News | Parteien / Wahlanalysen - GK Parteien und soziale Bewegungen Die SPD - noch zwischen Aufbruch und Untergang?

Die Entwicklung der SPD seit Ende der 1990er Jahre

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Gero Neugebauer,

Kurzfassung des Vortrags von Dr. Gero Neugebauer vor dem Gesprächskreis Parteien und soziale Bewegungen der RLS am 12.12.2019.

Eine Vorbemerkung:

Die Voraussetzung der Existenz von Parteien ist die Existenz von Konflikten in der Gesellschaft und das Parteiensystem spiegelt die Konfliktstruktur der Gesellschaft wider. Die Konfliktstruktur der deutschen Gesellschaft und das darauf basierende Parteiensystem nachzuzeichnen[1] überschreitet meine mit diesem Vortrag verknüpfte Absicht. Das gilt auch für die Veränderungen der Parteitypen und den Wandel der Funktionen von Parteien. Meine Absicht ist weniger ambitioniert. Sie ist durch die These bestimmt, dass die Entwicklung der SPD als Partei nach einem Aufbruch 1998 spätestens seit 2005 durch einen nicht kontinuierlich verlaufenden, aber bislang stetigen Prozess des Niedergangs gekennzeichnet ist. Dieser Prozess hat zu einem Zustand geführt hat, in dem die SPD, die in ihrer Entwicklung etliche Krisen er- und überlebt hat, sich befähigen muss, ihre und die Zukunft der Gesellschaft zu gestalten, um nicht im historischen Gedächtnis zu landen, also unterzugehen.

Unter dieser Prämisse – ausbleibende Erfolge signalisieren den Niedergang als Voraussetzung für einen möglichen Untergang -  wird nach Indikatoren für diesen Niedergang der SPD gesucht. Das Interesse konzentriert sich auf Entwicklungen, die zu einer befriedigenden Antwort auf die im Titel formulierte Frage führen können. Dabei wird die Frage nach der gegenwärtigen Position der SPD im Parteiensystem bzw. im Parteienwettbewerb vernachlässigt und die Aufmerksamkeit auf Daten und Faktoren gerichtet, die zurzeit als Indikatoren für den Zustand der SPD gelten und nicht nur von interessierter Seite als Beweise für den anstehenden Untergang der SPD gewertet werden: soziale Verankerung, politische Stärke, innerparteiliche Verhältnisse, Beurteilung ihrer  Kandidat*innen, ihrer Kompetenzen, ihrer Regierungsarbeit und anderes mehr. Auf der Grundlage der Analyse der Ergebnisse dieser  Suche werden Thesen für Strategien formuliert, die der SPD – theoretisch - einen Ausgang aus dem Niedergang, also den Beginn eines Aufbruchs, weisen könnten.

Aufbruch in und Ausgang aus eine(r) neue(n) Zeit

Die SPD war 1998 nach dem historischen Wahlsieg, der mit der Doppelspitze Oskar Lafontaine als Parteivorsitzender und dem sehr populären und als kompetent angesehenen Gerhard Schröder als Spitzenkandidat errungen wurde, mit der Bildung der rot-grünen Koalition in eine neue Zeit aufgebrochen. Der Wahlsieg beruhte auf den postulierten Zielen der Kampagne: die Wirtschaft sollte durch Innovationen modernisiert und für den Weltmarkt gestärkt und zugleich sollte eine Politik der sozialen Gerechtigkeit realisiert werden. Das Ziel war mit einem Risiko verknüpft, denn es erforderte eine ausgewogene Politik des „sowohl – als auch“, d. h. es mussten die Ziele der Wirtschaftspolitik in Einklang gebracht werden mit den Zielen und Möglichkeiten des Sozialstaates. Die Entscheidung, den Zielen der Wirtschaftspolitik Vorrang zu geben und den Sozialstaat nach der Parole „Sparen ist die neue Gerechtigkeit“ (Hans Eichel) neu zu definieren, zeigte, dass die SPD dieses Risiko nicht in ihre Politik einkalkulierte. Die Ergebnisse der Partei in den folgenden Wahlen demonstrierten die Folgen.

Politik ohne Resonanz. Wahlen als Nachweis für politischen Erfolg

Zu dem durch die Wahlresultate der SPD dokumentierten Abstieg der Partei in der Gunst der Wählerschaft haben etliche Faktoren beigetragen. Zu ihnen gehören solche, die wie der Kandidat, die Kompetenzen oder die Parteibindung häufig genannt werden, aber auch andere wie das Bild der Partei in der Öffentlichkeit, ihre Popularität bzw. die ihres Spitzenpersonals oder ihre Leistungen in der Regierung, aber auch Pleiten, Pannen und Skandale. Zudem sollten Parteien über ein Profil verfügen, vertrauenswürdig und handlungsfähig sowie tatkräftig sein - oder so erscheinen - und durch populäre Politiker*innen repräsentiert werden. Für manche Wähler*innen sollen sie zudem spezifische Erwartungen z. B. hinsichtlich der Vertretung bestimmter Werte erfüllen.

Solche Faktoren können dann wichtig werden, wenn aufgrund fehlender alternativer politischer Angebote aufgrund weitgehend identischer „Produkte“ auf dem Wählermarkt Wahlentscheidungen durch Stimmungen vorgeprägt werden, sofern nicht überhaupt Wahlverzicht geübt oder ein Wechsel zu einem neuen Anbieter vollzogen wird.

Der Kandidat*innenfaktor

Allgemein gilt, dass Parteien gewählt werden und nicht Personen. Doch angesichts ihrer Verankerung in den politischen und sozialen Milieus der deutschen Wählerschaft musste und muss sich die SPD in erheblichem Umfang auch durch eine populäre Kandidatin bzw. einen populären Kandidaten zusätzliche Wählerschichten erschließen. Bei der BTW 1998 war es ihr durch einen Spitzenkandidaten gelungen, der weit über die Anhängerschaft seiner Partei hinaus Popularität genoss, dem große Sachkompetenz zugewiesen worden war und der deshalb seinem Konkurrenten, dem langjährigen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), vorgezogen wurde. Diese Voraussetzungen erfüllte Gerhard Schröder auch 2002 und 2005, wenngleich mit geringeren Werten – und 2005 ohne Erfolg. Bei den seit 2009 abgehaltenen BTW konnte keine SPD-Kandidatin bzw. kein SPD-Kandidat auf Dauer einen großen Vorsprung in der Kanzlerpräferenz erringen und halten. Frau Merkel wurde schließlich – oft deutlich - besser bewertet. Damit fehlte der SPD eine wichtige Voraussetzung für einen Wahlerfolg.

Kompetenzen und Leistungsbewertungen

Wahlentscheidungen werden auch durch Kompetenzzuschreibungen beeinflusst. Wie sah es da bei der SPD aus?

Die SPD galt und gilt bis in die Gegenwart als Partei der sozialen Gerechtigkeit. Ihr Problem ist jedoch, dass jede Partei über soziale Gerechtigkeit und - was diese nach ihrem Verständnis sein soll - spricht und die Vorsprünge der SPD vor der Konkurrenz in der Bewertung dieser Kompetenz geringer geworden sind. Zudem hat die Partei auch in anderen Politikfeldern Kompetenzen erworben, insbesondere Schule/Bildung, Familie und Kinderbetreuung und immer noch Sozialpolitik/Soziale Gerechtigkeit. Auffällig ist, dass ihre Versuche, durch die Besetzung von Ministerposten wie Wirtschaft, Umwelt und Finanzen Kompetenzzuweisungen zu erhalten, sich nicht in ausgezahlt haben. In Bereichen wie zum Beispiel der Wirtschaftspolitik und der Schaffung neuer Arbeitsplätze ist in den letzten Jahrzehnten vielmehr ein steter Abschwung zu verzeichnen gewesen. In anderen Bereichen wie der Sozialpolitik oder der Sozialen Gerechtigkeit hat die SPD ihre zum Teil großen Vorsprünge vor allem gegenüber der Union eingebüßt. Ein jäher, jedoch kurzzeitiger Aufschwung 2017 nach der Nominierung von Martin Schulz, der Soziale Gerechtigkeit in das Zentrum seines Wahlkampfes stellen wollte, endete schnell, als dieser die darauf basierenden Hoffnungen nicht erfüllte. Das gilt auch für die Kompetenz Wirtschaftspolitik. Bilanziert man die Leistungen des Wirtschaftsministers Gabriel, haben sich diese für die SPD nicht ausgezahlt, ebenso wenig die in der Umweltpolitik, bei deren Umsetzung die SPD-Ministerin in der Koalition 2013-2017 durch den Wirtschaftsminister „ausgebremst“ wurde.

Es fällt auf, dass der sinkende Zuspruch zur SPD bei Wahlen von geringer werdenden Kompetenzzuschreibungen begleitet wird, vor allem, aber nicht nur, bei Sozialer Gerechtigkeit. Das wiederum ist die Reaktion auf die Wahrnehmung des Handelns der SPD in der Regierung, trotz des Insistierens aus der SPD, ihr Personal würde gute Arbeit leisten. Besonders auffällig ist, dass der SPD de facto keine Zukunftskompetenz zugeschrieben wird[2]. Wozu sie also wählen?!

Keine positiven Auswirkungen für die Partei ergaben sich aus den Bewertungen der Leistungen in der Regierung und den Personen, die für die SPD in der Regierung saßen[3]. Auffällig bei der Bewertung der Arbeit der SPD in der Bundesregierung über die Jahre hinweg ist, dass sie dafür selbst von den eigenen Anhängern keineswegs immer nur gute Noten erhalten hat und insgesamt häufiger schlechter bewertet wurde als die CDU. Dazu kommt, dass die teilweise positive Einschätzung von SPD-Minister*innen bzw. deren Platzierung auf den vorderen Rängen nicht durch die in der Regel weniger positive Bewertung der Partei erklärbar ist, die guten Bewertungen der SPD-Repräsentant*innen der Partei also wenig bzw. gar nicht nützen. Wenngleich Umfrageergebnisse nur den jeweils aktuellen Stand der Meinungsbildung über die Partei reflektieren, werden die Zahlen von den Parteivorständen und Personen so ernst genommen, obwohl die Zahl der Unentschlossenen oft sehr hoch ist, dass bereits das Erreichen besserer Werte als politisches Ziel formuliert wird. Schlichter geht es kaum.

Werden diese Werte als Markierungen des Standes des Parteienwettbewerbs genommen, dann zeigen sie, dass die SPD nach einem langen Abstieg sich seit einiger Zeit auf niedrigem Niveau stabilisiert hat, zuletzt um die 13 Prozent – als Nummer vier im System, hinter der Union, den Grünen und der AfD. Damit werden zugleich Verschiebungen im linken Parteienlager illustriert, die zu Lasten der SPD gehen und das Lager insgesamt nicht stark genug für eine alternative Machtperspektive, wie sie in Thüringen (2014 und 2019) und Bremen (2019)  realisiert wurde, erscheinen lassen.

Das Erscheinungsbild der SPD

Die Erscheinung der SPD als Organisation wird im Wesentlichen durch die Organisations- und Mitgliederentwicklung bestimmt; für ihr Bild in der Öffentlichkeit, d. h. für ihre Popularität als Partei, sind ihre Politik und ihr Personal maßgeblich.

Die Organisation der SPD ist in den letzten zwanzig Jahren erheblich schwächer geworden. Wie viele der am Ende des 20. Jahrhundert angeblich noch vorhandenen 10.000 Ortsvereine heute noch wirklich existieren, ist wohl nicht bekannt; wahrscheinlich ist nur noch die Hälfte politisch am Leben. Klagen aus Parteigliederungen zeigen, dass die Organisation vor allem in der Fläche ausgedünnt ist und dort, wo wie in den ostdeutschen Ländern die Landesverbände der SPD nach ihrer Gründung keine den westdeutschen Verbänden vergleichbare Stärke gewinnen konnten, bereits vom „Rückzug aus der Fläche“ als Tatsache oder Perspektive gesprochen wird.

Die Mitgliederzahl hat sich trotz der seltenen Aufschwünge in Wahljahren, gegenüber 2016 hatte die SPD Ende 2017 10.446 Mitglieder mehr, in der Tendenz negativ entwickelt. Gleichzeitig ist die Partei älter geworden. 1998 hatte die SPD mehr als 775.000 Mitglieder. Zehn Jahre später waren es noch knapp unter 521.000 und am Ende des Jahres 2019 gut 419.300; 18.500 weniger als 2018. Das Durchschnittsalter der gesamten Mitgliedschaft liegt zurzeit bei über 60 Jahren.

Einige Folgen dieser Entwicklungen sind sowohl eine reduzierte soziale Verankerung in der Gesellschaft insgesamt als auch in den der SPD als nahestehend geltenden Milieus als auch das langsame Verschwinden der Partei aus bestimmten Regionen. Weniger Mitglieder bedeuten, von fehlenden Mitgliedsbeiträgen mal abgesehen, insgesamt weniger Multiplikator*innen sowohl im aktiven Arbeitsleben als auch außerhalb, sowie geringere Potentiale für Mobilisierungskampagnen, z. B. bei Wahlen, von Kandidat*innen für Mandate und Funktionen ganz abgesehen. Das alles kann neben anderen Faktoren als eine Erklärung für die schwache Leistung bei den letzten Wahlen dienen.

Innere Verfasstheit - Führungspersonal und Rolle der Mitgliedschaft

Auffällig ist schon seit längerer Zeit, dass die innere Verfasstheit durch teilweise sehr kurzfristige Veränderungen in der Führung der Partei bestimmt war, worunter die Stabilität der Strukturen gelitten hat.

Nachdem 1999 Gerhard Schröder Oskar Lafontaine als SPD-Vorsitzenden abgelöst hatte, gab es nach ihm bis 2009 fünf und danach bis 2019 drei weitere Wechsel im Amt. Die Stabilität der Partei, in der es trotz gegenteiliger Behauptungen und zuletzt durch die Kandidatenkür zur Auswahl der neuen Vorsitzenden keinen geschlossen agierenden linken Flügel, ein pragmatisch orientiertes Netzwerk als Zentrum und einen durch seine auffällige Staatsorientierung („Opposition ist Mist“ Franz Müntefering) rechten Flügel gibt, war während der längeren Dauer der Vorsitzendenzeit von Sigmar Gabriel (11/2009 bis 2/2017) mangels fehlender Integrationsleistungen nicht gestärkt worden; er hatte dazu selbst durch seinen zweimaligen Verzicht auf die Kanzlerkandidatur beigetragen. Als dann

  • der im Februar 2017 von einem Parteitag mit 100 Prozent gewählte Vorsitzende Martin Schulz als Kanzlerkandidat nicht ausreichend unterstützt und von Spitzenpolitikern der eigenen Partei kritisiert wurde,
  • die BT-Wahl im September 2017 deutlich verloren ging,
  • die Führung der Partei danach beschloss, in die Opposition zu gehen und einen Erneuerungsprozess einzuleiten, dann jedoch auf Druck von Medien, aus der eigenen Partei sowie durch den Bundespräsidenten hin diesen Beschluss revidierte,
  • und der Vorsitzende, der erklärt hatte, er wolle nie in eine Regierung Merkel eintreten, noch vor dem Ende der Koalitionsverhandlungen im Frühjahr 2018 seine Absicht erklärte, Außenminister werden zu wollen, worauf hin er kritisiert wurde und seinen Rücktritt bekannt gab,
  • wobei er gegen das Parteistatut verstieß, als er ohne Berücksichtigung der stellvertretenden Vorsitzenden die an der Nachfolge stark interessierte Fraktionsvorsitzende als kommissarische Vorsitzende nominierte, die ihn wider besseres Wissen nicht daran hinderte,
  • und auf sie, die dann im April 2018 mit einem ausreichenden Resultat zur Vorsitzenden gewählt wurde, aufgrund parteiinternen Widerstands, öffentlicher Desavouierung und eigener Fehleinschätzung hinsichtlich ihrer Integrations- wie Durchsetzungsfähigkeit im Juni 2019 einen abrupten Abgang nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“ vollzog, dann
  • ein kommissarisches Dreigespann folgte, das einen mehrmonatigen Prozess der Suche nach Nachfolgern moderierte, wobei interne Spaltungen und spezifische Bündnisse zwischen Personen und Gruppierungen offenbar wurden,

da entstand ein Eindruck von der SPD als einer „kopflosen Selbsterfahrungsgruppe“ (M. Machnig); ein verständliches Urteil, dass jedoch die Bedeutung des Verfahrens für die innerparteiliche Demokratie ausblendet. Denn bislang waren Beteiligungen an innerparteilichen Entscheidungsprozessen trotz der Erklärung, dass die SPD eine Mitgliederpartei sei, selten: 2013 war der Koalitionsvertrag und 2018 war die Beteiligung an der Koalition Gegenstand parteiinterner Abstimmungsverfahren gewesen; ein „Debattencamp“ im Frühjahr 2018 unterstrich den positiven Eindruck und zugleich die Potentiale einer partizipativen innerparteilichen, also keiner top-down geführten Kommunikation.

Das Verfahren machte sichtbar, dass es in der SPD kein strategisches Zentrum gab, sondern die Interims-Führung einerseits und die Fraktionsführung andererseits sich jeweils als Zentrum verstanden, während die Landesverbände auf die Wahrung ihrer Autonomie bedacht waren. Die Reaktionen auf das Ergebnis und das Verhalten der dann auf dem Parteitag Anfang Dezember 2019 gewählten Personen, die keinen Anteil an der abschüssigen Entwicklung der SPD hatten, illustrierten die labile innere Verfasstheit und die Schwäche bzw. Stärke der jeweiligen Zentren, die ihre Interessen versuchten durchzusetzen.

Die Folgen: Machtverlust und Funktionswandel

Durch das Ausbleiben von Wahlerfolgen und den Verlust von Führungsrollen in Bundes- wie in Landesregierungen – Ende 2016 saß sie noch in 13 Landesregierungen; in neun davon stellte sie zugleich den Ministerpräsidenten, Ende 2019 war sie noch an zehn beteiligt, in sieben davon stellte sie den MP - ist ihre Position im gesamtdeutschen Parteiensystem wie in denen der meisten Bundesländer nach 2009 und besonders seit 2014 stetig schwächer geworden. Zusätzlich haben Veränderungen im Parteiensystem ihre Wettbewerbsposition beeinträchtigt: 2007 fusionierte die WASG mit der PDS zur Partei DIE LINKE und etablierte sich - auch auf Kosten der SPD - im linken Parteilager. 2013 wurde rechts von der CDU/CSU die AfD als eine EU-skeptische und national-konservative Partei gegründet; inzwischen ist sie in Teilen völkisch-nationalistisch, also rechtsextrem. Die Bündnisgrünen gewannen auf Kosten der SPD und der CDU/CSU über das virtuelle linke Lager hinaus an Stärke, die LINKE konnte ihre Position in etwa halten, während die AfD vor allem Zulauf aus dem Lager der Nichtwähler*innen erhielt, aber auch von ehemaligen Wähler*innen der SPD, der CDU/CSU und vor allem im „Wahlgebiet Ost“ von der LINKEN; dort behauptet die AfD, auch spezifische fiktive Ostinteressen zu vertreten. Während die SPD Wähler*innen nach links wie nach rechts sowie an das Lager der Nichtwähler*innen verlor, büßte die CDU/CSU mehr und mehr ihre Fähigkeit ein, den rechten Rand des demokratischen Lagers zu integrieren. Sie und die SPD versagten dabei, Wähler*innen zu halten, die an neuen Themen wie Klimaschutz interessiert waren, sie aber weder dort noch bei der SPD fanden und deshalb Grün wählten. Schließlich sind dort, wo durch das Erstarken der AfD die Polarisierung im Parteiensystem zugenommen hat, die Möglichkeiten der kleinen Parteien, zu denen in Bayern (2018: 9,7%) sowie in Thüringen (2019: 8,2%) und in Sachsen (2019: 7,2%)[4] die SPD gehört, sich behaupten zu können, erheblich geringer geworden. Zudem nimmt die Gefahr zu, dass eine schwache SPD im parlamentarischen System nur noch die Rolle einer Funktionspartei erfüllt, d. h. Mandate für Mehrheiten liefert.

Ein vorläufiges Fazit

Nun illustrieren diese durch quantitative Daten gestützten Faktoren zwar den Niedergang, erklären aber nicht ausreichend, ob dieser zum Untergang der SPD führen wird. Sie sagen nicht, warum die Wahlchancen geringer werden oder warum die Leistungsbewertung von SPD-Politiker*innen eher negativ ist, obwohl diese sich permanent darüber beklagen, dass ihre Leistungen in der Regierung nicht ausreichend gewürdigt werden; Olaf Scholz hat mit seiner Beliebtheit sogar seine Kandidatur für den Vorsitz der SPD begründet. Nur hat es die SPD mangels einer aktuellen langfristigen programmatischen Orientierung nicht verstanden, ihre Erfolge in der GroKo als Abschnitte auf dem Weg beispielsweise zu einer sozial gerechten zukünftigen Gesellschaft darzustellen; sie stehen vielmehr relativ unvermittelt für sich selbst. So stimmt auch die öffentliche wie aus der Mitgliedschaft stammende Kritik, dass die SPD sich mit dem Erreichten zufrieden gäbe, anstatt auf die sie hindernden Mehrheitsverhältnisse zu verweisen. Wen wundert es dann, wenn in einer 2019 für die Friedrich-Ebert-Stiftung erstellten (repräsentativen?) Studie über die Situation europäischer sozialdemokratischer Parteien als Besonderheit der SPD herausgehoben wird, dass es ihr - und der SPÖ - am wenigsten gelingen würde, die Werte und Wünsche der Wählerschaft zu treffen[5]. Abgesehen von der Antwort auf die Frage, ob es die SPD unter diesen Umständen es überhaupt schaffen könnte, dem Wahlvolk die Bedeutung der sozialdemokratischen Leitwerte zu vermitteln, deutet der Befund darauf hin, dass die Parteiführung gesellschaftliche Diskurse nur mangelhaft adaptiert, auch weil sie nicht in die Partei hinein hört. So gab es unter SPD-Mitgliedern ein Unbehagen darüber, dass die Umwelt- bzw. die Klimadebatte in der Partei nicht offensiv geführt worden wäre. Als Andrea Nahles vor der Europawahl 2019 darauf hinwies, dass die SPD nicht die Grünen wären, was ohnehin kaum jemand vermutet hätte, wurde das als: „Grüne Themen interessieren nicht.“ wahrgenommen. Auch für das in der Öffentlichkeit prominente Thema Flüchtlinge/Integration fehlt eine eigene Erzählung. Das wäre im Kontext einer „Pro-Europa“ Diskussion durchaus möglich gewesen.

Dass die SPD im Großen und Ganzen nicht die Erwartungen ihrer Anhänger erfüllt, lassen in Umfragen mehrheitlich gemachte Aussagen wie die vermuten, dass nicht bekannt sei, wofür die SPD stehe oder die, dass die SPD sich vornehmlich um sich selbst kümmere[6]. Das ist jedoch nicht das Resultat einer Reihe fortgesetzter Missverständnisse, sondern m. E. das Resultat grundsätzlicher Probleme der SPD. So fehlte und fehlt es der Partei an einer langfristigen programmatischen Orientierung und alternativen politischen Angeboten. Die Nähe der politischen Angebote von CDU/CSU einerseits und der SPD andererseits hat lange Zeit dazu geführt, dass die Offerten der SPD nicht als konkrete politische Alternativen verstanden werden konnten oder wurden, auch wenn sie so gewollt oder gemeint gewesen wären; sie wurden in der Regel nur als singuläre Produkte in einzelnen Politikbereichen ohne Bezug auf ein alternatives Politik- oder Gesellschaftsmodell präsentiert. Das Führungspersonal verstand sich lange nicht als alternatives personelles Angebot zur wichtigsten Konkurrentin, der Union; ein Wandel dieser Auffassung, illustriert durch die – umstrittene – Aussage, keinen Kanzlerkandidaten aufzustellen, ist noch nicht wirklich erkennbar.

Offensichtlich hatte die Führung der SPD trotz in der Partei oder in deren „Think Tank“, der FES, geführten Diskussionen[7] nicht rechtzeitig auf den durch die Globalisierung, insbesondere der Ökonomie, aber auch durch politische und soziale Prozesse, ausgelösten Wandel in verschiedenen Bereichen der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft sowie auf die dadurch resultierenden Auswirkungen reagiert bzw. darauf nur zögerlich reagiert. So wartet der Leitantrag für den Parteitag 2018 in Wiesbaden, der auf der Basis einer Analyse der aktuellen Situation sowohl der Partei als auch der globalen Entwicklung Ziele für ein neues Programm formulierte, noch auf seine angemessene Umsetzung im Rahmen der Erneuerung der SPD. Nun müssen mehrere Aufgaben gelöst werden, damit die SPD als relevante politische Kraft weiter existieren kann. Dazu gehört, dass sie über konkrete und ihre Anhängerschaft ansprechende sozialdemokratische Angebote in einzelnen Politikbereichen hinaus eine an den sozialdemokratischen Grundwerten orientierte Politik der gesellschaftlichen und ökonomischen Gestaltung der Zukunft, soweit sie diese beeinflussen kann, entwickelt[8].

Die neue Führung steht somit vor der Aufgabe, den 2018 begonnenen Erneuerungskurs fortzuführen und die SPD sowohl als Partei als auch als Wettbewerberin im Parteiensystem zu stärken. Auf die Partei bezogen muss sie versuchen, Mitglieder zu halten, neue zu gewinnen und eine innerparteiliche Kommunikation fördern, die mehr sein sollte als die Ausweitung alter sowie das Anbieten neuer Möglichkeiten in sozialen Medien, an denen ein Teil der vor allem älterer Mitglieder nicht teilhat[9], weil der Wille oder die Technik fehlen; sie muss näher „ran an die Basis“(Walter-Borjahns)[10].
In Bezug auf die Erfordernisse ihrer Erneuerung muss die SPD veränderte nationale wie internationale Rahmenbedingungen[11] in ihre Überlegungen einbeziehen.

Die soziale Struktur der Gesellschaft und damit auch die politischen und sozialen Interessen der einzelnen Schichten und Gruppen haben sich insgesamt ebenso verändert wie die Struktur der Arbeitsgesellschaft. Die Vielfalt der sozialen Gruppen begründet eine Vielfalt von Interessen, die sich in Bewegungen, Vereinen, Verbänden oder in Initiativen organisieren. Das wird die SPD veranlassen müssen, wenn sie ihre Wirkungsmöglichkeiten erhalten und ggf. ausbauen will, alte Bündnisse mit der Zivilgesellschaft zu erneuern und neue einzugehen. Dabei sollte sie, was Parteiapparaten in der Regel nicht gefällt, auf eine Führungsrolle verzichten und sich als Unterstützerin anbieten.

Der soziale Wandel hat zudem die Sozialstruktur der Parteieliten verändert; die sind heute in der Regel formal eher höher gebildet und kommen aus der mittleren und z. T. der oberen Mittelschicht. Daraus resultiert eine spezifische Wahrnehmung der Interessen bestimmter sozialer Gruppen und Schichten in der Politik der SPD . Diese ist heute in den politischen Milieus der deutschen Gesellschaft weniger präsent als noch vor zehn Jahren. Damit wurde zugleich das Gewicht der einzelnen Wählergruppen verändert, und zwar zuungunsten der unteren Mittelklasse und der Unterschicht[12].

Auch die Themen, die heute Wählerschaften spalten, haben sich zum Teil grundlegend verändert. Solche, mit denen die Sozialdemokratie stark geworden ist, waren der Aufbau sowie Art und Umfang der Leistungen des Sozialstaats, also Umverteilung als Konfliktlösung des Konflikts zwischen alter Arbeiterklasse („alte Linke“) und Kapital[13]. Gegenwärtig sind Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Minderheitenrechte, Klimawandel und Umweltschutz, Frieden, internationale Sicherheit (Flüchtlinge) ökologische Industriegesellschaft wichtig. Diese Themen haben mit der alten Konfliktstruktur der Gesellschaft wenig oder nichts gemein und stammen oft nicht aus Diskussionen der SPD. Auch deshalb existieren in den verschiedenen Wählerschaften der SPD teilweise diametral entgegengesetzte Vorstellungen zu den neuen Themen, die durch Konflikte bestimmt werden, die die Gesellschaft spalten. Dazu gehören Konflikte zwischen Einheimischen und Zugewanderten in sozialen, in kulturellen oder in religiösen Angelegenheiten ebenso wie die zwischen denen, die meinen, ihre sozialen und kulturellen Besitzstände verteidigen zu müssen und die den Abstieg fürchten und denen, die sozial aufsteigen, Veränderungen herbeiführen und Herausforderungen annehmen wollen. In der gegenwärtigen Gesellschaft ist die überwiegende Mehrheit noch von sich überzeugt, dass es ihr gut geht und sie noch sicher existiert, dass die Wirtschaft floriert und dass zwar einerseits die Folgen der Globalisierung schon wirken, andererseits aber die negativen Wirkungen noch überschaubar und beherrschbar sind. Zur Not durch eine Stärkung der nationalen Politik und die Absicherung des Landes nach außen. Ob es die SPD schafft, den negativen Trends eine optimistische Perspektive dadurch entgegen zu setzen, dass sie sowohl das Bewusstsein fördert, dass weitere Veränderungen nicht nur durch die fortschreitende Digitalisierung einerseits oder die Verschiebung zwischen den Sektoren der Wirtschaft (Dienstleistungen versus materielle/industrielle Produktion) noch bevor stehen und durch politische Angebote deutlich macht, dass eine Politik des „Zurück in die Zukunft“ keine Perspektive hat, weil auch sie dann keine mehr hat, muss abgewartet werden.

Der Untergang steht nicht bevor

In den Entscheidungen des Parteitags im Dezember 2019 wird deutlich, dass die SPD sich der Tatsache bewusst geworden ist, dass die Suche nach den theoretischen und politischen Positionen, die sie erreichen muss, um nicht unterzugehen, sondern auf Dauer eine relevante Stellung im Parteienwettbewerb einzunehmen, ein langfristiger Prozess ist, der auf der nationalen wie auf der europäischen Ebene unter gegenüber früher stark veränderten ökonomischen, politischen und sozialen wie kulturellen Rahmenbedingungen abläuft. Der Ausgang des Prozesses entscheidet über ihre Chance, sich als attraktive Wettbewerberin mit einem den neuen Bedingungen entsprechend modifizierten „alten“ Alleinstellungsmerkmal sowie mit neuen Themen aufstellen und dem weiteren Niedergang entgehen zu können. Der Untergang steht nicht an. Aufstehen allein reicht jedoch nicht, eine Auferstehung muss es sein.


[1] Vgl. Stöss, Richard (2014) Ursprung und Wendemarken der Parteienentwicklung Thesen zur Zukunft der Parteiendemokratie, Heinrich-Böll-Stiftung, Policy Paper No. 5.

[2] Im Juni 20ß19 waren 2% der Befragten der Meinung, dass die SPD diese Kompetenz besitze. Vgl. ARD DeutschlandTrend Juni 2019.

[3] Ende 2019 bewerteten rund zwei Drittel der SPD-Anhänger die Arbeit der Regierung, und damit wohl auch die der „eigenen Leute“, negativ. Vgl. ARD DeutschlandTrend November 2019 und Dezember 2019.

[4] Alle Zahlenangaben beruhen, wenn nicht anders vermerkt, auf amtlichen Quellen.

[5] Gagné, Jérémie/Hilmer, Richard: Wo genau ist Mitte-Links? Wert- und Policy-Profile sozialdemokratischer Parteien in Europa – aus Sicht der nationalen Wahlbevölkerungen (value gaps/policy gaps). Ergebnisbericht einer Studie von policy matters im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung. Berlin, Juni 2019, http://library.fes.de/pdf-files/id/ipa/15557.pdf.

[6] So klagte der ehemalige Vorsitzende M. Schulz nach der BTW 2017: "Eine verständliche Erzählung, wo wir mit dem Land hinwollen, fehlt - und damit eine wesentliche Voraussetzung für echte Zukunftskompetenz.". Veit Medick, Schulz rechnet mit eigenem Wahlkampf ab, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/martin-schulz-und-die-spd-abrechnung-mit-dem-eigenen-wahlkampf-a-1176582.html, 5.11.2017.

[7] Es gab nach 2009 z. B. die „Zukunftswerkstätten“. Zur Diskussion im Rahmen der FES vgl. die diversen Beiträge in Die Gute Gesellschaft. Soziale und demokratische Politik im 21. Jahrhundert, hrsg. von Christian Kellermann und Henning Meyer, edition suhrkamp, Berlin 2013.

[8] Die SPD-Vorsitzende S. Esken spricht davon, das die SPD „die richtige Vision von der Zukunft“ als Grundlage für ihren „Stolz“  haben solle. „Wir wollen Brückenbauer sein“, Interview in Vorwärts, 6/2019, S.5.

[9] Die Online-Umfrage #SPDerneuern ergab, dass nur knapp 24 % der Mitglieder SPD.de und knapp 25% soziale Netzwerke als Informationskanäle nutzten, mehr als 70% dagegen Tageszeitungen und Fernsehen – und anders als mehr als 2/3 der 20-35jährigen fanden nur rund 53% der über 65jährigen Online-Themenforen „sehr wichtig“.

[10] Ebenda.

[11] Vgl. Richard Stöss, Linke Parteien unter Globalisierungsdruck, in Carsten Koschmieder (Hrsg.) Parteien, Parteisysteme und politische Orientierungen. Aktuelle Beiträge der Parteienforschung, Springer VS, Wiesbaden 2017, S. 155-178.

[12] Vgl. Gero Neugebauer, Politische Milieus in Deutschland. Die Studien der FES, Bonn 2007 sowie Rita Müller-Hilmer/ Jerimie Gangié, Was verbindet, was trennt die Deutschen? Werte und Konfliktlinien in der deutschen Wählerschaft im Jahr 2017, hrsg. v. d. Hans-Böckler-Stiftung, Report Forschungsförderung Nr. 2, Februar 2018, o. O.

[13] Der „Sozialstaatsbeschluss“ auf dem SPD-Parteitag im Dezember 2019 signalisiert eine deutliche Hinwendung  zu neuen Positionen  in der Sozialstaatskonzeption an, die auf tradierten Werten beruhen.