News | International / Transnational - Krieg / Frieden - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Türkei - Westasien im Fokus Kein Frieden in Nordsyrien

Verhandlungen unter Bombenhagel

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Ismail Küpeli,

Kobanê, 2018
Fußgängerzone in Kobanê, 2018: Noch vor zwei Jahren war diese Straße von Trümmern bedeckt und ein großer Teil der Häuser zerstört. Foto: Mark Mühlhaus, attenzione-photo.com

Der türkische Angriffskrieg gegen Rojava in Nordsyrien dauert nun schon mehr als einen Monat an. Er hat bereits hunderte Menschen das Leben gekostet und Tausende vertrieben. Die zwischen der Türkei, den USA und Russland beschlossenen Waffenruhen haben kein Ende der Offensive bewirkt. Vielmehr dauern die türkischen Angriffe im Norden Syriens an.

Der Großangriff auf die kurdische Autonomieregion Rojava, die den zynischen Titel «Operation Quelle des Friedens» trägt, begann am 9. Oktober mit Luft- und Artillerieangriffen auf die kurdisch-syrischen Grenzstädte und -dörfer. Anschließend marschierte die türkische Armee gemeinsam mit islamistischen und jihadistischen Milizen in Nordsyrien ein und es kam im gesamten türkisch-syrischen Grenzgebiet zu Gefechten mit den «Syrischen Demokratischen Kräften» (SDF, eine Allianz aus den syrischen-kurdischen Milizen YPG, YPJ und anderer syrisch-arabischer Milizen), die die militärischen Verteidungskräfte für Rojava bilden. In diesen Kämpfen wurden bisher hunderte mit der Türkei verbündete Milizionäre und SDF-Kämpfer*innen getötet. Viele Zivilist*innen wurden ebenfalls Opfer der Gefechte in den Wohngebieten. Schätzungen zufolge wurden mehrere hundert Zivilist*innen durch die Gefechte getötet.

Am 17. Oktober vereinbarten die USA und die Türkei eine vorübergehende Waffenruhe von fünf Tagen, in der die SDF-Kämpfer*innen sich aus dem gesamten Grenzgebiet zurückziehen sollten. Aber die SDF war nicht in die Verhandlungen einbezogen und akzeptierte das Wafffenstillstandsabkommen nicht vollumfänglich. Die Türkei hielt sich ohnehin nicht an die Waffenruhe und setzte ihre Offensive einfach fort. So wurden am 18. Oktober bei einem türkischen Luftangriff auf die Grenzstadt Serekaniye 14 Zivilist*innen getötet. Die SDF meldet 190 Verstöße der Türkei gegen die Waffenruhe. Ihr zufolge habe es mindestens 82 Luftangriffe seit dem Beginn der vermeintlichen Waffenruhe einen Tag zuvor gegeben. Eine weitere vorübergehende Waffenruhe wurde am 22. Oktober von Russland und der Türkei vereinbart, die auch die gemeinsamen türkisch-russischen Patrouillen in einigen Grenzgebieten umfasst – so etwa in der Kobane-Region. Darüber hinaus rückten Truppen des Assad-Regimes in einige Gegenden Nordsyriens ein, nachdem das Regime und die SDF eine Vereinbarung getroffen hatten, dass die innenpolitische autonome Struktur von Rojava nicht angetastet wird. Auch die türkisch-russische Waffenruhe bedeutete kein Ende der türkischen Offensive. Laut der kurdischen Nachrichtenagentur ANF schrecken die türkische Armee und ihre islamistischen Verbündeten auch nicht vor Angriffen auf die Assad-Truppen zurück. So seien bei Angriffen in der Tell Tamer-Region am 10. November 2019 mehrere syrische Soldaten getötet worden.

Gleichzeitig finden seit dem 30. Oktober in Genf Verhandlungen zwischen dem Assad-Regime und der syrisch-arabischen Opposition unter Vermittlung der Vereinten Nation statt, in der eine neue Verfassung für Syrien beschlossen und damit der syrische Bürgerkrieg beendet werden soll. Die Autoritäten aus Rojava wurden indes nicht zu diesen Verhandlungen geladen. Die Autonomieverwaltung von Rojava erkennt daher die Gespräche und die dortigen Ergebnisse für sich nicht als bindend an und kritisiert den fortwährenden Ausschluss Rojavas aus den Verhandlungen. Bereits in der Vergangenheit wurden die Verhandlungen lediglich zwischen dem Assad-Regime und der syrisch-arabischen Opposition geführt. Rojavas Autonomieverwaltung, die einen beachtlichen Teil des kurdisch-syrischen Territoriums kontrolliert, wurde hingegen nicht als Verhandlungspartner akzeptiert. Dies zeigt, dass die bislang informell und nicht-öffentlich geführten Gespräche zwischen dem Assad-Regime und der Autonomieverwaltung von Rojava über den zukünftigen Status der Region und darüber, in wieweit sich Rojava politisch dem Assad-Regime unterordnen muss, noch zu keinem Erfolg geführt haben. Die Regierung Rojavas versucht offensichtlich, trotz des türkischen Angriffskrieges und der insgesamt prekären Lage, möglichst viel Autonomie und Eigenständigkeit zu bewahren.

Dieser Versuch scheint auch deswegen nicht von vorne herein zum Scheitern verurteilt zu sein, weil die türkische Offensive bisher keinen klaren Sieg über Rojava gebracht hat. Der Widerstand der SDF-Kämpfer*innen, in dessen Verlauf bisher laut Angaben der SDF 420 Kämpfer*innen starben, führte dazu, dass die türkische Offensive deutlich verlangsamt und die militärische Lage für die Türkei komplizierter geworden ist. Darüber hinaus verhalten sich die Großmächte USA und Russland nach wie vor eher verhalten zum türkischen Vorgehen. Sie drohen der Türkei lediglich immer wieder mit politischen Maßnahmen, falls die Türkei ihre Offensive nicht eingrenze. Wie schon zuvor beim Afrin-Krieg scheint es so, also ob die Offensiven der Türkei in Nordsyrien zwar zu großem Leid und zu immensen Zerstörungen führen. Aber die Zerschlagung Rojavas, worauf die Türkei seit der Etablierung der autonomen Verwaltung im Jahre 2013 zielt, wird auch mit dem jetzigen Angriffskrieg voraussichtlich nicht erreicht werden.

Die Zukunft der Autonomieregion Rojava war seit der Gründung stets gefährdet und das politische Projekt wurde immer von verschiedenen Gegner*innen bekämpft, so etwa von islamistischen und jihadistischen Kräften, dem so genannten Islamischen Staat, durch das Assad-Regime und eben nun durch die Türkei. In all dieser Zeit haben die Menschen in Rojava große Opfer gebracht, um die autonome Verwaltung und ihre Prinzipien, wie Pluralismus, Basisdemokratie und Frauenemanzipation, zu verteidigen. Es mag sein, dass diese Willensstärke und Leidensbereitschaft am Ende nicht ausreicht, um trotz der Angriffe der Türkei und anderer Regionalmächte zu bestehen. Es mag sein, dass der Autonomieverwaltung irgendwann die politische Unterordnung unter das Assad-Regime als das «kleinere Übel» im Vergleich zu weiteren türkischen Angriffskriegen scheint. Aber bisher kämpft Rojava dafür, möglichst viele Errungenschaften zu retten und möglichst viel Eigenständigkeit zu bewahren – und die Menschen in Rojava scheinen in ihrer Mehrheit diesen politischen Kurs zu unterstützen.