Bericht | Migration / Flucht - Europa - Westeuropa - Europa solidarisch Die Migrationspolitik der «Neuen Demokratie»

In Griechenland hat sich die Situation für Geflüchtete seit 2019 dramatisch verschlechtert

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Maria Oshana,

Spirou Trikoupi 17
Geflüchteten- und Migrant*innenquartiere in Athen sind verlassene Orte, die besetzt und instandgesetzt wurden mit dem Ziel, nicht nur die Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Nahrung, Gesundheitsversorgung und Bildung zu sichern, sondern auch einen Raum für die Entwicklung des Einzelnen und der Gemeinschaft von Bewohner*innen und Unterstützer*innen zu schaffen. Das Spirou Trikoupi 17 in Exarchia/Athen war einer solcher Orte. Das 15 Jahre lang leergestande ehemalige Bürogebäude bietete seit September 2016 über 100 Bewohner*innen ein Zuhause.
Im August 2019 wurde das Haus von der Polizei geräumt. Quelle: trikoupi17blog.wordpress.com

Seit dem Wahlsieg der rechten Nea Dimokratia im vergangenen Juli hat sich die Situation für Geflüchtete und Migrant*innen in Griechenland dramatisch verschlechtert, dabei übertrifft das Ausmaß die schlimmsten Befürchtungen. Bereits im Wahlkampf hatte Nea Dimokratia Stimmung gegen Migrant*innen gemacht. So behauptete Kyriakos Mitsotakis, der Großteil der neu Ankommenden seien Wirtschaftsflüchtlinge, die kein Recht darauf hätten, nach Griechenland zu kommen und versprach, die illegale Migration konsequent zu bekämpfen, so viele Migrant*innen wie möglich abzuschieben und die Zahl der neu ankommenden drastisch zu reduzieren. Dabei bediente sich die ehemals konservative Partei offen der rassistischen Rhetorik der faschistischen Goldenen Morgenröte.

Maria Oshana ist Sozialökonomin aus Hamburg. Seit März 2017 leitet sie RLS-Länderbüro in Griechenland. Davor war sie u.a. als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Außenpolitik für DIE LINKE im Deutschen Bundestag tätig. Zu ihren Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten gehören internationale Politik, Friedenspolitik, gewaltfreie Konfliktbearbeitung, Migration und Asyl.

Wenige Tage nach der gewonnenen Wahl wiederholte der frisch vereidigte Ministerpräsident Mitsotakis seine Ankündigung, das Migrant*innen-«Problem» schnell und konsequent zu lösen. Damit begann eine bis heute anhaltende Serie von menschenverachtenden, planlosen und unwirksamen Aktionen, die in erster Linie die neu gewonnene Macht absichern sollten. Als erste Maßnahme schaffte die neue Regierung das von der Vorgängerregierung aufgebaute Migrationsministerium ab und unterstellte die Angelegenheiten von Migration und Asyl dem Zivilschutzministerium, welches u.a. für die Polizei zuständig ist.

Mit der symbolträchtigen Aktion verknüpfte Mitsotakis zwei Botschaften. Die erste: Wir brauchen kein Ministerium für Migration, weil wir die Migration nach Griechenland stoppen werden. Die zweite: Migrant*innen sind ein Sicherheitsproblem.

Zeitgleich kündigte die Regierung an, Geflüchteten, Asylsuchenden, unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten (UMF) und Nicht-EU-Ausländern keine Sozialversicherungsnummer (AMKA) mehr auszustellen und sie damit faktisch von der Gesundheitsversorgung, dem Bildungswesen und dem Arbeitsmarkt auszuschließen. Nur wenige Wochen später, noch mitten in den griechischen Sommerferien, begann die Regierung Ende August 2019 mit den Räumungen von Migrant*innen bewohnter Häuser im Athener Viertel Exarchia.

Seit dem Sommer 2015 war der als Hochburg anarchistischer und linksradikaler Strukturen bekannte Stadtteil zu einem (relativ) sicheren Hafen für Geflüchtete geworden. Dutzende Häuser und Wohnungen, Refugee Squats, wurden besetzt und boten eine vergleichsweise würdevolle Alternative zu der menschenverachtenden Lagerpolitik. In den Regierungsjahren von SYRIZA konnten die Refugee Squats weitgehend ungestört existieren, Bewohner*innen eine ihrer rechtlichen Unsicherheit trotzenden Existenz aufbauen, Teil der Gesellschaft – zumindest Teil der Nachbarschaft – werden, Beziehungen zu den bereits lange hier Lebenden aufbauen, eine Tür hinter sich zu machen und ein Mindestmaß an Privatsphäre und Würde genießen.

Die neue Regierung hingegen erklärte diese Strukturen zu einer Gefahr für «Recht und Ordnung» und stellte die «Säuberung» Exarchias in das Zentrum ihrer politischen Agenda. Ende August 2019 führte die Regierung mit massivem Polizeiaufgebot und medialer Begleitung die erste Räumung durch. Innerhalb weniger Wochen wurden vier besetzte Häuser von Spezialeinheiten der Polizei gestürmt, die Bewohner*innen in Busse verfrachtet und in staatliche Lager außerhalb Athens transportiert bzw. in Abschiebehaft genommen. Der Regierung wohlgesonnene Medien begleiteten die Räumungen und übernahmen deren Rhetorik, um den Eindruck der Umsetzung von Wahlversprechen zu vermitteln. Dank eines großen Netzwerkes linker Fotojournalist*innen, einer aktiven Nachbarschaft und den sozialen Medien gelangten jedoch Bilder und Geschichten der Bewohner*innen an die Öffentlichkeit – überwiegend von Familien mit Kindern. Damit wurde die Argumentation der Regierung, es handle sich überwiegend um in «Drogenkriminalität verwickelte Ausländer», die die besetzten Häuser für den Drogenhandel nutzten, ad absurdum geführt. Die Lüge einer angeblichen Unterbringung von geräumten Geflüchteten in gut organisierten staatlichen Unterkünften wurde ebenfalls aufgedeckt. In der etwa eine Stunde von Athen entfernten Stadt Korinthos zum Beispiel wurden die Geflüchteten umgehend wieder weggeschickt, nachdem die Kamerateams abgezogen waren – wegen Überfüllung des Lagers. Die ehemals besetzten Häuser in Exarchia stehen heute leer, zugemauerte Eingänge und Fenster machen den Zugang und ihre erneute Nutzung vorerst unmöglich. Viele der ehemaligen Bewohner*innen sind nach Athen zurückgekehrt und nun obdachlos. Doch die Räumungen in Exarchia waren nur der Anfang.

Schneller entscheiden, schneller abschieben

Am 1. November 2019 verabschiedete die Regierung ein neues Asylgesetz, welches den Zugang und die Gewährung von Asyl drastisch erschwert. Mit dem angekündigten Ziel, Verfahren zu beschleunigen, um bei Ablehnung schneller abschieben zu können, sieht das zum 1. Januar 2020 in Kraft getretene Gesetz u.a. vor, dass auch griechische Polizei- und Armeeangehörige nun Asylinterviews durchführen können, Vertreter*innen des UNHCR hingegen nicht mehr beteiligt sein sollen. Dies ist in mehrfacher Hinsicht besorgniserregend. Die Polizei verfügt nicht über die erforderliche Qualifikation, um solche Interviews zu führen, außerdem gehören Polizei- und Armee-Angehörige traditionell dem rechten politischen Spektrum an und entscheiden somit eher restriktiv. Darüber hinaus wurde die Möglichkeit des Widerspruchs gegen einen ablehnenden Bescheid erschwert. Zudem wird die Inhaftierung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten (UMF) in «Schutzhaft» erleichtert, der Kinderschutz für UMF über 15 Jahren eingeschränkt, die Schutzbedürftigkeit von Personen mit Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) aberkannt und die Anerkennung als Folteropfer an ein Attest durch Ärzte staatlicher griechischer Krankenhäuser gekoppelt – die für eine solche Beurteilung in der Regel nicht qualifiziert sind.

Erst vor wenigen Wochen hat die Regierung Mitsotakis damit begonnen, Geflüchtete unmittelbar nach Ankunft auf den Inseln zu inhaftieren. Innerhalb von 25 Tagen sollen ihre Chancen auf Asylanerkennung geprüft und bei negativer Aussicht auf Anerkennung die Geflüchteten umgehend abgeschoben werden. Das verschärfte Asylgesetz, welches die neue Regierung bereits im August angekündigt hatte, sorgte international für Empörung, da es das Recht auf ein faires Asylverfahren und individuelle Prüfung faktisch abschafft und das Verfahren zugleich mit einer grundlosen, rechtswidrigen Inhaftierung verbunden ist.

Die Inhaftierung von Geflüchteten steht auch im Zentrum der Regierungspläne, neue geschlossene Zentren auf den Hotspot-Inseln zu errichten. Anstatt die überfüllten Lager auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos zu schließen und die Menschen auf das Festland zu bringen und in Wohnungen unterzubringen, wie von Geflüchteten, NGOs, Aktivist*innen und den Inselbewohner*innen gefordert wird, sollen sie durch «geschlossene Zentren», also Haftanstalten, ersetzt, die Migrant*innen für die Öffentlichkeit unsichtbar gemacht und vom Zugang zu rechtlicher und humanitärer wie politischer Unterstützung abgeschnitten werden.

Dem Plan der Regierung zufolge sollen die dort Inhaftierten innerhalb von drei Monaten das Asyl-Verfahren durchlaufen und dann entweder entlassen oder abgeschoben werden. Als schutzbedürftig eingestufte Personen, wie etwa unbegleitete Minderjährige, sollen für bis zu 18 Monate in den Zentren festgehalten werden können. Abgesehen davon, dass die Internierung grundsätzlich inakzeptabel und rechtswidrig ist und eine massive Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, ist das Konzept vollkommen unrealistisch und nur unter Aufgabe aller rechtlichen Mindeststandards umzusetzen. Ein zügiges rechtsstaatliches Verfahren dauert schon in Deutschland mindestens sechs Monate. Die Pläne der griechischen Regierung basieren auf der vollkommen irrwitzigen Berechnung, die Migrationsroute über die östliche Ägäis künftig vollständig undurchlässig zu machen und blendet zudem die anhängigen Anhörungstermine aus, auf die mehrere Tausend Asylsuchende bis zu drei Jahren warten müssen.

Wachsender Widerstand aus den eigenen Reihen

Die geplanten geschlossenen Zentren sind nicht nur Ausdruck einer menschenverachtenden, rassistischen Politik, sondern der sture Versuch, gegen die Realität der Migration, die tödlichen Bedingungen in den Hot-Spots und den wachsenden Protest aus der eigenen Wählerschaft anzukämpfen. Seit Jahren steht Griechenland wegen des schlechten «Migrationsmanagements» international in der Kritik. Lager wie Moria auf Lesbos waren schon beim Bau für die geplanten Kapazitäten unterausgestattet, die Versorgung mangelhaft und der Schutz unzureichend. Bis heute wird dort wie in fast allen griechischen Geflüchteten-Camps im Notfall-Modus operiert. Tödliche Unfälle, Selbstmorde, schwere Erkrankungen, Gewalt und Verzweiflung sind die Folge.

Anstatt die Verfahren zur Aufnahme, Integration, Relocation und Familienzusammenführung rechtlichen Mindeststandards entsprechend auszubauen und legale Migrationswege zu öffnen, haben sich die EU-Staaten in den letzten Jahren darauf konzentriert, die Grenzkontrollen zu verschärfen und die Grenzanlagen weiter auszubauen – mit dem Ziel, die Migrationsbewegungen zurückzudrängen und, wenn möglich, Migrant*innen von der EU fernzuhalten. Dafür wurden mit diversen Staaten Abkommen zur Rücknahme von Geflüchteten und der Einrichtung von Lagern getroffen – u.a. der so genannte EU-Türkei-Deal, der das Festhalten der Geflüchteten auf den griechischen Inseln beinhaltet.

Ausgerechnet die eigenen Parteifreunde machen es der Regierung seit der Amtsübernahme schwer, ihre großspurigen Ankündigungen umzusetzen. Vor den Parlamentswahlen im Juli 2019 hatte Griechenland, zeitgleich zu den EU-Parlamentswahlen, Regional- und Bürgermeisterwahlen durchgeführt. Dabei gewann Nea Dimokratia in zwölf von dreizehn Regionen und viele Bürgermeisterposten in Griechenland. Die ersten Proteste gegen die Migrationspolitik der «Neuen Demokratie» kamen aus dem Norden Griechenlands. Als Reaktion auf Berichte über die katastrophalen Lebensbedingungen im Camp Moria auf Lesbos, sollten einige Hundert Migrant*innen von dort auf das Festland umgesiedelt werden. Gemeinden in Nordgriechenland sollten Geflüchtete aufnehmen und in leerstehenden Gebäuden und Hotels unterbringen. Oftmals angeführt von Nea Dimokratia-Bürgermeister*innen wurden Zufahrtstrassen blockiert und Busse mit Geflüchteten mit Steinen beworfen, bis sie abdrehten. Bis heute gelingt es dem Ministerpräsidenten nicht, Lokalpolitiker*innen aus der eigenen Partei zur Kooperation zu bewegen.  Nach massiven Protesten auf dem Festland eskaliert der Konflikt nun auf den Inseln.

Proteste richten sich noch immer und mit zunehmender Gewalt gegen Migrant*innen. Auf Lesbos machen selbst ernannte Bürgerwehren Jagd auf Migrant*innen, Mitarbeiter*innen von NGOs und Aktivist*innen, verbale und physische Angriffe haben dort aber auch in ganz Griechenland in den letzten Monaten zugenommen. Maßgeblich dazu beigetragen hat die rassistische Rhetorik der rechten Regierung unter Mitsotakis. Doch nun richtet sich der Protest ebenso gegen die Regierung – und kommt auch aus der eigenen Anhängerschaft. Nach der Weigerung von diversen Gemeinden auf dem Festland, Geflüchtete von den Inseln aufzunehmen, wehren sich jetzt die Inselbewohner*innen gegen die geplanten geschlossenen Zentren. Nachdem die Regierung vor wenigen Wochen angekündigt hat, für den Bau der geschlossenen Lager auf den Inseln notfalls auch Privatbesitz zu beschlagnahmen, eskalierte die Situation. Der Bürgermeister von Chios hat den Kontakt zur Zentralregierung abgebrochen. Auf Lesbos lud eine Gruppe Inselbewohner*innen eine LKW-Ladung Rettungswesten-Müll auf der Neubaufläche ab, Zufahrtsstraßen wurden blockiert. In der Nacht vom 24. auf den 25. Februar 2020 erreichte die im Sommer mit gutgelaunten Tourist*innen gefüllte Fähre Naxos Blue Star die Inseln Lesbos und Chios, vollbeladen mit Aufstandsbekämpfungseinheiten der Polizei (MAT), Wasserwerfern und schwerem Gerät. Sie sollen den Bau der neuen Zentren absichern und notfalls mit Gewalt durchsetzen. Es folgten die schwersten Auseinandersetzungen seit Jahrzehnten auf den Inseln (die bei Redaktionsschluss andauern).

Derweil bemüht sich die Regierung um Schadensbegrenzung. Im Januar musste der griechische Ministerpräsident die Entscheidung, das Migrationsministerium abzuschaffen, rückgängig machen und kündigte ein neues Ministerium für Migration und Asyl an, das sich vor allem auf die Grenzsicherung konzentrieren solle. Nach breiten Protesten von internationalen Menschenrechts- und Gesundheitsorganisationen und Berichten über schwer kranke Kinder, die nach dem Ausschluss aus dem Gesundheitssystem nur noch «illegal» behandelt werden konnten, wurde auch der Entzug der Sozialversicherungskarte teilweise zurückgenommen.

In einem weiteren Akt der Verzweiflung nimmt die Regierung nun NGOs ins Visier. Seit Monaten macht sie Stimmung gegen Hilfsorganisationen, wirft ihnen unter anderem vor, sich als Schleuser zu betätigen und Proteste in Camps angestiftet zu haben. Anfang Februar verabschiedete die Regierung ein Gesetz, demzufolge alle NGOs ein Registrierungs- und Genehmigungsverfahren durchlaufen müssen, ansonsten drohten strafrechtliche Konsequenzen. Es handelt sich ohne Frage um den Versuch, Unterstützung für und Solidarität mit Migrant*innen zu kriminalisieren und sich kritischer Beobachtung und der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen – wie den illegalen push-backs in der Region Evros – zu entledigen.

Der griechischen Regierung fliegt ihre Migrationspolitik von allen Seiten um die Ohren. Sie könnte daran kollabieren.