News | Palästina / Jordanien - Westasien im Fokus Zementierte Verhältnisse?

Ein Interview mit Riad Othman über internationale Hilfe in Israel und Palästina

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Riad Othman arbeitet als Nahostreferent für die Hilfsorganisation medico international.
Riad Othman arbeitet als Nahostreferent für die Hilfsorganisation medico international. Foto: Sinah Hellweg

Hilfe verteidigen, kritisieren, überwinden – im Interview erklärt Riad Othman von der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international, was dieser Leitspruch konkret in Israel und Palästina für ihre Arbeit bedeutet und welche Auswirkungen der BDS-Beschluss des Bundestages für die internationale Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit hat.

Riad Othman ist Mitarbeiter von medico international, einer Hilfs- und Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Frankfurt am Main, die unter anderem Projekte im Bereich Gesundheit, Soziales und Menschenrechte im Globalen Süden unterstützt. In Nordafrika und Westasien ist sie unter anderem in Palästina und Israel, in der West-Sahara, im Libanon und in den kurdischen Gebieten tätig.

Mit ihm sprach Anna-Theresa Bachmann. Sie ist freie Journalistin und hat in Marburg, Lund und Kairo Nahostwissenschaften studiert. Ihre Texte über Politik und Gesellschaft in Nordafrika, Westasien und Europa erschienen bisher vor allem in taz Tageszeitung, dem zenith Magazin und bei dis:orient. 
 

Anna-Theresa Bachmann: Gegründet 1968 als linke humanitäre Hilfsorganisation, hat medico international Anfang der 2000er ihren Ansatz überarbeitet. Seitdem lautet ihr Leitspruch «Hilfe verteidigen, kritisieren, überwinden.» Was bedeutet das?

Riad Othman: Wir haben ein Hilfeverständnis, das in Solidarität und den Menschenrechten gründet. Die Menschen sind nicht in einem karitativen Sinne Hilfeempfänger*innen, sondern sie haben ein Recht in ihrer Not oder ihrer Ausweglosigkeit unterstützt zu werden. Auf der anderen Seite muss die Arbeit darauf abzielen, dass wir die Bedingungen, die Hilfe erforderlich machen, versuchen zu überwinden. Zum einen über die Arbeit unserer Partner*innen in ihren jeweiligen Ländern und zum anderen indem wir versuchen, auf Politik in Deutschland, in geringerem Maße auch in der Europäischen Union, Einfluss zu nehmen.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Wir arbeiten im Jordantal mit Landwirt*innen in den von der israelischen Besatzungsverwaltung kontrollierten C-Gebieten[1] zusammen, die aus verschiedenen Gründen ihre Felder brach liegen lassen. Etwa, wegen der Unberechenbarkeit von Manövern des israelischen Militärs, wegen zu kleinen Parzellen auf Grund von Erbteilungen oder wegen der Unsicherheit beim Zugang zu Absatzmärkten infolge der Pariser Protokolle …

… ein Anhang der Osloer-Abkommen aus dem Jahr 1994, der die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten regeln sollte.

Wir ermuntern die Landwirt*innen, diese Flächen wieder zu bewirtschaften. Die Ausgangsthese dabei ist: Die israelische Ziviladministration, ein quasi ziviler Arm der Besatzungsverwaltung Israels im Westjordanland, konfisziert Land, das länger als drei Jahre brach liegt. Dabei beruft sie sich als Besatzungsmacht auf den osmanischen Landkodex von 1858. Die damalige Intention des türkischen Sultans war, dass man mehr Steuern auf bewirtschaftetes Land erhält als auf brach liegendes. Wenn ein Bauer das Land brach liegen ließ, konnte ihm das Land weggenommen und an einen anderen gegeben werden.

Das war im 19. Jahrhundert Teil der Tanzimat-Reformen. Was hat das mit der heutigen Situation zu tun?

Israel als Besatzungsmacht nutzt dieses alte Recht selektiv, um Land zu enteignen und es dann wieder dem israelischen Militär, beziehungsweise nach einer Weile, der Siedlerbewegung zu geben. Die Menschen in den C-Gebieten sollen durch wirtschaftlichen Druck in die A- und B-Enklaven, also die dichter bevölkerten, urbanen und halbstädtischen Zentren im Westjordanland verdrängt werden. Hilfe verteidigen bedeutet vor Ort, Rechtsbeistand gegenüber der israelischen Ziviladministration zu leisten und die Bauern über materielle Unterstützung darin zu bestärken, in den C-Gebieten zu bleiben. In Deutschland setzen wir uns seit Jahren dafür ein, dass die Bundesregierung das – auch vom obersten israelischen Gerichtshof verurteilte – diskriminierende Genehmigungsregime, und das Problem des palästinensischen Zugangs zu Ressourcen angeht.

Wie bewerten Sie die aktuelle Rolle der Bundesregierung in Bezug auf die internationale Hilfe in Israel und Palästina?

Das Hauptproblem dieser Konfliktlage ist die weitere Besiedlung des Westjordanlandes, die eine Zweistaatenlösung immer unrealistischer werden lässt. Gleichzeitig ist die Zweistaatenlösung seit Jahrzehnten erklärtes Ziel der Bundesregierung.

Der Arbeitsfokus der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) liegt derzeit auf Abwasser und Wasserleitungen, Berufsbildungsprogrammen und Erziehung und Bildung. Diese Schwerpunktsetzung ändert meines Erachtens nichts an der Konfliktlage. Sie zeugt von einer inhaltlichen Ausrichtung, die Konfrontation mit der israelischen Besatzungsverwaltung vermeiden will. Das halte ich angesichts der voranschreitenden israelischen Landnahme für kontraproduktiv. Es fördert keine Zweistaatenlösung, sondern zementiert nur die Verhältnisse und gesteht der israelischen Regierung mehr Raum zu, als sie haben müsste.

Inwieweit ist es für die Bundesregierung möglich, im Bereich der internationalen Hilfe Druck auf die israelische Regierung auszuüben?

Die Niederlande haben vorgemacht, wie es geht: 2018 wurden von der israelischen Besatzungsverwaltung Solarpanele in einem palästinensischen Dorf konfisziert. Die Niederlande sind kein so mächtiger Staat wie Deutschland, weder international noch innerhalb der EU. Aber sie haben Druck gemacht und die Panele wurden zurückgegeben. Das Problem an der bundesrepublikanischen Außenpolitik gegenüber Israel und den Palästinenser*innen ist, dass es keinen Druck gibt. Ich glaube schon, dass mit Israel viele Themen angesprochen werden, aber immer hinter verschlossenen Türen. Die Haltung ist: Wir kritisieren unseren besten Freund im Nahen Osten nicht öffentlich, vor allem nicht vor dem Hintergrund des Holocaust und des daraus resultierenden besonderen Verhältnisses zwischen Israel und der Bundesrepublik.

Dieses von Ihnen angesprochene historische Verhältnis wurde im Mai dieses Jahres im Zusammenhang mit der Boykott, Divestment & Sanctions Bewegung (BDS) heiß im Parlament diskutiert. Welche Folgen leiten sich daraus für die internationale Hilfe und ihre Projektpartner*innen in Israel und Palästina ab?

Der Parlamentsbeschluss vom 17.Mai ist nicht bindend und hat erst einmal keine konkreten Auswirkungen auf unsere Arbeit. Das Risiko, das uns oder politischen Stiftungen Mittel gekürzt werden, würde in dem Moment reeller werden, wenn es einen Kabinettsbeschluss gäbe. Gleichzeitig ist klar, dass weder das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) noch das Auswärtige Amt (AA) ein Interesse an einem solchen Beschluss haben. Sie wissen, dass dadurch ihr politischer Handlungsspielraum im Ausland erheblich eingeschränkt würde. Und das würde nicht nur Israel und Palästina betreffen, sondern gegebenenfalls Partner*innen der politischen Stiftungen in Südafrika und vermutlich in manchen süd- und zentralamerikanischen Ländern, die ja auch BDS unterstützen.

Welche Auswirkungen hat der Parlamentsbeschluss auf die Arbeit in Deutschland – wenn man etwa lokale Projetpartner*innen für Vorträge und Diskussionsveranstaltung einlädt, die BDS unterstützen?

Wir glauben, dass es einen Abschreckungs- oder Abkühlungseffekt geben wird. Zum Beispiel durch den Paragrafen, der besagt, dass unter Bundesverwaltung stehende Liegenschaften nicht mehr an BDS vermietet werden sollen. Wenn sich jetzt Gemeinden, Städte und auch Landtage durch den Bundestagsbeschluss bemüßigt fühlen, genau solche Beschlüsse zu verabschieden, dann wird das natürlich eine Auswirkung haben, welcher öffentliche Raum noch für eine Auseinandersetzung da ist. In München gibt es das ja schon. Wenn man wirklich umsetzt, was im Beschluss der Stadt München steht, dann könnte man nicht einmal eine Veranstaltung abhalten, die sich kritisch mit BDS befasst ...

… weil darin formuliert ist, dass kein öffentlicher Raum an Personen vermietet wird, die sich mit «Inhalten, Themen und Zielen von BDS» befassen. Ist es denn aber nicht längst an der Zeit, dass man auch in Deutschland auf höchster Ebene über Inhalt und Praktikabilität von BDS-Beschlüssen diskutiert?

Was für viele Beobachter*innen des Parlaments überraschend war, ist, dass nicht unwichtige Personen aus der CDU und der SPD dem Antrag der Koalition zwar zugestimmt, aber von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben, ihre Meinung zum Plenarprotokoll zu äußern. Darin haben sie sich klar positioniert: Sie sind nicht für Boykotte, aber sie halten nicht die Boykottbewegung per se für antisemitisch und sie vermissen in diesem Antrag auch jegliches Bekenntnis zur Meinungsfreiheit. Wesentliche Teile der Grünen gehören auch dazu. Es gab einen Brief jüdisch-israelischer Akademiker*innen wie Eva Illouz und Amos Goldberg, die eindringlich davor gewarnt haben, BDS mit Antisemitismus gleichzusetzen. Darauf hat sich nicht nur Heike Hänsel (DIE LINKE) in ihrer Rede vor der Abstimmung bezogen, sondern auch CDU-Mitglieder. Die Polarisierung um BDS zwingt uns immerhin dazu, diese Fragen jetzt zu diskutieren.  


[1] Im Oslo-II Abkommen wurde das Westjordanland 1995 in A, B und C-Gebiete unterteilt: Etwa 18 Prozent des Landes (in der etwa 50 Prozent der Gesamtbevölkerung lebt) zählt zu den A-Gebieten, die unter palästinensischer Zivil- und Sicherheitsverwaltung stehen. 20 Prozent (40 Prozent der Gesamtbevölkerung) zählt zu den B-Gebieten. Sie unterstehen palästinensischer Zivilverwaltung und gemeinsamer israelisch-palästinensischer Sicherheitsverwaltung. Die C-Gebiete umfassen 62 Prozent des Landes (Sechs Prozent der Bevölkerung). Es untersteht komplett der israelischen Zivil- und Sicherheitsverwaltung und umschließt mit seiner Landmasse inselartig A und B-Gebiete. Mehr dazu in unserer Infografik zur Westbank.