Interview | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Geschlechterverhältnisse - Partizipation / Bürgerrechte - International / Transnational - Westasien - Golfstaaten - Westasien im Fokus «Unterdrückung und Angst haben zugenommen»

Interview mit der saudischen Frauenrechtlerin Regina Nasr

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«Unterdrückung und Angst haben zugenommen» Interview mit der saudischen Frauenrechtlerin Regina Nasr
Saudi-Arabien: Das Prinzip der männlichen Vormundschaft besteht weiter: Frauen können wegen «Fluchtgefahr» inhaftiert werden. CC BY-NC-ND 3.0, Illustration: Human Rights Watch

Mit den jüngsten Modernisierungen in Saudi-Arabien möchte Kronprinz Muhammad bin Salman auch von der desolaten Menschenrechtslage ablenken, sagt Regina Nasr. Die saudische Aktivistin für Frauenrechte lebt in Australien, wo sie Asyl bekommen hat. Christopher Resch* hat mit ihr gesprochen.
 

Christopher Resch: Das Fahrverbot für Frauen in Saudi-Arabien ist offiziell abgeschafft. Doch genau die Aktivistinnen, die sich dafür eingesetzt haben, sitzen im Gefängnis. Warum?

Regina Nasr: Die Aufhebung des Fahrverbots für Frauen ist keine Reaktion auf die Forderungen der Frauen. Sie kam als Antwort auf den Imageschaden, den die Aktivistinnen dem Staat zugefügt haben, als sie das Thema an die internationale Öffentlichkeit brachten. Für diesen Imageschaden werden sie jetzt bestraft. In der Sicht der Regierung soll das allen anderen Frauen eine Lehre sein. Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie, in der das Volk keine Rechte zu fordern hat.

Christopher Resch arbeitet als freier Journalist vor allem zu Themen aus Westasien und Nordafrika und ist Herausgeber des Bandes «Medienfreiheit in Ägypten» (2015). Zuvor war er für das Goethe-Institut in Ägypten und Saudi-Arabien tätig.

Kronprinz Muhammad bin Salman will die Modernisierung des Landes vorantreiben. Wie glaubwürdig ist das?

Es ist Propaganda. Um die Leute glauben zu machen, der junge Prinz sei der Erneuerer des saudischen Staates, wird internationale Prominenz ins Land geholt – während die Menschen wirtschaftlich, sozial, kulturell und politisch in viel schlechteren Verhältnissen leben als unter seinen Vorgängern. Unterdrückung und Angst haben zugenommen. Die Arbeitslosigkeit ist dramatisch gestiegen. Aber die jungen Menschen können ihre Kritik nur unter Pseudonymen und Fake-Accounts auf Twitter äußern. Und selbst dort verschwinden Hashtags wie der, der zum Sturz des männlichen Vormundsystems aufrief, aus den saudischen Twitter-Trends. Viele ehemals sehr aktive Twitter*innen haben aufgehört, ohne dass wir den Grund kennen. Die Furcht beherrscht alles.

Das System der männlichen Vormundschaft über die Frauen wurde ein wenig gelockert. Frauen brauchen nun zum Beispiel nicht mehr die Zustimmung des Vormunds für eine Reise. Ist das tatsächlich ein Fortschritt?

Richtig, das System ist nicht mehr so streng wie zuvor, aber das gilt größtenteils nur auf dem Papier. Außerhalb der Großstädte wie Riad und Dschidda, in denen die Gesellschaft offener für Veränderungen ist, sieht es ohnehin anders aus. Das Land wird immer noch von einer männlichen Mentalität beherrscht. Viele Familien, die den neuen Kurs im Land eigentlich begrüßen, sehen in der Lockerung der Vormundschaft eine Bedrohung für die Moral der Frauen und der Familie. Deshalb behindern sie die Bemühungen der Frauen, ihre Rechte zu erlangen.

Welche Mittel nutzt der saudische Staat, Frauen kleinzuhalten? Was fürchten die Verantwortlichen?

Hier kommt etwas zum Zug, das ich die «Schattengesetze» nenne. Es gibt eine Reihe von Regeln in Saudi-Arabien, die die Umsetzung neuer, fortschrittlich erscheinender Gesetze einschränken. Darüber weiß die internationale Gemeinschaft nichts. Ein Beispiel: Die saudische Regierung propagiert der Welt, dass Frauen ohne die Zustimmung ihres Vormunds reisen dürfen. Er darf sie jedoch weiterhin wegen Fluchtgefahr inhaftieren lassen, um für ihre Sicherheit zu garantieren.

Warum verhält sich die saudische Regierung so?

Weil sie Angst hat, dass die Männer sich gegen sie auflehnen. Die Familie der Saud regiert mittels psychologischer Manipulation: Die männlichen Bürger haben im Grunde keine Rechte – außer in ihrer Familie. Dort dürfen sie über Frauen und Kinder bestimmen. Wenn nun die Frauen befreit werden, also wie die Männer werden: Was bleibt dann noch von dem saudischen Mann? Er wird sich wertlos fühlen und sich früher oder später gegen die Herrscher auflehnen.

Junge Saudis wirken oft sehr zufrieden mit den neuen Entwicklungen. Was denken Sie darüber?

Meistens wird das, was heute in Saudi-Arabien passiert, nur aus der Perspektive von Entertainment und Unterhaltung betrachtet. Aber wie steht es um die steigende Arbeitslosigkeit? Die weit verbreitete Diebstahlkriminalität? Die zunehmende Gewalt gegen Frauen und Kinder? Bildungs- und Gesundheitsprobleme, Minderheitenrechte, Wohnungsnot, den extravaganten Lebensstil der königlichen Familie? Wir sollen Steuern zahlen, obwohl wir weder ein Wahlrecht haben noch Parteien gründen können, und wissen nicht einmal, wo das Geld hinfließt. Und wir haben uns vor Jahren in den Krieg im Jemen gestürzt, der eine humanitäre Tragödie ist.

Sie möchten anonym bleiben und sind online quasi nicht existent. Welche Wirkung hatte die Ermordung Jamal Khashoggis im Istanbuler Konsulat auf die saudische Aktivist*innenszene?

Wir sind uns noch stärker bewusst geworden, wie kriminell unsere Regierung ist. Ja, wir wussten das schon vorher, aber mit der Ermordung Khashoggis hat die Regierung allen bewiesen, dass es sich hier um eine Diktatur handelt. Der Mord zielte nicht nur darauf ab, ihn selbst zum Schweigen zu bringen, sondern auch die im Ausland lebenden Kritiker*innen sollten die Botschaft verstehen: Ihr seid nicht sicher, wir finden euch, egal, wo ihr seid.

Sie haben in Australien Asyl bekommen. Was können Sie von dort aus tun, um die Rechte der saudischen Frauen zu unterstützen?

Wir sind ständig bemüht, in den sozialen Medien die Realität saudischer Frauen zu beschreiben. Am Anfang war das schwierig, weil viele Menschen einfach nicht wussten, was saudische Frauen erdulden müssen. Viele, auch Araber*innen, waren sehr erstaunt, dass es saudische Asylbewerberinnen überhaupt gibt. Es herrscht ein Bild vor, das auch von den Medien propagiert wurde: dass die saudischen Frauen doch genügend Geld für alles und deswegen keine Probleme hätten. Doch mit der steigenden Zahl von Asylbewerberinnen und ihren persönlichen Geschichten kommt die Wahrheit ans Licht. Wir arbeiten gerade an der Gründung einer Organisation, die Schutz und Gemeinschaft für geflüchtete saudische Frauen bieten soll. Wir müssen uns gegenseitig unterstützen, als große Familie.

Wie bleiben Sie mit anderen Aktivist*innen in Saudi-Arabien in Kontakt, wie sind Sie vernetzt?

Mit Menschen im Land selbst zu kommunizieren, ist gefährlich. Die saudische Regierung nutzt Spyware, hat die Handys einiger Aktivist*innen und eine Reihe von Twitter- und anderen Konten gehackt. Man sollte nicht das Leben der Menschen zu Hause zu riskieren. Der saudischen Regierung kann man nicht trauen.