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Kollaborative Arbeitskultur oder digitaler Taylorismus?

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Timo Daum,

Bild: Reuters/Luis Cortes

Die agile Revolution

Anfang des Jahres 2001 erblickte das «Manifest für Agile Softwareentwicklung» das Licht der Welt. Eine Gruppe von 17 Software-Experten (allesamt Männer) hatten es geschrieben; und es sollte die Art und Weise, wie Software entwickelt wird, wie IT-Projekte gemanagt und Arbeitsabläufe organisiert werden, von Grund auf verändern. Im althergebrachten IT-Projektmanagement wurden Aufgaben anhand eines klar definierten Ablaufs nacheinander abgearbeitet: eine nach der anderen. Das alte Wasserfall-Modell war geprägt von strikter Arbeitsteilung, klaren Zuständigkeiten und voneinander isolierten Projektphasen. Folge davon waren oft unflexible Projektabläufe, ein erheblicher Steuerungsaufwand sowie ausufernde Dokumentationen.

Damit wollten die agilen Revolutionäre aufräumen: Kleine, selbstorganisierte Teams sollten demgegenüber funktionsfähige Prototypen entwickeln und dabei jederzeit für Kundenwünsche offen sein. Bei agilen Methoden-Frameworks wie etwa Scrum oder Kanban stehen kurze Entwicklungszyklen (sprints) von etwa zwei Wochen im Vordergrund, an deren jeweiligem Ende ein auslieferbares Produktinkrement steht.1 Am Beginn eines jeden sprints – einem festgelegten Zeitraum, in dem bestimmte Arbeiten abgeschlossen werden – steht jeweils ein Planungstreffen. Hier wählt das Team diejenigen Elemente (tasks) aus einem priorisierten Aufgabenkatalog (product backlog) aus, die im bevorstehenden sprint anstehen. Das Team schätzt den Umfang und Zeitbedarf der Aufgaben in Form von story points selbst ein. Aus der Anzahl erledigter story points pro Zeiteinheit kann jederzeit der Leistungsdurchschnitt des gesamten Teams errechnet werden, die sogenannte velocity.

Das Team plant dabei seine Aufgaben selbst. Teamarbeit, Selbstorganisation und Eigenverantwortung des Teams werden zentral. Zu den kürzeren Projektzyklen gesellen sich neue Rollen – so wird etwa bei Scrum der klassische Projektmanager abgelöst durch den Product Owner, der die Kundenperspektive ins Projekt hineintragen soll. Der Scrum Master hingegen ist eher Coach als klassischer Vorgesetzter.

Timo Daum ist Hochschuldozent und Autor. Zuletzt veröffentlichte er: «Die Künstliche Intelligenz des Kapitals», Nautilus Flugschrift, Hamburg 2019.

Bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung erschienen von ihm u.a. «Glaskugel der künstlichen Intelligenz. Aus der unsichtbaren Hand des Marktes wird der Plattform-Kapitalismus 2.0» und «Das Auto im digitalen Kapitalismus. Dieselskandal, Elektroantrieb, autonomes Fahren und die Zukunft der Mobilität».

Auch aufseiten der Linken erfreuen sich die neuen Management-Methoden Zuspruch, versprechen sie doch eine humanere Arbeitskultur, die auf Teamarbeit, Eigenverantwortung und flache Hierarchien setzt. Im gewerkschaftlichen Kontext verlegt man sich auf Co-Management, so untersucht etwa das Verbundprojekt «Gute Agile Projektarbeit», «wie agile Teams bei der Selbstorganisation unterstützt» werden können.2

Sie werden gar in einem Atemzug genannt mit Technologien und Praktiken wie Open Source, offenen Standards und Bürger-Partizipation. So sieht der Aktionsplan für die digitale Stadt Barcelona «die Einführung von nutzerfreundlichen digitalen Diensten mithilfe von agilen Methoden» vor, die Verwaltung soll insgesamt «agiler und experimentierfreudiger» werden.3 Der Agilitätsberater Mishkin Berteig fragt sich gar, ob diese «nicht kompetitiven, kollaborativen Methoden» emanzipatorisches Potenzial in sich tragen und  «organisationsübergreifend» als «Ersatz» für den Kapitalismus“ dienen könnten.4

Bei der Softwareentwicklung ist agiles Management zum Standard geworden, wirkt aber weit darüber hinaus. Bei Zalando etwa wird Agilität zur Unternehmensphilosophie erhoben (radical agility), die sich an «verhaltens- und systemtheoretischen Ansätzen» orientiert.5 Auch in der Kreativbranche kommen sie bevorzugt zum Einsatz, wenn es um die schnelle Entwicklung von Produkten und Diensten geht. Agile Methoden sind insbesondere bei Start-ups populär geworden, seit ein paar Jahren halten sie jedoch auch Einzug in traditionellen Branchen, so auch beim Autokonzern Daimler, dessen IT-Strategie («Twice As Fast») seit 2015 verstärkt auf agile Methoden setzt. Hohe Veränderungsgeschwindigkeit, flexible Teams und kurze Release-Zyklen sind dafür maßgeblich: «Teams müssen umgehend und flexibel reagieren», sagt IT-Vorstand und CIO Jan Brecht, «messbarer digitaler Mehrwert» sei das Ziel.6 

Das Projekt löst die Fabrik ab

Großunternehmen wie SAP, Bosch und andere gründen zudem eigene In-house-Start-ups bzw. organisieren Projektarbeit rund um Teams, die wie kleine Firmen organisiert sind. Was etwa in der Filmbranche Tradition hat – Teams treffen temporär zusammen für ein Projekt und gehen danach wieder auseinander –, wird zum role model. Feste Abteilungen mit steilen Hierarchien werden zurückgedrängt und durch agile Projekte ersetzt. Das Projekt wird zum zentralen Paradigma der digitalen Firmen.

Bereits zur Jahrtausendwende beschrieben die Wirtschaftswissenschaftlerin Ève Chiapello und der Soziologe Luc Boltanski den Einzug einer neuen Managementkultur und nachfolgend eine Veränderung der damit einhergehenden Werte, Lebensentwürfe und Vorstellungen. Ein «neuer Geist des Kapitalismus» habe sich entfaltet, so die beiden Franzosen, der den alten «Geist des Kapitalismus» (Max Weber) abgelöst habe, für den ein protestantisches Arbeitsethos zentral war und der zudem durch Treue zum Unternehmen und Einordnung in Hierarchien geprägt war. Was früher die Fabrik war, sei heute das Projekt und «aktiv sein bedeutet, Projekte ins Leben zu rufen und sich Projekten anzuschließen».7

Die Fabrik werde abgelöst durch das Projekt als zentrales Paradigma der neuen Managementkultur und Arbeitsorganisation gleichermaßen. Aus Arbeitern und Angestellten in festen Abteilungen mit steilen Hierarchien werden in der Projektwelt Teamer mit wechselnden Rollen und Aufgaben. Aus festen Job-Beschreibungen werden wechselnde Rollen in sich ablösenden Projekten. Der Vorgesetzte wurde durch den Coach abgelöst, der eher wie ein Yoga-Lehrer denn als Unteroffizier agiert und Vorbild und Kumpel zugleich ist. «Egal, ob die Arbeitsteams nun aus mehreren Mitarbeitern oder nur aus einem einzigen bestehen, sie brauchen keinen Vorgesetzten, sondern einen Trainer», schrieben die Wirtschafts-Gurus Michael Hammer und James Champy bereits 1993.8