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Schiit*innen in Saudi-Arabien

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Saudi-Arabien, Provinz asch-Scharqiyya
In Saudi-Arabiens Ostprovinz asch-Scharqiyya konzentriert sich der Ölreichtum des Landes. Saudische Schiit*innen bilden hier die Mehrheit der Bevölkerung. Saudi-Arabien, Provinz asch-Scharqiyya, CC BY-SA 3.0, TUBS, via Wikimedia Commons

Schiit*innen in Saudi-Arabien werden systematisch diskriminiert. Warum das so ist, weshalb Schiit*innen stark für Arbeiter*innenrechte kämpften und wovor das Königshaus sich fürchtet, zeigt ein Blick in die Geschichte.

Vor genau 40 Jahren, im November 1979, erschütterten zwei Ereignisse das saudische Königreich, die bis heute nachwirken. Am Morgen des 20. Novembers stürmten 500 schwer bewaffnete Islamisten die Große Moschee von Mekka, nahmen tausende Menschen als Geiseln und verschanzten sich im Inneren des Gebäudekomplexes. Nur wenige Tage später gingen zehntausende Schiit*innen in der Ostprovinz auf die Straße und lieferten sich gewaltsame Auseinandersetzungen mit der saudischen Nationalgarde. Einen Aufstand der schiitischen Minderheit hatte es in dieser Größenordnung noch nie gegeben. Zunächst stand im Raum, beide Ereignisse seien von Schiit*innen getragen. Auch wenn sich das als falsch erwies: Die Möglichkeit einer gemeinsamen Opposition aus Sunnit*innen und Schiit*innen, über Grenzen von Identität und Religion hinweg, versetzte das Land in helle Aufregung.

Christopher Resch arbeitet als freier Journalist vor allem zu Themen aus Westasien und Nordafrika und ist Herausgeber des Bandes «Medienfreiheit in Ägypten» (2015). Zuvor war er für das Goethe-Institut in Ägypten und Saudi-Arabien tätig.

«Ab diesem Aufstand galt die Schia in der Ostprovinz dem Staat als eine ernste Sicherheitsbedrohung», schreibt Toby Matthiesen in seinem Buch The Other Saudis.[1] Für den renommierten Saudi-Arabien- und Schia-Experten verkörpern die Schiit*innen, aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft, das schlichtweg «Andere»: die Außenstehenden, die Marginalisierten. Die unteren zehn Prozent, gegen die man sich abgrenzt, um sich der eigenen Identität zu versichern. «Im täglichen Leben werden Schiiten systematisch unterdrückt», bestätigt Regina Spöttl, Expertin für die Golfstaaten bei Amnesty International. Sie erhielten nur begrenzten Zugang zu staatlichen Leistungen oder gut bezahlten Anstellungen im öffentlichen Sektor, zudem sei ihr Recht auf Religionsfreiheit stark eingeschränkt: «Sie bekommen oft keine Baugenehmigungen für ihre Moscheen und werden anlässlich schiitischer Feste, zum Beispiel Aschura, behindert und bedroht.» Aktivist*innen für das Recht der schiitischen Minderheit auf Gleichbehandlung und Teilhabe müssten damit rechnen, «festgenommen, inhaftiert und in unfairen Gerichtsverfahren vor dem Sonderstrafgericht wegen Terrorismus zu Gefängnisstrafen oder sogar zum Tode verurteilt zu werden», so Spöttl.

Warum ist das so? Um zu verstehen, warum die Schiit*innen strukturell benachteiligt werden, hilft ein Blick in die Geschichte. Als 1938, wenige Jahre nach Vergabe der ersten Öl-Konzession an die US-Amerikaner, in Saudi-Arabien tatsächlich Öl gefunden wurde, änderte das vieles. Die ölreichen Regionen lagen in den traditionell von Schiit*innen besiedelten Gebieten Qatif und al-Ahsa. Die Dattelproduktion, bis dahin wichtigster Wirtschaftszweig, brach zusammen – Matthiesen spricht von einer «Disruption», die den Alltag der Menschen durchschüttelte. Zugleich kamen mit den internationalen Arbeiter*innen neue politische und ideologische Konzepte ins Land. Viele Schiit*innen fanden Arbeit beim Ölkonzern Aramco und seinen Vorgängerfirmen – überwiegend als ungelernte Arbeitskräfte. Schon in den 1950er-Jahren kam es zu ersten Streiks: Denn während aus den Dörfern Damman, Khobar und Dhahran moderne Ölstädte erwuchsen, wurden die schiitischen Siedlungsgebiete vernachlässigt.

Dass bei Aramco als größtem Arbeitgeber des Landes schiitische Arbeiter*innen überrepräsentiert waren, schlug sich auch in den Arbeiteraufständen nieder, hier waren sie oft die treibende Kraft. Die Folge: Die staatliche Repression gegen die Streiks traf auch die Schiit*innen härter. Während eine Mehrheit sich fügte und so vom allgemein steigenden Wohlstand durch das Öl profitierte, gründeten Aktivist*innen im Untergrund 1969/70 zunächst die marxistisch-leninistische «Demokratische Volkspartei auf der arabischen Halbinsel» und 1975 die Kommunistische Partei. «Das ist interessant, weil es dem Klischee von Saudi-Arabien doch sehr widerspricht. Schon damals waren in der KP beispielsweise auch Frauen aktiv», sagt Matthiesen. Politische Parteien waren und sind im Königreich verboten, die Mitgliedschaft in einer illegalen Partei kann mit dem Tod bestraft werden. Kämpfe für Arbeiter*innenrechte waren den saudischen Königen schon immer suspekt. Dass gerade die Schiit*innen in den Streiks involviert waren, machte sie nur noch verdächtiger.

Denn ihre religiös-identitätspolitische Diskriminierung hat noch tiefer liegende Wurzeln. Bereits im 18. Jahrhundert verbündeten sich die Anhänger des sunnitischen Predigers Muhammad ibn Abd al-Wahhab mit dem Stamm der Saud – so stärkten und legitimierten sich religiöse und weltliche Macht gegenseitig. Seit der Gründung des Königreichs Saudi-Arabien im Jahre 1932 ist der Wahhabismus Staatsdoktrin. Die Schiit*innen jedoch gelten den Anhänger*innen dieser Glaubensströmung als Häretiker*innen, als Abweichler*innen von der reinen Lehre. Deutlich wurde das schon 1926, als wahhabitische Radikale den Baqi-Friedhof von Medina zerstörten. In den ehemals prächtigen Mausoleen lagen unter anderem die Gräber von vier Imamen, in der Schia zentrale, fast als heilig geltende historische Personen.

Solch extremistischen Umtrieben setzten die saudischen Könige zwar ein Ende, dennoch blieben die Schiit*innen von den zentralen Narrativen des Landes ausgeschlossen. Sie waren und sind nicht mitgemeint, wenn die saudische Geschichtsschreibung etwa die wirtschaftlichen Erfolge feiert. Deshalb sind eigene Erinnerungen, Erzählungen oder Rituale für die Bildung einer schiitischen Identität bis heute essenziell. Dazu gehören positive Selbstermächtigungen wie etwa der auf religiösem Fundament ruhende Aufstand im Jahr 1979, doch auch negative Erfahrungen wie die Belagerung und teilweise Zerstörung des Ortes Awamiya im Jahr 2017 durch das saudische Militär.

Diese Kleinstadt nahe der Ostküste gilt seit längerem als ein Zentrum schiitischer Umtriebe. Schon 2006 hatte dort eine Demonstration zur Unterstützung der schiitischen Hisbollah im Libanonkrieg stattgefunden. Zudem war Awamiya die Heimatstadt von Scheich Nimr Baqir al-Nimr, der im «Arabischen Frühling» 2011 zur Symbolfigur des Protestes in der Ostprovinz geworden war. Al-Nimr hatte sich für die Rechte der diskriminierten Schiiten eingesetzt – Anfang 2016 wurde er hingerichtet. Die Anklage lautete auf Terrorismus, nach Einschätzung der Amnesty-Expertin Spöttl erfolgte das Urteil «nach einem unfairen Gerichtsverfahren». Sein Neffe Ali al-Nimr sitzt in Haft, ebenso wie die Frauenrechtlerin Israa al-Ghomgham. Ihre Verhaftung hatte Ende 2018 Schlagzeilen gemacht, weil Berichte kursierten, sie solle hingerichtet werden. Zuvor hatte sie über Unruhen in Qatif, einer Großstadt in der schiitischen Ostprovinz, berichtet.

Der Umgang mit Israa al-Ghomgham illustriert, wovor das saudische Herrscherhaus Angst hat: Sie ist als Frau und Schiitin Teil zweier bisher marginalisierter Gruppen, der oppositionelle Faktor verstärkt sich also gleichsam. Auch deshalb werde die Schia in Saudi-Arabien nicht weiter integriert, so Matthiesen: Sollten sich Sunnit*innen und Schiit*innen zusammentun, entstünde eine überkonfessionelle Opposition, die der Machtelite weit gefährlicher werden kann. Und das fürchtet der Staat – nicht erst seit den erschütternden Ereignissen im Jahre 1979.


[1] Matthiesen, Toby: The Other Saudis. Shiism, Dissent and Sectarianism – 2014, Cambridge University Press