News | Kapitalismusanalyse - Globalisierung - Gesellschaftstheorie In memoriam Immanuel Wallerstein

Zum Tod des Soziologen und Begründers der Weltsystemanalyse

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Erhard Crome,

Immanuel Wallerstein während eines Interviews 2015 CC BY-NC 2.0, Brennan Cavanaugh

In der Vorbemerkung zum ersten Band seiner großen Geschichte des modernen Weltsystems bezog sich Immanuel Wallerstein insbesondere auf den französischen Historiker Fernand Braudel, dessen umfangreiche Schriften ihn «zu dem Weg angeregt haben, den ich schließlich eingeschlagen habe». Dabei betonte er: «Fernand Braudel hat meinen ersten Entwurf sorgfältig gelesen und mich zur Weiterarbeit ermutigt» (Wallerstein 1986: 10). Damit hatte Wallerstein, geboren 1930, das Thema seines Lebens gefunden, die Geschichte des Weltsystems, das zunächst noch ein europäisches Weltsystem ist und sich dann globalisiert. Die Anfänge setzte er ab 1450 an.

Fernand Braudel (1902-1985) – führender Vertreter der französischen «Annales»-Schule des 20. Jahrhunderts, die Geschichte stets als umfassende Sozialgeschichte untersucht hat – betonte, dass die Ausbildung des Weltsystems nicht zu einer allgemeinen Nivellierung der Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse führt. So würdigte er den eine Generation jüngeren Wallerstein, indem er ihn in seiner «Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts» ausführlich zitierte, zugleich jedoch deutlich machte, dass für ihn der europäische Kapitalismus nicht erst im 16. Jahrhundert beginnt, sondern bereits im 13. Jahrhundert in Italien – wobei er sich hier ausdrücklich auf Marx bezog (Braudel 1990: 57).

Immanuel Wallerstein stammte aus einer jüdischen Familie, die ursprünglich aus Deutschland kam, lange in Osteuropa gelebt hatte, im 19. Jahrhundert nach Deutschland gewandert war, das sein Vater dann 1920 in Richtung USA verließ. In New York wurde Wallerstein geboren, studierte Soziologie, promovierte und lehrte von 1976 bis zur Emeritierung 1999 an der staatlichen Binghampton Universität in New York. Hier gründete und leitete er von 1976 bis 2005 das «Fernand Braudel Center», das zum Zentrum der Analyse des Weltsystems wurde. Wallerstein wird als einer der Begründer der Weltsystem-Theorie betrachtet, wobei er selbst stets Wert auf die Analyse legte und sich nicht als Begründer einer Theorie ansah.

Als Wallerstein in den 1970er Jahren mit dem ersten Band begann, konzipierte er vier Bände: (I) die Anfänge und die frühen Phasen des Weltsystems 1450-1640; (II) die Konsolidierung des Systems 1640-1815; (III) die Umwandlung dieser Weltökonomie in ein weltweites Unternehmen 1815 bis 1917 und (IV) die Konsolidierung dieser kapitalistischen Weltökonomie seit 1917 bis zur Gegenwart (Wallerstein 1986: 23). Hier ist zu betonen, dass Wallerstein in seiner Analyse davon ausging, dass die «sogenannten sozialistischen Staaten […] niemals autonome Einheiten waren und stets innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Weltwirtschaft operierten, gebunden an die Verfahrensweisen des interstaatlichen Systems, und dass sie nicht die Funktionsweise eines alternativen historischen Systems […] darstellen konnten» (Wallerstein 2002: 80).

Bei der Arbeit am zweiten Band stellte Wallerstein fest, dass die Geschichte nicht erst 1640 fortgesetzt werden konnte, sondern er zurückgehen musste auf 1600. Die Geschichte der Weltwirtschaft unter niederländischer Hegemonie hatte 1600 oder schon früher begonnen, war jedoch nicht 1640 zu Ende; gehörte aber nicht in die Geschichte des langen 16. Jahrhunderts, das Gegenstand des ersten Bandes war. Hinzu kam die Frage, wann welche Konzepte eingeführt wurden – im 16. Jahrhundert gab es keine Hegemonialmacht, deshalb konnte das Konzept nicht im ersten Band dargestellt werden. Die Niederländer waren die erste Hegemonialmacht im modernen Weltsystem, gefolgt von Großbritannien und später den USA. Insofern war im Band II der Begriff der Hegemonie einzuführen, worauf sich in den folgenden Bänden zu beziehen war. Damit kam Wallerstein auf das Konzept «der überlappenden Zeiträume», wonach im Band II die Konsolidierung der europäischen Weltwirtschaft von 1600 bis 1750 beschrieben wurde; Band III den Zeitraum von 1730 bis 1840 behandelt, «die Geschichte der erneuten Expansion, der wirtschaftlichen und geografischen Ausweitung der kapitalistischen Weltwirtschaft» (Wallerstein 2012: 8f.). Der Band IV sollte nun von 1789 bis 1914 reichen, befasst sich eigentlich aber mit der Entwicklung bis 1875, dem «zentristischen Liberalismus als Ideologie» und dann der Bildung der historischen Sozialwissenschaften und ihren Folgen (ebenda, 9, 12f.). Dazu resümierte Wallerstein, dass es bis zum langen 19. Jahrhundert «eine Trennung zwischen der politischen Ökonomie des Weltsystems und seiner diskursiven Rhetorik» gab. Die kulturellen Auswirkungen der französischen Revolution machten es jedoch «zwingend erforderlich […], diese Trennung durch die drei Hauptideologien des modernen Weltsystems zu überwinden: Konservatismus, Liberalismus und Radikalismus». Der Liberalismus war die zentristische Doktrin, weder der Linken noch der Rechten zugehörig. Alle drei behaupteten, gegen den Staat zu sein, aber keine von ihnen war «in der Praxis antistaatlich». Am Ende «zähmte» der Liberalismus die beiden anderen Ideologien und verwandelte sie «praktisch in Ausdrucksformen des Liberalismus», er wurde «zur vorherrschenden Doktrin der Geokultur des Weltsystems» (ebenda, 321). – Hier wäre, das nebenbei, aktuell ein Ausgangspunkt, von dem aus über die Nivellierungsprozesse im deutschen Parteiensystem nachzudenken wäre.