80 Prozent des Budgets von Nichtregierungsorganisationen (NRO) in Palästina kommen von ausländischen Geldgebern. Dies wirft die Frage nach solidarischer Verpflichtung gegenüber der palästinensischen Bevölkerung auf. Zum einen nimmt ehrenamtliches Engagement durch eine Fokussierung auf thematisch und zeitlich begrenzte Projekte der NROs ab. Zum anderen führt internationale Hilfe nicht zu einer politischen Selbstbestimmung in Palästina. Aus diesen Gründen hat Grassroots Jerusalem nach neuen Wegen neben dem herkömmlichen Geldgebersystem gesucht und sie gefunden.
Fayrouz Sharqawi ist Koordinatorin für das Globale Mobilisierungsprogramm bei Grassroots Jerusalem seit 2012. In dieser Rolle hat sie Kampagnen geleitet und gemeinschaftliche Veranstaltungen und Aktivitäten unterstützt. Sie bietet politische Stadtführungen und Analysen an und ist seit langem aktiv gegen die israelische Besatzung.
Mit ihr sprach Sinah Hellweg. Sie hat nach einem Bachelorabschluss in Politik- und Islamwissenschaft an einem Freiwilligendienst in Ramallah, Palästina, teilgenommen. Zurzeit studiert sie Religions- und Kulturwissenschaft im Masterstudiengang an der Humboldt Universität zu Berlin.
Sinah Hellweg: Könntest du kurz die Arbeit von Grassroots Jerusalem beschreiben? Was sind die Grundpfeiler eurer Arbeit und was die Ziele?
Fayrouz Sharqawi: Grassroots Jerusalem ist eine Plattform für palästinensische Mobilisierung und Netzwerkarbeit. Wir glauben, dass es eines der wesentlichen Bedürfnisse der Palästinenser*innen in Jerusalem ist, die Fragmentierung in der Gesellschaft zu überwinden. Sie ist das größte Hindernis in Bezug auf Mobilisierung und Veränderung. Diesen Kampf teilen alle unterschiedlichen Gemeinschaften in Jerusalem.
Unser Ziel ist es, zu einer langfristigen palästinensischen Strategie für Jerusalem beizutragen. Palästinenser*innen leben in einem Vakuum, welches von internationalen NROs und den Institutionen der Vereinten Nation gefüllt wird. Die Entwicklungs- und Aufklärungsprojekte, die implementiert werden, sind meistens geleitet von deren Vision und Agenda. Für uns sind sie aber fremd, und sie unterscheiden sich von unserer Vision und unserer Agenda.
Der erste Schritt in unserer Arbeit war es, die Stadt zu kartieren. Wir haben die unterschiedlichen Gemeinschaften aufgesucht und sie gebeten, uns ihre Geschichte zu erzählen. Mit Gemeinschaften meine ich die Stadtviertel in Jerusalem wie auch die Ortschaften um die Stadt herum und die zwei Flüchtlingslager Shu’fat und Qalandia. Wir erzählen ihre Geschichte und kreieren aktuelle Karten für die Gemeinschaften wie auch für Jerusalem allgemein. Nachdem wir die Karten erstellt haben, beginnen wir unsere lokale Mobilisierung zu Themen, die besonders dringlich sind. Ein weiterer Schritt ist es, Netzwerke zu entwickeln, um längerfristige Pläne und Strategien für Jerusalem zu finden. Wir schaffen einen Ort, damit die Menschen sich kennenlernen und vernetzen können.
Die Karten, die wir erstellt haben, leisten zwei wichtige Beiträge. Der Erste ist zu reflektieren, welches Jerusalem wir meinen. Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Vorstellungen, wenn sie über Jerusalem reden. Für die Israelis ist es die Stadt innerhalb der kommunalen Grenzen. Aber für uns, die Palästinenser*innen ist es der Bezirk Jerusalem. Dieser erstreckt sich nördlich bis nach Ramallah, südlich nach Bethlehem, den halben Weg nach Jericho und den halben Weg westlich nach Ramla. Der zweite Beitrag der Karten ist es, die palästinensisch-arabische Identität von Jerusalem zu erhalten.
Grassroots Jerusalem hat seine Strategie gegenüber Geldgebern geändert. War das ein längerfristiger Prozess oder initiiert durch einen spezifischen Vorfall?
Es war eher ein Prozess. Es wurde uns sehr schnell klar, dass wir so nichts erreichen. Das Beste was wir von Parlamentarier*innen, die unsere Stadtführung besuchten, bekamen, war ein Brief, der ihre Besorgnis ausdrückte.
«Besorgt» ist das berühmteste Wort in der internationalen Gemeinschaft, wenn es um Palästina geht. Besorgt über die Situation, die Eskalation und die Gewalt.
Aus diesem Grund haben wir unsere Vorgehensweise von der obersten Ebene der Verantwortlichen zu den Grassroots der Welt verschoben. Wir glauben, dass zu allererst die Menschen in den Ländern unsere natürlichen Partner*innen sind. Unsere neue Strategie beinhaltet eine politische Stadtführung für Tourist*innen in Jerusalem, Veranstaltungen zu unserer Arbeit und Berichte über die Situation in Jerusalem im Ausland. Der Reiseführer zu unserer Stadtführung, «Wujood», wurde zum ersten Mal 2014 veröffentlicht. Dieses Jahr bringen wir eine zweite Ausgabe auf Englisch und Arabisch raus. «Wujood» thematisiert, wie der Tourismus in Jerusalem heutzutage aussieht. Die meisten Tourist*innen übernachten in israelischen Hotels, essen in israelischen Restaurants und kaufen auf israelischen Märkten ein. Sie geben kein Geld auf unseren Märkten aus und sind sich der politischen Besatzung nicht bewusst. Sie sehen sie nicht, sie erleben sie nicht und sie sehen nicht, wie die Besatzung sich in unseren Gemeinschaften widerspiegelt. Wir berichten den Millionen Tourist*innen von der politischen Situation, wenn sie die Heilige Stadt Jerusalem besuchen. Wie unheilig die Situation vor Ort ist, wissen sie aber nicht. Der Reiseführer bietet auch praktische Informationen. Wo kann man in einem palästinensischen Hotel übernachten und was kann man in den palästinensischen Orten im Osten der Stadt sehen? Beispielsweise die wunderschöne Natur und archäologische Stätten.
Siehst du eine Veränderung in der palästinensischen Gesellschaft durch eure Arbeit?
Ja, aber gewöhnlich ist dieser Unterschied nicht sehr groß und schwierig einzuschätzen. Trotzdem sehen wir gute Ergebnisse, dadurch, dass sich Gemeinschaften über Erfahrungswerte austauschen und sich miteinander solidarisieren. Unser lokales Netzwerk ist immer noch in seinen Anfängen. Es hat gedauert, bis wir die ganze Stadt mit unseren Karten erfasst und unsere finanzielle Krise überwunden haben. Dieses Jahr werden wir in Kooperation mit verschiedenen Gemeinschaften eine Kampagne zu den Themen Wirtschaft und Tourismus starten. Für uns wird es ein Meilenstein sein, der uns sagt, dass wir ein gewisses Level an Vernetzung erreicht haben. Aber man kann nicht feststellen, dass ein Wandel auf der Stadtebene zu sehen ist. Ich befürchte, ich muss sagen, dass es auch nicht bald sein wird.
Arbeitet ihr noch mit Geldgebern zusammen?
Wir haben festgestellt, dass das ein weiterer Prozess ist. An einem bestimmten Punkt haben wir uns dazu entschlossen, unsere Arbeit nicht mit den gleichen Geldgebern und den gleichen Kanälen fortzuführen, obwohl uns das Geld ausging. Das ist der Grund, warum wir bankrottgegangen sind. Im Sommer 2015 hatten wir nur einen Geldgeber, mit dem wir unsere Büroräume weiter finanzieren konnten. Wir mussten unser Team von zehn auf drei Mitarbeiter*innen reduzieren. Wir haben bei Grassroots Jerusalem ehrenamtlich gearbeitet und hatten andere Jobs, mit denen wir uns finanziert haben. Wir haben begonnen, unser eigenes Modell zu entwickeln, aber es hat Zeit gekostet. Wir bewerben uns immer noch auf Gelder, aber zu unseren Konditionen.
Wir führen beispielsweise gerade ein Projekt mit jungen Palästinenser*innen aus Jerusalem durch. Wir bilden sie aus, über Jerusalem zu recherchieren, zu schreiben und Stadtführungen anzubieten. Wir hoffen, dass wir jemanden finden, der*die durch uns später Stadtführungen anbieten kann. Die Anfragen, die uns erreichen, übersteigen unsere Kapazitäten, und wir müssen immer wieder Menschen absagen. Neben der Finanzierung durch Gelder und unsere politische Stadtführung benutzen wir Crowdfunding als Mittel, um unsere Projekte finanzieren zu können. Es ist eine Einladung an Menschen, uns individuell durch ihre Spende zu unterstützen. Viele Menschen nutzen diese Möglichkeit, aber noch nicht genug. Im Jahr 2016 hat uns eine Kampagne geholfen, um aus dem limitierenden Geldgebersystem auszubrechen. Es war auch eine gute Möglichkeit, um das Gespräch über das Geldgebersystem anzustoßen. Warum machen diese Leute das und was läuft falsch?
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sehr hart war. Aber wir sind sehr stolz auf uns, dass wir es geschafft haben, Gelder zu unseren Konditionen zu erhalten. Entweder mit Geldgebern, die offen genug sind, sich auf unsere Bedingungen einzulassen oder mit solchen, die wir beeinflussen können. Es ist ein langer Prozess, sie zu ändern, aber es ist großartig zu sehen, wie wir, die Unterdrückten, schließlich die Verantwortung haben, alle, nicht nur uns selbst zu emanzipieren. Es war ein großer Moment und ein Erfolgsgefühl, als wir endlich wieder genügend Geld hatten, um Gehälter auszahlen zu können. Es hat nahezu drei Jahre gedauert, aber als es so weit war, haben wir zusammen gefeiert. Es war ein Sieg, der nicht garantiert war. Ich kann nicht sagen, wie oft wir kurz davor waren, alles abzubrechen, nach Hause zu gehen und das Büro zu schließen. Aber wir haben zu sehr an die Sache geglaubt, um loszulassen und zu viel in den Aufbau der Organisation und Ideologie investiert.
Wir helfen jetzt anderen Organisationen und Initiativen, strategisch ihren eigenen Plan zu entwickeln: wie können sie sich selber schützen, ihre Ideologie, ihre Position als Kollektiv und sich nicht durch die Geldgeber beeinflussen lassen. Die Idee ist es, auch wenn wir unser Modell noch nicht perfektioniert haben, unsere Vorstellungen von NROs und Arbeit in der Zivilgesellschaft zu verbreiten.
Was sollen die Menschen von euren Stadtführungen mit nach Hause nehmen?
Die Wahrheit. Kommt, seht es euch selber an und nehmt die Geschichte mit nach Hause! Egal wie oft wir es sagen, es wird niemals alt und es wird immer gebraucht. Auf der Welt ist nur wenig bekannt von den wirklichen Dynamiken vor Ort in Palästina. Verbunden mit «Wujood» bedeutet das: Tourist*innen gehen normalerweise nicht an bestimmte Orte, wenn du sie nicht dort hinbringst. Die wichtigste Botschaft, die wir den Menschen mitgeben können, ist zu zeigen, was Besatzung bedeutet und wie sie das tägliche Leben von Menschen beeinflusst.