News | Soziale Bewegungen / Organisierung - International / Transnational - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus Die Revolution der 99 Prozent

Die Protestbewegung im Libanon erfasst alle Teile der Bevölkerung

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Eva Dingel,

Demonstration in Beirut Ende Oktober 2019
Demonstration in Beirut Ende Oktober 2019 Foto: Lilli Mauthofer

Seit Ende Oktober 2019 entfaltet sich im Libanon nichts weniger als eine Revolution – das Land ist seither durch Demonstrationen lahmgelegt, an denen sich Bürger*innen aller Klassen, Regionen und religiöser Hintergründe beteiligen, eine für Libanon sehr ungewöhnliche und seit den späten 1960er Jahren nicht dagewesene Entwicklung. Unter anderem mit dem Slogan «Killon ya3ni killon» («Alle meint alle») fordern die Demonstrant*innen die endgültige Abschaffung des nepotistischen, korrupten Klientelsystems, mit dessen Hilfe die politischen Eliten gemeinsam seit den 1990er Jahren das Land beherrschen und seine ökonomischen Ressourcen unter sich aufteilen. Dies geschieht zum Nachteil der Bevölkerung, die seit Jahrzehnten unter diesem Arrangement leidet und es sehr lange mit einer Mischung aus Resignation, Sarkasmus und Humor ertragen hat, bis sich im Oktober 2019 die lange aufgestaute Frustration schließlich Bahn brach und zum Rücktritt der Regierung unter Premierminister Saad Hariri am 29. Oktober 2019 führte.

Eva Dingel hat im Rahmen ihrer Forschung länger im Libanon gelebt, 2016 erschien ihre Dissertation über die Hisbollah und die ägyptischen Muslimbrüder bei I.B. Tauris/Bloomsbury unter dem Titel «Power Struggles in the Middle East». Sie lebt und arbeitet in Berlin als freiberufliche Autorin, Projektberaterin und Gründerin eines politischen Dialogprojekts.

Wie kam es dazu? Zum einen ist das Fehlen grundlegender Infrastruktur und der offensichtlich mangelnde Wille unzähliger aufeinanderfolgender Regierungen, daran etwas zu ändern, seit langem eine Quelle der Verzweiflung sowie auch eine finanzielle Belastung für die Bevölkerung. Elektrizität gibt es in den meisten Landesteilen nur einige Stunden pro Tag, wer mehr möchte, muss für Generatoren bezahlen. Ähnlich funktioniert die Wasserversorgung: Auch hier schafft es der Staat nicht, die Bürger*innen mit sauberem oder auch nur mit ausreichend Wasser zu versorgen, weshalb viele privat dazukaufen müssen.

Bereits 2015 kam es zu landesweiten Protesten, als das Müllentsorgungssystem aufgrund von Interessenkonflikten innerhalb der Politik praktisch zum Erliegen kam. Monatelang türmten sich in der Sommerhitze Müllberge im ganzen Land auf, die staatlichen Planer waren bis heute nicht in der Lage, nach Überfüllung der existierenden größten Müllhalde des Landes eine neue Einlagerung von Abfällen zu organisieren. Unterdessen häufen die Führungen der verschiedenen politischen Gruppierungen ungestört Reichtümer an und transferieren sie auf ausländische Bankkonten. Erst im September 2019 wurde bekannt, dass Premierminister Saad Hariri 16 Mio. US-Dollar an ein südafrikanisches Model überwiesen hatte, mit dem er eine Affäre gehabt haben soll.

Im September und Oktober 2019 kamen dann zu diesen lange schwelenden Belastungen für die Bürger*innen weitere akute Probleme hinzu. Große Waldbrände brachen im Shouf-Gebirge aus und zerstörten ganze Landstriche. Die Feuerwehren mussten mehr oder weniger hilflos dabei zusehen: Die aus dem Ausland gespendeten Helikopter zur Feuerbekämpfung waren aufgrund mangelnder Wartung unbrauchbar geworden. Menschen versuchten verzweifelt und vergeblich, mit Eimern und Gartenschläuchen den Feuerbrünsten Einhalt zu gebieten und waren wütend über die Unfähigkeit der Regierung.

Seit dem Frühjahr 2019 war es zudem immer wieder zu temporären Schließungen von Tankstellen und teilweise zu Rationierungen von Lebensmitteln gekommen, da sich das Land in seiner seit Jahren heftigsten Budget- und Liquiditätskrise befindet. Die enorme Staatsverschuldung – rund 150 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts – verhindert effektives Wirtschaftswachstum, was dazu führt, dass das Land  unter anderem auf Hilfszahlungen aus dem Ausland angewiesen ist. Frankreich hatte im Frühjahr 2019 Hilfsgelder zurückgehalten und wirtschaftliche Reformen gefordert, was die Regierung mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer und Rentenkürzungen für Beamt*innen beantwortete. Angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten sowie einer Arbeitslosenquote von rund 20 Prozent führte dies zu immer wieder aufflackernden Protesten.

Mitte Oktober kündigte die Regierung dann ein neues Instrument an: die Besteuerung kostenloser WhatsApp-Anrufe. Wegen der ohnehin hohen Telefonkosten bieten kostenlose Anrufe über das Internet eine wichtige Entlastung für Nutzer*innen. Am 17. Oktober begann daraufhin die aktuelle Protestwelle, und von der WhatsApp-Steuer verschob sich der Fokus schnell auf weitreichende Forderungen nach dem Ende des korrupten Regierungssystems und dem Rücktritt aller seiner Mitglieder, egal welcher Religionsgruppe sie angehören oder welche Patronage und Unterstützung sie anbieten; deshalb auch der Slogan «Alle meint alle». Seither gingen nicht nur Hunderttausende im Rahmen von dezentral organisierten Protesten auf die Straße, blockierten Verkehrsadern, brachten das wirtschaftliche Leben zum Erliegen und forderten Neuwahlen und die Einrichtung eines Verhältniswahlrechts ohne die bisher existierende Quotierung von Ministerposten nach Religionszugehörigkeit. Bemerkenswerter- und mutigerweise widersetzten sich die Demonstrant*innen auch den üblichen Einschüchterungstaktiken der politischen Klasse. Diese bestehen in Warnungen vor einem Neuausbruch des Bürgerkriegs – dem stellten die Demonstrant*innen unter anderem eine Menschenkette vom Norden bis in den Süden des Landes entgegen, über alle Religionsgrenzen hinweg. In Tripoli, wo sich seit Jahrzehnten Sunnit*innen und Alawit*innen immer wieder auch gewaltsam bekämpfen, gingen die beiden Gruppen nun gemeinsam auf die Straße und sendeten damit ein wirkmächtiges Signal an die Eliten: Eure Angstmache funktioniert nicht! Im Südlibanon rissen Menschen Poster des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah nieder, eine bisher nie dagewesene Geste der Revolte; Gleiches geschah mit Plakaten von Nabih Berri, dem Anführer der ebenfalls schiitischen Amal-Bewegung.

Auch die sich wiederholt verbreitenden Gerüchte eines bevorstehenden Zusammenbruchs der libanesischen Lira hielten die Menschen nicht von den Straßen fern. Genauso wenig tat dies die normalerweise ultimative Geste: Eine Ansprache Nasrallahs, in der er sich der «Beleidigungen» durch die Demonstrant*innen erwehrte, gefolgt von Hisbollah-Anhängern, die die Protestcamps im Zentrum Beiruts und anderswo gewaltsam zerstören und Demonstrant*innen verprügeln. Dahinter steht immer die Drohung, dass die Hisbollah als einzige bewaffnete nichtstaatliche Gruppierung im Libanon die Proteste auch gewaltsam beenden könnte. Auch hiervon ließen sich die Demonstrant*innen nicht abhalten: am darauffolgenden Tag waren erneut Zehntausende auf dem Riad-Solh-Platz im Zentrum Beiruts, um gemeinsam zu demonstrieren, zu feiern und weiter den Rücktritt aller korrupten Politiker*innen zu fordern. Anfang November 2019 gehen die Proteste nun in ihre vierte Woche.