgeschlossen worden und leitete seit 2012 die faschistische Gruppierung L’Oeuvre française, die im Juli 2013 verboten wurde. Damit erwischte es einen der übelsten Burschen im Lande.
Am 26. Januar 2019 attackierte in Paris ein Pulk von um die 50 Faschisten und Fußballhooligans zwei Mal einen Demoblock der undogmatisch-trotzkistischen Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA). Am darauffolgenden Samstag kam es in Paris deswegen zu einer starken Präsenz aus den antifaschistischen Milieus auf der Demonstration. Am 9. Februar 2019 dann attackierten Anhänger mehrerer stiefelfaschistischer Gruppen in Lyon den bei der Demonstration mitlaufenden antirassistischen Block. Der Angriff endete für mehrere der Aggressoren in der Notaufnahme von Krankenhäusern.
Seit diesen Ereignissen wurde es in den darauffolgenden Wochen etwas ruhiger um die faschistische Beteiligung an den Demonstrationen. Unterdessen häuften sich ab Anfang Februar 2019 in weiten Teilen Frankreichs die Hakenkreuzschmierereien. Es dürfte hier einen Zusammenhang geben: Die stiefelfaschistische und neonazistische Rechte fühlt sich einerseits durch ihre anfängliche Beteiligung an den Protesten ermutigt und beflügelt. Andererseits wird sie wieder verstärkt außerhalb der Protestbewegung und unabhängig von ihr aktiv. Auch fürchtet sie, zusammen mit Teilen der Gilets Jaunes ins Visier polizeilicher Maßnahmen zu geraten.
Während die Gewalt eine große Rolle spielt, auch öffentlich, hört man von den Verkehrsblockaden kaum noch etwas. Dabei waren sie in den ersten Wochen die eigentlichen Kerne der Bewegung. Was ist aus ihnen geworden? Als ich Mitte Dezember 2018 in Frankreich war, hatte ich den Eindruck, dass es große Unterschiede gerade zwischen Paris und dem Rest des Landes gibt und die Demonstrationen in der Hauptstadt ausnahmsweise einmal nicht repräsentativ sind für eine soziale Bewegung, sondern im Gegenteil eher die Ausnahme.
Es stimmt, es gab und gibt in dieser Protestbewegung erhebliche Unterschiede zwischen dem Ballungsraum Paris sowie den übrigen urbanen Zentren einerseits, und den kleineren Kommunen sowie ländlichen Zonen andererseits. In den Letztgenannten ist die Protestbewegung überdurchschnittlich stark. Das ist keine ganz neue Erscheinung: Bei den Herbststreiks im Öffentlichen Dienst 1995 wurde erstmals beobachtet, dass die Beteiligung an den Demonstrationen, die die Streiks begleiteten, in den mittleren Provinzstädten überdurchschnittlich hoch war. Dieses Phänomen hat sich mit den Gilets Jaunes noch verstärkt.
Warum?
Das hat seine Wurzeln in den vorausgegangenen Entwicklungen: Der Abwanderung von Bevölkerungsteilen aus den urbanen Zentren, wo Mieten und Wohnungspreise irrsinnig überteuert sind, vor allem aber in dem Abbau von öffentlichen Versorgungsleistungen. Dazu zählen etwa der Rückbau von Schienenverkehr, die Konzentration von Krankenhäusern und Geburtsstationen, zum Teil relativ weit entfernt von kleineren Kommunen, das Verschwinden von Postämtern. Nicht zufällig sind diese Punkte auch ein herausgehobener Teil des Forderungskatalogs, den Teile der Gilets Jaunes am 26. November 2018 publizierten.
Ansonsten trifft es zu, dass in den ersten Wochen seit dem Beginn der Proteste zunächst Blockaden an Verkehrskreiseln, auf Zufahrtstraßen oder Autobahnzubringern eine bestimmende Erscheinung in dieser Protestbewegung darstellten. Seit dem Jahreswechsel 2018/ 2019 ist die Bedeutung dieser Besetzungen allerdings erheblich zurückgegangen. Seitdem gibt es viel weniger Blockadepunkte im Straßenverkehr.
Und die Demonstrationen haben seit Januar 2019 dann andererseits an Bedeutung gewonnen?
Ganz richtig. Gradmesser und Spiegelbild der Protestbewegung sind nun vor allem die samstäglichen Demonstrationszüge. Diese finden unter anderem auch in urbanen Zentren wie Paris oder, zahlenmäßig stärker noch, Städten wie Toulouse statt. Zugleich wird zunehmend in mittelgroßen Städten wie Evreux nordwestlich von Paris demonstriert, und die Leute, die zuvor etwa in Dörfern der Normandie ihre Verkehrskreisel oder Zufahrtstraßen blockierten, fahren nun in ihre Kreisstädte oder regionalen Subzentren, um dort auf die Straße zu gehen.
Wie geht es denn jetzt weiter? Seit über vier Monaten gibt es die Gilets Jaunes. Werden sie einfach immer weiter machen?
Das ist schwer zu sagen. Aber zu dem Zeitpunkt, zu dem wir sprechen, also Mitte März, sieht es tatsächlich nach einem gewissen Rückfluss der Bewegung aus. Natürlich kann das täuschen. Es hat bereits einmal zuvor stark nach einem Auslaufen der Bewegung ausgesehen, in der zweiten Dezemberhälfte 2018. Und ab Anfang Januar 2019 zog die Mobilisierung dann doch wieder an. Infolge des Acte 18 am 16. März 2019 scheint die öffentliche Meinung allerdings umzukippen. Bereits Ende Februar 2019 äußerten in Umfragen erstmals Mehrheiten, sie seien nun für ein Ende der Aktionen. Nach dem Acte 18 änderte sich das Klima weiter in diese Richtung: Innerhalb von drei Tagen stieg in einem Meinungsspiegel etwa die Anzahl der erklärten Gegner*innen von zuvor 28 auf 35 Prozent. Der Anteil jener, die Solidarität, Sympathie oder Verständnis für die Protestbewegung und ihre Anliegen äußern, sank von zuvor 61 auf 53 Prozent. Und die Aktionen vom 16. März 2019 im Bereich «Gewalt gegen Sachen» wurden von 84 Prozent der Befragten verurteilt. Zugleich kündigte die Regierung drastische Verschärfungen im Ordnungs- und Demonstrationsrecht an. Ab dem 23. März 2019 wird nun die Armee beziehungsweise ihre Anti-Terror-Mission (Opération Sentinelle) für den Objektschutz an öffentlichen Gebäuden in den «Brennpunkten» der Proteste zuständig sein. An diesem Punkt ist ein Grad der Auseinandersetzung erreicht, wo sich die Militanz, oder wie immer man es nennen möchte, nicht weitertreiben lässt.
Und zugleich ist klar, dass auch ein endloses «einfach Weitermachen» schlicht nicht möglich ist. Es tun sich damit keine neuen Perspektiven auf und so entwickelt sich dauerhaft auch keine Dynamik.
Insofern würde ich sagen, dass ein Endpunkt wohl mehr oder minder bald erreicht sein wird. Diese Protestbewegung hat damit aber bereits eine weit überdurchschnittliche Dauer erreicht. Sie hat neue Symbole und neue Bündnisse geschaffen, eine notwendig instabile Mischung aus ganz unterschiedlichen Milieus, die auf Dauer sicherlich auch nicht alle miteinander können, die aber gemeinsam haben, mit dem jetzigen Zustand unzufrieden zu sein.
Erreicht wurde ja auch etwas ...
Auf materieller Ebene hat diese Protestbewegung der Regierung ein paar Zugeständnisse abringen können, ja. Neben rein verbalen Pseudo-Konzessionen gibt es auch reale Errungenschaften: Am 10. Dezember 2018 verkündete Emmanuel Macron, dass für Rentner*innen mit weniger als 2000 Euro monatlichen Einkünften (oder 3000 Euro in manchen Fällen) die als besonders unsozial kritisierte Kopfsteuer CSG – der sogenannte Allgemeine Sozialbeitrag – künftig nicht mehr angehoben wird. Und zum Ende der durch die Regierung als Antwort auf die Proteste organisierten und ansonsten reichlich ergebnislosen «großen nationalen Debatte», die vom 15. Januar bis zum 15. März 2019 stattfand, verkündete nun die Regierungspartei LREM, künftig solle eine automatische Anpassung der Renten an die Preiserhöhung erfolgen. Einen solchen Inflationsausgleich gibt es bislang nicht. Allerdings ist noch unklar, ob die Exekutive sich auch an diesen Parteibeschluss hält.
Um auf den Anfang zurückzukommen: Selbst wenn die Bewegung langsam an ihr vorläufiges Ende gelangt, für die Gewerkschaften hat das langfristige Nachwehen, würde ich sagen ...
Ja. Die Gewerkschaften, die den Impuls dieses Protests nicht hinreichend aufzugreifen und umzusetzen vermochten, bleiben potenzieller «Konkurrenz» bei künftigen sozialen Auseinandersetzungen ausgesetzt, weil diese Bewegung in den Augen Vieler gezeigt hat, dass es den schärferen und auch wirkungsvolleren Protest außerhalb der gewerkschaftlichen Reihen gibt. Am 5. Februar und erneut am 19. März 2019 konnten die Gewerkschaften dennoch, im Rahmen von «Aktionstagen» mit Demonstrationen, ihre relative Stärke demonstrieren. Es kam in diesem Zusammenhang zu Arbeitsniederlegungen, die in Teilen der Öffentlichen Dienste befolgt wurden, jedoch bislang keinen Einfluss in der Privatwirtschaft hatten.