News | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Soziale Bewegungen / Organisierung - Kommunikation / Öffentlichkeit - Digitaler Wandel - International / Transnational - Commons / Soziale Infrastruktur - Digitalisierung und Demokratie 20 Jahre Indymedia – Ein anderes Internet schien möglich

Kommentar von Anne Roth, Mitgründerin von Indymedia in Deutschland.

IMC-Collage
Am 24. November 1999 startet zur WTO-Tagung in Seattle die erste Indymedia-Website («Independent Media Center», IMC) – zunächst, um den vielen Reporter*innen, Fotograf*innen und Videofilmer*innen, die über die Proteste berichten wollten, eine Online-Plattform zu geben. Das IMC in Seattle war ein Riesenerfolg.

«The resistance is global... a trans-pacific collaboration has brought this web site into existence.»

So begann der erste Eintrag auf einer Indymedia-Website am 24. November 1999. Indymedia ging wenige Tage vor den Protesten gegen die Tagung der Welthandelsorganisation WTO in Seattle online, und sollte die alternative Plattform für Berichte über eben diese Proteste sein. Seit einigen Jahren wuchs die Anti-Globalisierungsbewegung, die sich vor allem gegen Deregulierung des Welthandels, gegen Freihandelsabkommen und den Abbau sozialer Rechte richtete, die bei Gipfeln wie den WTO-, G7, IWF- und Weltbanktreffen verhandelt wurden. In dieser Zeit wurde Attac gegründet, und es gab einen starken Bezug zum Aufstand der Zapatistas in Mexiko, die 1996 und 1997 zu «Interkontinentalen Treffen gegen Neoliberalismus und für Menschlichkeit» eingeladen hatten. Auch in Deutschland gab es 1999 heftige Proteste gegen die EU- und  G7/G8-Gipfel in Köln: Zentrale Forderung war die Entschuldung der Länder des globalen Südens.

Anne Roth ist Referentin für Netzpolitik der Linksfraktion im Bundestag.
Sie war beim Start von Indymedia in Deutschland 2001 dabei und hat das Projekt nach einigen Jahren wieder verlassen.

Parallel zum Wachsen dieser Bewegung entwickelte sich in Australien etwas ganz anderes: eine Software, die es möglich machte, schnell und ohne weitere Vorkenntnisse Texte, Bilder, Videos und Audiodateien im Web zu veröffentlichen. Eine der ersten interaktiven Web-Anwendungen mit der Möglichkeit zum «Open Publishing» war entstanden – bislang gab es weder Wikipedia noch Blogs, Social Media noch lange nicht. Wer im Netz veröffentlichen wollte, musste wissen, wie HTML-Seiten «gebaut» und wie Server administriert werden, oder musste sich auf das Usenet und erste Foren beschränken. Oder die Möglichkeit haben, auf den ersten Websites von Zeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen.

Open Publishing, die Möglichkeit, eigene Beobachtungen, Berichte, Meinungen einfach per Formular online zu veröffentlichen, hat die Welt der Medien auf den Kopf gestellt. Heute ist nichts selbstverständlicher, als spontan Bilder, Texte, Videoclips bei Facebook, YouTube, TikTok zu posten und per Twitter weit zu verteilen. Wer Ende der 90er etwas mitzuteilen hatte, brauchte dazu gute Beziehungen zur AStA- oder Lokalzeitung, sonst blieb nur der Leserbrief. Das war mit einem Schlag anders.

Und so setzte der erste Eintrag fort:

«The web dramatically alters the balance between multinational and activist media. With just a bit of coding and some cheap equipment, we can setup a live automated website that rivals the corporates. Prepare to be swamped by the tide of activist media makers on the ground in Seattle and around the world, telling the real story behind the World Trade Agreement.»

(Das Web verändert die Balance zwischen multinationalen und aktivistischen Medien dramatisch. Mit ein bisschen Code und etwas billigem Equipment können wir eine automatisierte Live-Website aufsetzen, die den Unternehmen Konkurrenz macht. Bereitet Euch darauf vor, überschwemmt zu werden von der Welle aktivistischer Medienmachender*innen vor Ort in Seattle und überall auf der Welt, die die wirkliche Geschichte hinter der Welthandelsvereinbarung erzählen.)

Der 24. November 1999 in Seattle

In Seattle diente die gerade rechtzeitig vor dem Gipfel fertiggestellte erste Indymedia-Website zunächst dazu, den vielen Reporter*innen, Fotograf*innen und Videofilmer*innen eine Online-Plattform zu geben, die gekommen waren, um über die Proteste zu berichten. Indymedia, Kurzform für «Independent Media Center» (IMC), war eine spontan entstandene Redaktion vor Ort, in der Material und Informationen ausgetauscht, gemeinsam bearbeitet und online gestellt wurden.

Die Notwendigkeit dazu entstand, weil Berichte über Proteste und Demonstrationen von etablierten Medien in der Regel erst veröffentlicht wurden, wenn es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam – das ist heute meist nicht anders. Über friedliche Demos, kreative Aktionsformen oder einfach die Gründe, warum Menschen auf die Straßen gingen, fanden sich viel seltener Berichte. Und wenn‘s dann doch geknallt hatte, dominierten die Erklärungen der Polizeipressesprecher*innen.

Indymedia-Websites veränderten diese Situation: Plötzlich war es nicht mehr nötig, die wenigen wohlwollenden Journalist*innen zu finden, mit Infos zu füttern und zu hoffen, dass irgendwas davon tatsächlich in der Zeitung landete. Aktivist*innen wurden zu Medienaktivist*innen, trugen Bilder und Texte zusammen und veröffentlichten sie einfach selbst.

Das IMC in Seattle war ein Riesenerfolg: Die Seite hatte in einer Woche 1.5 Mio. Besucher*innen und übertraf damit selbst CNN.

Die Indymedia-Software scheint heute banal, aber vor 20 Jahren war sie eine technische Revolution: Texte und Bilder konnten mit einfachen Web-Formularen hochgeladen und mit einem Klick veröffentlicht werden, viel schneller als jede Zeitungsredaktion. Bei Gipfelprotesten hatten die Unabhängigen Medienzentren viel mehr Material zur Auswahl: Viele Aktivist*innen lieferten Informationen, eigene Texte und Bilder, die dann zu Überblicksartikeln zusammengesetzt wurden. Wie gesagt: Es gab weder Blogs noch Facebook und selbst Wikipedia musste erst noch erfunden werden. Ich habe selbst in den ersten Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten erlebt, dass die wenigen Reporter*innen etablierter Medien im Durcheinander den Überblick verloren und schließlich im Newsroom von Indymedia anriefen, um herauszufinden, was gerade wo passierte: niemand sonst hatte annähernd so viele Leute auf der Straße.

Nach dem WTO-Gipfel in Seattle 1999 entstanden temporäre IMCs samt eigener lokaler Indymedia-Website in rasender Geschwindigkeit auf allen Kontinenten. Im Jahr 2004 gab es über 150 Indymedia-Gruppen; davon mit Abstand die meisten in Nord-, Mittel-, Südamerika und Europa und jeweils ein bis zwei Handvoll in Afrika, Asien und Australien/Ozeanien.