Feature | Soziale Bewegungen / Organisierung - International / Transnational - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Gesellschaftliche Alternativen - Westasien im Fokus Irak: Ein Land erschafft sich neu

Wie die Revolution im Irak sich selbst organisiert. Eine Reportage vom besetzten Tahrir-Platz in Bagdad.

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Tutuk mit dem Slogan «Hau ab» auf Arabisch, Kurdisch und Englisch
Tutuk, das dreirädrige Transportfahrzeig in Bagdad, ist zum Symbol der Revolution geworden. Hier mir dem Slogan «Hau ab» auf Arabisch, Kurdisch und Englisch. Ansar Jasim / Schluwa Sama

Selbstorganisierung auf dem Tahrir-Platz

Um auf den derzeitigen Hauptprotest-Platz zu kommen, den Befreiungsplatz (Sahit Tahrir), steigen wir am Platz der Sa´adoun-Straße aus. Dort hat die Regierung die Straße mit Mauern aus Betonblöcken gesperrt, etwas, das in Bagdad nicht unbekannt ist. Wir laufen zwischen den Straßensperren hindurch. Unbewaffnete Polizisten stehen dort. Einige Meter weiter steht der selbstorganisierte Sicherheitsdienst der Protestierenden. Hier werden Taschen nach Messern und anderen Waffen durchsucht. Es ist die erste Form der Selbstorganisation, auf die wir stoßen. Die Sicherheitsleute gehören dem «Komitee für Sicherheit» an. Es sind Frauen und Männer, die über das gesamte Gebiet der Proteste  verteilt sind, denn trotz revolutionärer Stimmung mischen sich immer wieder Unruhestifter unter die Protestierenden. Die Aktivist*innen in dem Zelt, in dem wir durchsucht werden, haben die Schicht die letzten drei Tage lang übernommen und freuen sich, dass sie die ersten  sind, die die Protestierenden und Unterstützer*innen begrüßen können.

Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.

Schluwa Sama hat in Berlin, Marburg und London, Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert und anschließend in Sulaymaniya, Kurdistan-Irak gearbeitet. Zurzeit promoviert sie zur politischen Ökonomie des Iraks und Kurdistans am Centre for Kurdish Studies, University of Exeter.

Anschließend läuft man in einen Tunnel hinein, der hier in den 70ern als Unterführung des Tahrir-Platzes gebaut wurde und den Platz eigentlich total entstellt hat. Nun aber tut sich dort eine Galerie auf. Aktivist*innen haben Künstler*innen aufgefordert, sich mit ihren Werken an der Revolution zu beteiligen. An der ca. 100 m langen Strecke entstehen täglich neue Werke. Sie tragen verschiedene Botschaften, die maßgebend für die Bewegung sind: die Rolle der Frauen in allen Bereichen, die Rolle der Tuktuk-Fahrer als Symbol für die Rolle der Unterschicht. Und überall auf den Bildern wird auf die sumerische und assyrische Geschichte des Irak als vereinendes Symbol verwiesen. Vertreten ist auch das «Türkische Restaurant», ein großes 14-stöckiges Gebäude, das besetzt wurde, und natürlich das Nasb Al-Hurriya, das Freiheitsmonument auf dem Tahrir-Platz selbst, ein Mahnmal der Geschichte der Unterdrückung der Iraker*innen während der Kolonialzeit und des Feudalismus bis zur Befreiung durch die Revolution von 1958. Der Tunnel wurde wie alle besetzen Bereiche mit Blumen dekoriert, abends werden für die Gefallenen der Revolution Kerzen angezündet. Die Selbstorganisation ist auch hier sehr deutlich und zentral: Die Protestierenden haben die Straßen organisiert: Es gibt zwei Fahrbahnen und eine Schlenderzone.