Interview | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - Partizipation / Bürgerrechte - International / Transnational - Europa - Westeuropa Dialog ist der einzige Ausweg

Nach den drakonischen Strafen für Vertreter*innen der Unabhängigkeit Kataloniens wurde eins klar: Das politische System in Spanien muss reformiert werden.

«Tsunami Democratic»
«Tsunami Democratic»: Mit einer Aufforderung zum Dialog demonstrieren Menschen vor dem regionalen Büro der spanischen Regierung in Barcelona am 21. Oktober 2019. Jose Jordan / AFP

Im Oktober 2019 fanden in ganz Katalonien Demonstrationen mit hunderttausenden Teilnehmer*innen statt. Straßen und der Flughafen in Barcelona wurden blockiert. Die Proteste richteten sich gegen die hohen Haftstrafen gegen bekannte Unabhängigkeits-Aktivist*innen. Wir sprachen vor den Neuwahlen in Spanien am 10. November mit Alícia Puig und Elena Tarifa von der linken Organisation Barcelona en Comú.

  
Rosa-Luxemburg-Stiftung: Schön, dass ihr da seid. Wir würden gern ein paar Fragen stellen zur aktuellen Lage in Barcelona und Katalonien. Als Erstes wollen wir für unsere Stiftung und unsere Leser*innen wissen: Was ist geschehen? Was sind die Gründe, was war der Auslöser für die Proteste in Katalonien?

Alícia Puig: Also, vor zwei Jahren, am 1. Oktober 2017, haben wir in einem Referendum, was von der Zentralregierung nicht anerkannt wurde, für die Unabhängigkeit Kataloniens gestimmt. Und dann sind viele Dinge passiert. Einige unserer Politiker*innen, die in der katalonischen Regierung waren, und einige Vertreter*innen von katalonischen Gruppen wurden verhaftet. Ihnen wurde der Prozess gemacht. Am Montag, den 14. Oktober 2019, ist nun das Urteil verkündet worden: Man hat sie zu neun bis zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Das hat die Menschen in Katalonien dazu gebracht, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Alle bzw. alle, die sich an den Protesten beteiligt haben, sind der Meinung, dass das Urteil ungerecht ist.

Elena Tarifa: Und natürlich haben sich die meisten derjenigen, die auf der Straße waren, für die Rechte und die Freiheit der Beschuldigten eingesetzt. Diese Bewegung wird angeführt von Befürworter*innen der Unabhängigkeit. Aber am Protest und an den Demonstrationen nehmen nicht nur Unabhängigkeitsaktivist*innen teil. Viele demonstrieren auch gegen das ungerechte Urteil, weil sie meinen, dass diese Art von Konflikt politisch geregelt werden muss.  

Wir haben Massendemonstrationen und viele Kundgebungen gesehen, aber auch Formen des zivilen Ungehorsams. Könnt ihr mir an ein oder zwei Beispielen deutlich machen, was gerade auf den Straßen passiert?

Alícia: Nachdem das Urteil am Montagmorgen um elf Uhr verkündet worden war, wurde sehr schnell eine Organisation gegründet mit dem Namen «tsunami democratic» – also demokratischer Tsunami. Und von dort hieß es, dass wir den Flughafen besetzen sollten. Also gingen viele Menschen auf die Straßen und zum Flughafen, um ihn zu besetzen. Das war die erste Massenaktion: die Besetzung des Flughafens. Das Problem ist allerdings, dass die Infrastrukturen in Spanien von der Bundespolizei kontrolliert werden. Damit begann der erste Tag der Konfrontation und Repression, weil die Polizei die Menschen, die den Flughafen besetzten, wieder vertreiben wollte. Hier fing die Repression also an. In den folgenden Tagen drehten sich die Proteste um die Ungerechtigkeit des Urteils, aber richteten sich zunehmend auch gegen die Repression, die am Montag begonnen hatte.

Elena: Was die Repression betrifft, so berichteten Demonstrant*innen, dass die Polizei wirklich gewalttätig gegen sie vorgegangen sei, um sie zu stoppen. Ich meine, natürlich hat die Polizei die Verantwortung für die öffentliche Ordnung. Aber insgesamt haben sie überreagiert, was diese Demonstrationen angeht.

Alícia Puig ist Aktivistin in der munizipalistischen Plattform Barcelona en Comú, die seit 2014 die katalonische Hauptstadt regiert. Seit den Kommunalwahlen im Mai 2019 ist sie Stadträtin im Bezirk Eixample.

Elena Tarifa ist Journalistin und Aktivistin bei Barcelona en Comú. Sie ist Stadträtin im Bezirk Horta-Guinardó in Barcelona und koordiniert die Internationale Kommission von Barcelona en Comú.

Und was, meint ihr, sind die Konsequenzen dieser Polizeigewalt? Und angesichts der aktuellen Situation: Seht ihr eine Möglichkeit, miteinander in einen Dialog zu treten, oder ist das derzeit überhaupt nicht möglich?

Elena: Zurzeit scheint es, als gäbe es keine Möglichkeit für ein Gespräch. Wir glauben, dass die politischen Akteure, die hauptsächlich in dem Konflikt verwickelt sind, nicht wirklich reden wollen. Ich meine, die Einzige, die sich wirklich für einen ehrlichen Dialog einsetzt, ist unsere Bürgermeisterin in Barcelona, Ada Colau. Sie ist die einzige öffentliche Person, die einen Dialog zwischen den verschiedenen Konfliktparteien einfordert.

Was die spanische Regierung betrifft, so haben wir Neuwahlen am 10. November. Deshalb will sich die Regierung keinen Schritt in diesem Konflikt bewegen. Und so geht es in ihren öffentlichen Erklärungen nur um die öffentliche Sicherheit und Ordnung, also um mehr Polizei und den Versuch, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Aber sie bewegen sich nicht in Richtung eines politischen Dialogs. Und auch die katalonische Regierung spielt eine problematische Rolle, weil sie einerseits ihre institutionelle Funktion nicht ausübt und andererseits nur einen Teil der katalonischen Bevölkerung vertritt, eben die Unabhängigkeitsbewegung. Somit ist sie selbst Teil des Konflikts. Beide Regierungen sind also nicht bereit für einen politischen Dialog. Das ist aber meiner Meinung nach der einzige Ausweg.

Meint ihr, es gibt eine Möglichkeit, vielleicht nicht das Problem, aber diese festgefahrene Situation nach den Wahlen am 10. November aufzulösen? Oder meint ihr, der Konflikt wird auch noch in den nächsten Jahren fortbestehen?

Alicia: Das Problem ist, und das ist schwer für mich nachzuvollziehen, dass die Einheit Spaniens scheinbar eine nicht verhandelbare  Grundlage für unseren Staat bildet. Unsere Partei, Podemos, ist die einzige, die ein Referendum über die Zukunft Kataloniens akzeptieren würde. Aber keine andere Partei würde jemals darüber auch nur nachdenken. Die Einheit Spaniens ist etwas, was die Menschen nicht hinterfragen. Das ist die eine Seite. Und dann gibt es viele Katalan*innen, die für die Unabhängigkeit sind. Und sie machen die Mehrheit aus. Dementsprechend denke ich nicht, dass wir innerhalb der nächsten fünf Jahre zu einer Lösung kommen werden. Aber ich denke, das Positive, was sich aus dieser Situation herausziehen lässt, ist, dass es jetzt Demonstrationen in ganz Spanien gibt, die das ungerechte Urteil beklagen und dass das Gericht von Politiker*innen beeinflusst wurde. Und dass wir eine Polizei haben, die Menschen mit Gewalt unterdrückt. Wenn wir es schaffen, der spanischen Bevölkerung zu vermitteln, dass die Gewaltenteilung schwach ist und wir eine repressive Polizei haben, dann können wir alle etwas daraus mitnehmen – obwohl der Katalonien-Konflikt nicht innerhalb der nächsten Jahre gelöst werden wird. Das wird ein langfristiger Prozess sein. Vielleicht können wir dann auch über neue wirtschaftliche Vereinbarungen oder neue Autonomierechte für Katalonien diskutieren.

Elena: Ich denke, das ist kein Problem Kataloniens, sondern allgemeiner eines des spanischen Staates. Was unsere Partei einfordert, ist, ein Referendum abzuhalten, um die Verfassung in vielen Punkten zu ändern, von denen wir glauben, dass sie notwendig sind, um den spanischen Staat zu reformieren. Und ich meine, viele Menschen in Spanien würden dem zustimmen, dass wir eine Reform des politischen Systems in Spanien brauchen, das noch aus dem Übergang von der Diktatur stammt und vielleicht immer noch nicht sehr demokratisch ist. Zudem passt es nicht zu der realen Situation des Landes. Das betrifft nicht nur die Vielfalt an nationalen Identitäten, sondern auch die institutionellen Strukturen. Vielleicht gibt es Leute, die sich für einen föderalen Staat aussprechen würden oder für eine Republik statt einer Monarchie ...

Wir glauben, dass dies ein Problem ist. Die Regierenden in Spanien wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, und sich nichts verändert. Und was das Zweiparteiensystem (bipartidismo) in Spanien angeht: Es schien schon überwunden, und jetzt haben wir gesehen, dass dies vielleicht nicht der Fall ist. Ein politisches System mit mehr Teilhabemöglichkeiten könnte helfen. Deswegen glaube ich, dass es einen grundlegenden Reformbedarf in Spanien gibt.
Zwar liegt der Fokus aktuell auf Katalonien, aber ich meine, dass er dort nicht liegen sollte. Und wie Alícia denke ich, dass sich viele Menschen in Spanien bewusst sind, dass diese Art von Rechtsprechung auch in weiteren Fällen angewendet werden kann, um andere Bewegungen und die Meinungsfreiheit zu unterdrücken. Nicht nur in Katalonien, sondern auch, wenn Menschen etwa im Falle einer Wirtschaftskrise demonstrieren wollen. Vor Kurzem haben wir dies gesehen, als Menschen Zwangsräumungen in Barcelona verhindern wollten und die Polizei sich ihnen gegenüber sehr gewaltbereit verhalten hat. Deswegen glaube ich, dass die rechtliche Lage sehr bedenklich ist – der Tatbestand der Aufwiegelung kann auch in anderen Fällen angewandt werden, um Proteste zu unterdrücken. Dessen sollten sich die Menschen in Spanien bewusst werden: Diese Entwicklung ist gefährlich, unabhängig davon, was du von der katalonischen Unabhängigkeit hältst oder ob die katalonische Bewegung das Recht haben sollte, über die Unabhängigkeit abzustimmen oder nicht.
Die Unabhängigkeitsbewegung war bisher sehr friedlich bzw. ist es im Kern immer noch. Das eigentliche Problem ist die zunehmende Repression. Die gleichen juristischen Tatbestände, das gleiche Vorgehen der Polizei könnten in anderen Fällen angewendet werden – und das ist gefährlich für die Demokratie in Spanien und überall.