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Interview mit Hanan Aschrawi über Trumps «Jahrhundert-Deal» und den Manama-Gipfel in Bahrain

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Hanan Aschrawi: «Unsere Rechte sind unverkäuflich»
Hanan Aschrawi CC BY-SA 3.0, Foto: Carsten Sohn

Hanan Aschrawi ist Mitglied des Exekutivkomitees der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Seit der Friedenskonferenz in Madrid im Jahr 1991 ist sie die offizielle Sprecherin der palästinensischen Delegation im Nahost-Friedensprozess. Das Interview führte Sari Harb, Programmmanager Politische Kommunikation des Regionalbüros Palästina und Jordanien der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah.
 

Sari Harb: Vor 26 Jahren unterzeichneten die PLO und Israel das Oslo-Abkommen, ein von den USA vermitteltes Interimsabkommen im Nahost-Friedensprozess. Seitdem sind zahlreiche von den USA und anderen Vermittlungsinstanzen angeregten Friedensinitiativen gescheitert. Kürzlich hat US-Präsident Trump einen «Jahrhundert-Deal» angekündigt, der den Konflikt zwischen Israel und Palästina beenden soll. Im Juni fand in Bahrain der Workshop «Peace to Prosperity» (Frieden zu Wohlstand) statt, der von Jared Kushner eingefädelt wurde, um die wirtschaftlichen Aspekte von Trumps «Jahrhundert-Deal» zu diskutieren. Warum hat die palästinensische Führungsriege ihre Teilnahme am Gipfel verweigert?

Hanan Aschrawi: Das Treffen in Bahrain war im Grunde nicht mehr als ein Workshop und kein Gipfel. Es ging dort überhaupt nicht um den Friedensplan, sondern nur um einige vage, unausgereifte Ansätze, die eine Art wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Entwicklung ermöglichen sollen. Das Ganze entbehrt jeglicher rechtlichen und politischen Dimension und zeugt von einem kompletten Realitätsverlust.       

Im Workshop selbst wurde die Hauptursache für den Nahostkonflikt völlig ausgeklammert, genauso wie der eigentliche Grund dafür, warum wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand nicht möglich sind. Man hat das Faktum der Besatzung völlig ignoriert: Auf den Begriff der «Besatzung» wurde in keiner Weise Bezug genommen. Das Recht der Palästinenser*innen auf Freiheit und territoriale Souveränität wurde komplett ausgeblendet – und das, obwohl Palästina und vor allem Gaza von Israel in einem zermürbenden Belagerungszustand gehalten werden; obwohl sich Israel herausnimmt, dort Geschäfte abzuwickeln, zu bomben und zu töten, Kontrollposten zu errichten und das Westjordanland zu zerstückeln; obwohl es wagt, die Palästinenser*innen permanent ihres Landes und ihrer Ressourcen zu berauben, ihre Häuser zu zerstören und zugleich das Area-A-Gebiet[1] , ihre Hoheitsgewässer und die Grenzübergänge zu kontrollieren. Letztlich heißt das, man ist zum Stillstand verdammt, denn Israel hat immense Möglichkeiten, Zerstörung anzurichten, was es auch schon unter Beweis gestellt hat. Und das ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Wirtschaft Palästinas am Boden liegt. Das hat nichts damit zu tun, dass wir außerstande wären, eine florierende Wirtschaft aufzubauen, sondern nur damit, dass man uns die Kontrolle über unsere Ressourcen, unser Land, unser Leben, unsere Zukunft und unsere Rechte weggenommen hat.

Der Workshop war ein klarer Versuch, vom eigentlichen Problem abzulenken, nämlich die von Israel ausgehende Unterdrückung, seine Rechtsbrüche und dergleichen. Die Idee war: «Okay, alles, was wir tun müssen, ist, Palästina unsere Hand auszustrecken, und dann werden sie ihre Gefangenschaft schon hinnehmen.» Doch das war kein besonders ausgeklügelter Plan; so etwas wurde schon zuvor versucht, und auch die vorgeschlagenen Projekte sind nichts Neues. 50 Milliarden US-Dollar waren im Gespräch, was manche für eine große Summe halten – das ist es aber nicht. Denn das Geld ist für einen Zeitraum von zehn Jahren vorgesehen und wird zwischen Ägypten, Jordanien, Libanon und Palästina aufgeteilt. Es handelt sich mehrheitlich um Kredite, während Investitionen und ähnliches nur einen Teil ausmachen. Außerdem ist das meiste davon rein hypothetisch, darum bezweifle ich, dass diese Projekte jemals zustande kommen. Die ganze Sache ist letztlich nur ein Ablenkungsmanöver, ein taktisches Spiel, das den Eindruck vermitteln soll: «wir unternehmen etwas». Vor Ort dagegen ergreifen die USA ganz konkrete Maßnahmen, um die Möglichkeit eines Friedens auszuhöhlen, ja sogar, um die wesentlichen Grundlagen für Frieden zu zerstören: indem man nämlich die US-Botschaft nach Jerusalem verlegt hat, indem man die unrechtmäßige Besatzung Jerusalems durch Israel anerkennt; indem man palästinensische Geflüchtete und ihre Organisationen zur Zielscheibe macht (darunter auch das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, UNRWA); indem man sich Gesprächen über eine Zweistaatenlösung verweigert; indem man die Besatzungsgebiete für rechtskonform erklärt und sich sogar sträubt, die 1967 gezogenen Grenzen überhaupt zu erwähnen – auf diese Weise hat man Palästina komplett den Geldhahn abgedreht. Das Ziel ist es, die Besatzung des Westjordanlands zu normalisieren – der illegale Siedlungsbau und Israels Präsenz und Kontrolle über die Region Palästina sollen normalisiert werden.

In der Stellungnahme des PLO-Exekutivkomitees heißt es, der Manama-Gipfel sei zum Scheitern verurteilt. Können Sie uns etwas mehr dazu sagen?

Das hat mit mehreren Dingen zu tun. Der wichtigste Grund ist, dass der Konferenz jeglicher politische und rechtliche Rahmen gefehlt hat. Sie war bloß eine Kopfgeburt, die man ersonnen hat, um eine illegale und gewaltsame Besatzung schön zu reden.

Zweitens verschafft man Israel damit Zeit, konkrete und unumkehrbare Fakten zu schaffen. Aber mit den wirklichen Tatsachen vor Ort setzt man sich nicht auseinander: der israelischen Besatzung, der unrechtmäßigen Mitwirkung der USA an dieser Besatzung und den illegalen, einseitigen Vorstößen von Israel und den USA.

Drittens wurde dort einfach nur viel heiße Luft produziert – und alle haben mitgemacht. Doch ich denke, die meisten haben nur dem Druck, den Drohgebärden und so weiter nachgegeben. Und abgesehen von ein paar Golfstaaten haben die meisten Länder eher untergeordnete Vertreter*innen entsandt.

Der Knackpunkt ist folgender: Wenn man einen derart unausgegorenen und miserablen Plan vorstellt, der völlig an den Anforderungen der Realität vorbeigeht, dann wird die Sache natürlich scheitern. Die Leute gehen dahin, weil es eine Formalie ist, und nicht etwa, weil das Ganze Substanz hätte. Es ist für sie größtenteils ein symbolischer Akt, um der Trump-Administration zu sagen: «Okay, wir haben zugestimmt.» Doch im Grunde wissen alle, dass das Ganze von Anfang bis Ende ein Reinfall war. 

Der palästinensische Premierminister Mohammad Schtajjeh hat bekanntgegeben, dass die Palästinensische Autonomiebehörde in den nächsten zwei Monaten zusammenbrechen wird, sollte sich nichts an ihrer finanziellen Situation ändern. Welchen Plan verfolgt die PLO, um ihrer finanziellen Misere zu entkommen? Das erklärte Ziel des Manama-Gipfels war ja auch, Starthilfe für die Wirtschaftsentwicklung in Palästina zu geben. 

Schauen Sie, die Wirtschaft Palästinas ist deshalb am Boden, weil Israel unser Geld stiehlt und weil es Gelder einbehält, die an die Familien der Gefängnisinsassen fließen sollten, an die Familien der getöteten Palästinenser*innen. Seit 1967 hat Israel zwischen 800.000 und einer Million Palästinenser*innen inhaftiert und 75.000 getötet – und das Gesetz besagt, dass es die Angehörigen dieser Menschen und nicht die Besatzer*innen sind, die dafür die Verantwortung tragen. Doch Israel zieht sich hier nicht bloß aus der Verantwortung, sondern hält die Palästinenser*innen auch davon ab, diesen Familien zu helfen. Die palästinensische Bevölkerung wird also in mehrerlei Hinsicht dafür bestraft, dass sie sich der Besatzung widersetzt. Unser Geld zu stehlen ist eindeutig rechtswidrig und strafbar. Doch anstatt Israel zur Rechenschaft zu ziehen, haben sich die USA dazu entschieden, ihre Unterstützung und Zahlungen an Palästina zu stoppen. 

Es wäre jetzt aber völlig verfehlt, auf eine eventuelle Gnadenzahlung der USA zu setzen, die in der Zukunft erfolgen könnte – eine solche Zahlung wäre auch weitaus geringer als das Vermögen, das wir infolge der Besatzung tatsächlich eingebüßt haben. Unsere durch die Besatzung entstandenen Verluste stellen die 50 Milliarden, die (nebst Krediten, Investitionen und so weiter) über 10 Jahre an vier Länder gezahlt werden sollen, bei weitem in den Schatten. Aber unsere Rechte sind unverkäuflich. Man kann im Gegenzug für eine Handvoll US-Dollar nicht einfach sagen: «Okay, hier habt ihr unser Recht auf Freiheit, unser Recht auf Selbstbestimmung, unser Recht auf territoriale Souveränität und was ihr sonst noch begehrt.»  

Uns ist klar, dass es wirtschaftliche Auswirkungen geben wird. Der Druck, den die USA auf andere Regierungen und Geldgeber*innen ausüben, und die Bestrebungen, der UNRWA die Förderung zu entziehen und sie aufzulösen, werden dazu führen, dass mehr als 5,5 Millionen Palästinenser*innen schlagartig die Mittel fehlen werden, um Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen zu erhalten. Das ist nicht nur grausam, sondern auch kriminell – in gewisser Weise eine Form der Erpressung. Die Palästinenser*innen sind sich darüber im Klaren. Und sie wissen auch, dass es bei dem ausgeübten Druck darum geht, Palästina zur Kapitulation zu drängen. Man will, dass wir den Drohungen, dem Druck und der Erpressung nachgeben. Doch das palästinensische Volk hat sich gegenüber dieser Form von Erpressung als äußerst standhaft und unnachgiebig gezeigt. Wir wissen, dass die Situation extrem kompliziert ist. Wenn wir die Kontrolle über unser Land und unsere Ressourcen hätten und uns frei bewegen könnten, dann könnten wir eine florierende, dynamische Wirtschaft aufbauen – mehr brauchen wir dafür nicht! Wir haben es nicht nötig, unsere Freiheiten und Rechte gegen ein vages Versprechen auf wirtschaftliche Erleichterungen zu verscherbeln. Was es vielmehr braucht, sind neue Strategien, um die Widerstandfähigkeit der palästinensischen Bevölkerung zu stärken, damit sie ihr Land behalten kann. Wir brauchen eine funktionierende Wirtschaft, was unter Besatzungsbedingungen allerdings sehr schwierig ist. Zudem brauchen wir Ideen dafür, wie wir unser Verhältnis zu Israel neu gestalten können – vor allem unsere wirtschaftlichen Beziehungen. Zum Friedensprozess gehört also auch, dass wir unsere wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Beziehungen mit Israel neu justieren, ganz abgesehen von unserem Verhältnis in Bezug auf Sicherheitsfragen. Wir beschäftigen uns ausgiebig mit all diesen Dingen, doch eine wirklich echte Auseinandersetzung mit Palästinas finanziellen, ökonomischen und entwicklungspolitischen Bedürfnissen kann es nicht geben, solange wir einer Besatzungsmacht ausgeliefert sind, die sich herausnimmt, uns in jeder Hinsicht zu plündern.

Viele arabische Länder haben am Manama-Gipfel teilgenommen. Der saudi-arabische Staatminister Mohammed al-Sheikh hat Washingtons Wirtschaftsplan seine Unterstützung zugesichert und gesagt, der Plan könnte aufgehen, da er den Privatsektor miteinbezieht und weil «es Hoffnung auf Frieden gibt». Wie betrachtet die PLO die zunehmend engen und vertrauten Beziehungen zwischen einigen arabischen Staaten und Israel?

Man muss das im Hinblick auf das große Ganze sehen. Wenn wir uns anschauen, was derzeit in der Welt passiert, dann sehen wir eine Welle von Populismus, Faschismus, Rassismus, Rechtsextremismus, Individualismus, Isolationismus, Frauenfeindlichkeit und der totalen Nichtachtung von Völker- und Menschenrechten. All das ist Teil einer sich im Aufschwung befindenden Geisteshaltung, einer neuen Ideologie. 

Ohne hier ins Detail gehen zu wollen: All diese Dinge – nehmen wir etwa die Einwanderungsproblematik, die rechte, fremdenfeindliche Ideologien umtreibt, oder den Aufschwung von Ethnonationalismus, Hypernationalismus, Exklusionspolitik und den Anspruch auf Exzeptionalismus – all das gibt es hier seit der Besatzung, es ist immer ein Bestandteil von Israels Politik und Ideologie gewesen. In Israel kommt noch ein religiöser Fundamentalismus hinzu, den man mittlerweile auch in den USA antrifft. Dort gibt es extreme evangelikale Zionist*innen, rechtsextreme zionistische Organisationen und Lobbygruppen wie AIPAC[2].  Und dann gibt es noch Neokonservative wie John Bolton und so weiter – ganz abgesehen von Leuten wie Sheldon Adelson, der Trump finanziert hat. Es gibt also die Evangelikalen wie Mike Pence und Mike Pompeo, es gibt AIPAC, Adelson und so weiter, es gibt die Neocons – und dann gibt es noch das opportunistische Lager, das sein Fähnchen nach dem Wind dreht. Was ich damit meine: Diese Leute können ihre Ansichten jederzeit ändern und genau das passiert derzeit. Sie haben sich entschieden, auf die Karte der rechtsextremen und rassistischen Kräfte zu setzen und sind mit ihnen eine Art weltweites Bündnis eingegangen, was nicht nur die Voraussetzungen für Frieden stark gefährdet, sondern auch das globale Politik- und Rechtssystem – d.h. das System, das nach dem Zweiten Weltkrieg gerade deshalb aufgebaut wurde, um den Übergriffen und Vergehen der Mächtigen und Starken Einhalt zu gebieten und um die Gefährdeten und Schwachen zu schützen. Was wir nun aber sehen, ist ein systematischer Angriff auf all diese Errungenschaften.

Diese Entwicklung zeichnet sich auch in der arabischen Welt ab, nicht zuletzt in unserer Region, wo es ein Bündnis zwischen Trump und einigen Golfstaaten gibt, das auf einer sehr vereinfachenden Gegenüberstellung beruht: Der Iran wird als einziger Regionalfeind verteufelt, während man ausblendet, dass die gesamte Region von einer sehr komplexen Dynamik geprägt ist und zahlreiche Probleme zu bewältigen hat. Das eklatanteste Beispiel hierfür ist die israelische Besatzung arabischer und palästinensischer Gebiete, ganz abgesehen von der unrechtmäßigen Mitwirkung der USA, die es Israel ermöglichen, Territorien zu stehlen und zu annektieren, darunter etwa die zu Syrien gehörenden Golanhöhen, Jerusalem sowie Teile des Westjordanlands und des Jordantals. Es wird auch versucht, eine Situation herzustellen, in der Israel als Partner eines moderaten Sunniten-Bündnisses erscheint, das die ihrer Ansicht nach eigentliche Bedrohung bekämpft, nämlich den Iran. Das ist nicht nur gefährlich, sondern auch eine gravierende Fehleinschätzung und Verzerrung der komplexen Realitäten in der Region. Das ist besonders schmerzlich mitanzusehen, wenn man bedenkt, dass sich die gesamte Region in einer Übergangsphase befindet, die von Stellvertreter*innenkriegen, Bürgerkriegen, groß angelegten Ablenkungsmanövern und Unübersichtlichkeit gekennzeichnet ist – sei es in Libyen, Syrien, dem Jemen oder auch weiterhin im Irak. Wenn man sich Trump und Netanjahu, Bolsonaro und Orban anschaut, dann erkennt man eine unheilvolle Allianz, die mit dem Aufstieg von Rechtsextremismus, Rassismus und Populismus einhergeht. In manchen arabischen Ländern glaubt man, der Schulterschluss mit dieser Allianz könne Volk und Regierungen Schutz bieten und sie vor Repressionen bewahren. Aus meiner Sicht manövriert man sich damit vom Regen in die Traufe. Diese Bündnisse helfen weder beim Aufbau einer Demokratie noch bei der Durchsetzung von Menschenrechten und sie stärken auch nicht die konstruktiven Reformkräfte in der Region.

Welche anderen Strategien und Optionen stehen der PLO zur Verfügung – abgesehen davon, den von Amerika vorgeschlagenen «Jahrhundert-Deal» zurückzuweisen?

Das ist sehr schwer zu sagen, denn jedes Mal, nachdem die Großmächte unsere realistischen Optionen zunichte gemacht haben, diktiert man uns, welche anderen Optionen uns noch bleiben. Momentan ist das dringlichste Problem wohl unser nacktes Überleben.

Wir stehen aber nicht alleine da. Wir mögen uns angreifbar und isoliert fühlen – was wir auch sind –, doch wir haben durchaus Freund*innen und Verbündete. Der wichtigste Aspekt ist, dass wir das internationale Recht, die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht auf unserer Seite haben müssen. Wir müssen Wege finden, Israels Rechtsverstößen Einhalt zu gebieten und es zur Rechenschaft zu ziehen, sei es vor dem Internationalen Strafgerichtshof oder dem Internationalen Gerichtshof. Es gibt derzeit ein stärkeres öffentliches Bewusstsein für unsere Situation und ein Netzwerk von Menschen, die solidarisch mit Palästina sind und unsere Ansichten und Überzeugungen teilen: Minderheiten, Frauen*gruppen, Hispanoamerikaner*innen und Menschen, die in akademischen Kreisen und in Thinktanks etc. tätig sind. Trotz der Drohungen und Bemühungen, jedwede Kritik an Israel abzuwürgen, gibt es Menschen, die sich für uns einsetzen.

Darin liegt unsere Hoffnung für die Zukunft, denn diese Menschen sind es, die der vorherrschenden zionistischen Ideologie und der Überidentifikation mit Israel im Westen etwas entgegensetzen können. In Deutschland z.B. gibt es derzeit große Bemühungen, die BDS-Kampagne zu kriminalisieren und jede Kritik an Israel mit «Antisemitismus» gleichzusetzen, was natürlich absurd ist. Es ist deshalb unsinnig, weil Israel zwar die Vorzüge und Privilegien der Staatlichkeit genießt, sich aber gleichzeitig weigert, internationales Recht zu befolgen und sich an zivilisatorische Standards zu halten. Die Leute sollten sich also nicht davon abhalten lassen, Israel zu kritisieren, denn das hat nichts mit Religion oder Antisemitismus zu tun – ganz im Gegenteil: Man kann sich dabei auf weltweit gültige Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und Menschenrechte berufen. Und es kann nicht sein, dass die Palästinenser*innen das einzige Volk sind, denen man diesen gesetzlichen Schutz vorenthält.

Andernfalls wird sich eine Dynamik fortsetzen, die zu immer mehr Chaos und Extremismus führt und wirklichen Antisemitismus letztlich befördert: Wenn nämlich jede Kritik an Israel als antisemitisch gilt, dann wird das vielen rassistischen und antisemitischen Kräften in den USA, die vorgeben, Israel zu unterstützen, eine Hintertür für ihren tatsächlichen Antisemitismus bieten. Die Zunahme von Rassismus, Islamophobie und Xenophobie geht mit einem großen Potenzial für Antisemitismus einher.

Auf palästinensischer Seite besteht Einigkeit darüber, sowohl den Manama-Gipfel als auch den «Jahrhundert-Deal» abzulehnen. Alle Palästinenser*innen-Fraktionen haben das ausdrücklich bestätigt. Damit kommt auch die Frage nach der Versöhnung von Fatah und Hamas wieder ins Spiel, vor allem auch deshalb, weil Gaza das Schicksal droht, durch die israelische Besatzung eingekesselt und von der Außenwelt abgeschnitten zu werden. Wird es also ernsthafte Bemühungen um eine Einigung geben?

Es klingt immer so einfach: Warum könnt ihr euch nicht einigen? Die Situation ist extrem kompliziert, und zwar, weil es so viele Interessenparteien gibt. Viele davon befinden sich natürlich in Palästina, doch es gibt sie auch außerhalb. Der entscheidende Faktor ist die Besatzung selbst. Netanjahu hat offen zugegeben, dass er unsere Spaltung aufrechterhalten möchte. Er hat diese Spaltung zwar nicht verursacht und trägt auch nicht wesentlich dazu bei, doch letztlich spielt sie Israels Absichten in die Hände und führt dazu, dass die Rechte der Palästinenser*innen ausgehöhlt werden und man ihr Anliegen nicht mehr nachvollziehen kann. Die palästinensische Öffentlichkeit als Ganzes betrachtet steht aber voll und ganz dahinter, dass Palästina seine Streitigkeiten beilegt und sich – in territorialer, demografischer, politischer, struktureller und institutioneller Hinsicht – wieder vereint. Dazu braucht es zunächst einmal den politischen Willen, im Sinne der nationalen Agenda Palästinas zu handeln. Doch seit 2007, also mittlerweile seit 12 Jahren, ist etwas ganz anderes auf dem Vormarsch, nämlich persönliche Interessen, Privilegien, Vorteile, Klassenbildung. Es sind also diejenigen Leute auf dem Vormarsch, die davon profitieren, unsere Zerrissenheit aufrechtzuerhalten. Der einzige Weg, eine Zukunftsperspektive zu entwickeln, liegt in einer grundsätzlichen Versöhnung. Die lässt sich aber nicht herbeizaubern, man kann sie nicht einfach verkünden und dann ist sie da. Vielmehr gilt es neu anzufangen, und zwar systematisch: also institutionell und strukturell. Als erstes muss es Wahlen geben. Wir müssen die Leute wieder erreichen, und Wahlen sind dabei die wirkliche Herausforderung – und auch ein Akt des Widerstands, denn Israel wird nicht zulassen, dass wir freie und faire Wahlen haben. Wir leben in Unfreiheit, also werden wir kämpfen müssen. Wir brauchen Wahlen, und dann müssen wir bei den Regierungsinstitutionen ansetzen. Meiner Meinung nach gibt es dafür auch genügend öffentlichen Druck, denn die Öffentlichkeit ist inzwischen kritischer, weil sie sehen, wie sehr wir uns bemühen, die Entwicklungen zu beeinflussen und eine Schlichtung zu erreichen.  

Kann man die ganze Situation – angesichts dessen, dass die Verhandlungen gescheitert sind, dass Israel seine Besatzung und Annexion des Westjordanlands fortsetzt, dass die USA vollkommen einseitig für Israel Partei ergreifen – als Ende der Zweistaatenlösung betrachten?

Der eigentliche Todesstoß ist Israels Expansionismus und seine Ausweitung Großisraels auf das gesamte historische Gebiet Palästinas. Darin liegt die Gefahr und das Ende der Zweistaatenlösung. Aber es muss klar sein, dass die Zweistaatenlösung nie unsere bevorzugte Lösung, unser Wunsch oder unsere Forderung war. Sie ist ein Kompromiss, ein Zugeständnis, das wir gemacht haben: Die PLO hat Israel 78 Prozent der Fläche Palästinas zugestanden und sich mit nur 22 Prozent der Fläche des historischen Palästinas als Hoheitsgebiet des palästinensischen Staates abgefunden.

Für mich liegt darin eine sehr bittere Ironie: Es sind Israel und der Rest der Welt, die die Chance verpasst haben, die Zweistaatenlösung zu akzeptieren. Dieses Angebot zu machen, war für die Palästinenser*innen nicht einfach, für viele war es sehr schmerzvoll und viele sehen darin immer noch eine große Ungerechtigkeit. Heute ist selbst dieser Standpunkt verpönt, und Israel ist damit beschäftigt, von den 22 Prozent, die uns geblieben sind, weiteres Land und Ressourcen zu stehlen und seine grausame Kontrolle über unser Leben zu behaupten. Siedlungen kann man prinzipiell zwar wieder rückgängig machen, doch das wird extrem schwierig sein. Denn je weiter die Expansion fortschreitet, umso schwieriger wird es, die Siedlungen wieder abzubauen, um die palästinensischen Gebiete in einen echten und zukunftsfähigen Staat Palästina einzugliedern.   

Ich möchte daher gerne die Frage stellen, was die Welt für einen Vorschlag machen wird, anstatt was den Palästinenser*innen einfällt. Wir waren nicht diejenigen, die entschieden haben, Israel auf palästinensischem Gebiet zu gründen. Wir hatten nie eine Armee und haben nie Krieg geführt. Ganz im Gegenteil: Wir waren immer die Leidtragenden der Gewalt. Die Welt hat einen ungeheuren Druck ausgeübt, um die Palästinenser*innen dazu zu überreden, dass sie nicht nur die Resolution 181 akzeptieren, sondern auch die Resolution 242 und die Resolution 338, die die Grenzen von 1967 festgeschrieben hat. Und als wir dann zugestimmt hatten, hieß es, das reicht nicht, Israel hat das leider hinfällig gemacht – was schlagt ihr vor, was wir tun sollen? Und nun sagen wir der Welt: Was schlagt ihr vor, was wir tun sollen? Ihr habt ratlos zugeschaut, ohne einzugreifen, habt zugeschaut, wie Israel den Frieden zerstört, wie es die Chancen auf Frieden zerstört und wie es die Chancen auf einen palästinensischen Staat zerstört. Und anstatt Israel zur Rechenschaft zu ziehen, fragt ihr die Palästinenser*innen – also die schwächere Seite –, was habt ihr für Alternativen zu bieten, was schlagt ihr vor? Ich denke, wenn Israel das ganze palästinensische Gebiet für sich beansprucht, dann müssen wir wieder ganz zurück an den Anfang gehen und sagen: Nein, ganz Palästina gehört uns, wir wollen es nicht teilen. Aber dann sind wir wieder am Punkt Null. Die extreme, absolute Ideologie Israels ruft eben Gegenreaktionen hervor. Es sind Reaktionen auf die ungeheuerlichen Bestrebungen, eine ganze Nation und ihre Kultur, Geschichte, Identität und Rechte für nichtig zu erklären. Das heißt also nicht nur, dass wir inexistent sind, sondern dass uns jede Menschlichkeit abgesprochen wird, dass wir entmenschlicht werden und daher keinen Anspruch auf rechtlichen Schutz haben. Das ist extrem bedenklich und schafft einen sehr gefährlichen Präzedenzfall für den Rest der Welt. Ich denke, wir sollten die internationale Staatengemeinschaft bzw. das internationale Staatensystem hier in die Verantwortung nehmen und sie dafür zur Rechenschaft ziehen, dass sie Israel einfach so walten lassen. Gerade jetzt, wo die US-Regierung zu Israels Komplizin geworden ist. Wenn sie also keine Zweistaatenlösung wollen, dann verlange ich, dass sie einen Plan für eine Einstaatenlösung vorstellen, für einen demokratischen Staat. Ich will einen konkreten, umsetzbaren Vorschlag – jetzt, wo sie zugelassen haben, dass Israel die Zweistaatenlösung über den Haufen wirft, obwohl sie eigentlich ihre Präferenz war und nicht unsere.


[1] Mit dem Oslo-II-Abkommen (1995) wurde das von Israel besetzte Westjordanland in drei Verwaltungseinheiten A, B und C aufgeteilt. Die Area-A wird von den palästinensischen Behörden verwaltet.

[2] Das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) ist eine proisraelische Lobbyorganisation in den USA.