Kommentar | Partizipation / Bürgerrechte - Asien - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus Die libanesische Revolution: Ohne die Hausangestellten

Ein neues Kapitel des Kafala-Elends im Libanon

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Banchi Yimer,

Protest von Hausangestellten im Libanon
Bei ihrer jährlichen Demonstration fordern migrantische Hausangestellte die Abschaffung des Kafala-Systems (Beirut, Libanon, 5. Mai 2019) Hussein Baydoun / The Public Source

Die libanesische Revolution hat hunderttausende Menschen auf die Straßen getrieben, die sich nach einem neuen, aus dem Griff einer korrupten Elite befreiten Land sehnen. Libanes*innen aller sozialen Schichten scheint das Gefühl zu beflügeln, dass die Zukunft ihres Landes endlich in ihren Händen liegt. Doch für ausländische Hausangestellte, die zu den Machtlosen der Gesellschaft gehören, ist noch immer nicht an die Mitgestaltung eines Libanon der Zukunft zu denken. Für viele kommt es nicht infrage, sich den Protesten auf der Straße anzuschließen, weil sie abgeschnitten von der Außenwelt in Haushalten festsitzen und ihren Arbeitgeber*innen schutzlos ausgeliefert sind – Bedingungen, die das repressive Kafala-System ermöglicht.

Banchi Yimer ist eine ehemalige Hausangestellte und hat fast zehn Jahre lang im Libanon gelebt. Gemeinsam mit anderen äthiopischen Arbeitsmigrant*innen gründete sie Engna Legna («Us for Ourselves»), eine gemeinschaftsbasierte Organisation, die für die Belange migrantischer Hausangestellter und Frauen im Libanon und Äthiopien eintritt.

Dadurch, dass der aufenthaltsrechtliche Status von Arbeitsmigrant*innen an einen Arbeitsvertrag geknüpft ist, öffnet Kafala potentieller Tyrannei durch Arbeitgeber*innen Tür und Tor. Arbeitgeber*innen können Löhne einbehalten, schreckliche Missbrauchsfälle bleiben ohne Konsequenzen, das Leben der Hausangestellten wird so zur Hölle auf Erden. Ich bin selbst ehemalige Hausangestellte und habe 2017 Engna Legna («Us for Ourselves») gegründet, eine Gruppe äthiopischer Migrant*innen, die für die Arbeitsrechte von Hausangestellten im Libanon eintritt. Als sich die Proteste im Land verbreiteten, fragten sich die Frauen, mit denen und für die wir in der Community arbeiten, was die Zukunft bringen würde. Manche befürchteten, die friedlichen Proteste könnten sich zu gewaltsamen Konflikten entwickeln. Andere hegten die leise Hoffnung, dass ein Umsturz des politischen Establishments dazu führen könnte, dass Hausangestellte endlich als Menschen mit Grundrechten und Würde anerkannt werden.

Während die Exzesse der politischen und ökonomischen Eliten für viele Libanes*innen das Fass zum Überlaufen gebracht haben, bleiben die von Hausherren begangenen Missbrauchsfälle in der libanesischen Gesellschaft weitgehend ignoriert. Obwohl es im Libanon rund 250.000 ausländische Hausangestellte gibt, macht sich kaum jemand Gedanken über sie. Selbst im aktuellen Revolutionsgeschehen spielt die Forderung nach Gleichstellung der Hausangestellten und Abschaffung der Kafala innerhalb der Diskurse und Aktionen der Bewegung größtenteils keine Rolle – abgesehen von wenigen Ausnahmen wie der vom Anti-Racism Movement initiierten öffentlichen Diskussion im letzten November.

Die grausame Ironie besteht darin, dass Arbeitgeber*innen sich die schlechter werdende Wirtschaftslage zunutze machen, um ihre ausländischen Hausangestellten noch weiter auszubeuten, etwa indem sie Löhne einbehalten – eine gängige und gut dokumentierte Praxis. Im Zuge der Finanzkrise gab es dutzende Fälle, bei denen reiche Arbeitgeber*innen behauptet haben, sie seien nicht in der Lage, die dürftigen Löhne ihrer Hausangestellten zu zahlen. Eine der von uns unterstützten Arbeiter*innen ist eine alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Einkommen für die Ernährung und Schulausbildung ihrer beiden Kinder in Äthiopien sorgen muss. Sie wurde seit sechs Monaten nicht bezahlt, was ihre Kinder in eine verzweifelte Situation gebracht hat. Als sie ihre Arbeitgeber anflehte, ihr den ausstehenden Lohn auszubezahlen, wurde sie brutal geschlagen und immer wieder mit dem Hinweis abgefertigt, es sei kein Geld im Umlauf. Sie müsse Geduld haben und das Ende der Krise abwarten.

Manche Arbeitgeber*innen geben sich alle Mühe, die bohrenden Nachfragen der zurückgelassenen Familien zu unterbinden, indem sie den Arbeiter*innen ihr monatliches Telefongespräch verweigern. In den letzten Wochen erreichten uns unzählige Geschichten von Familien in ländlichen Gegenden Äthiopiens, die, in Unkenntnis der schlimmen Lage im Libanon, von den plötzlichen Zahlungsunterbrechungen überrascht wurden. Die ausfallenden Überweisungen haben schwerwiegende Konsequenzen, wie etwa Ernährungsunsicherheit und mangelnder Zugang zu Bildung. Die unerwarteten Lohnkürzungen strapazieren die Familien auch deshalb, weil sie völlig im Unklaren darüber sind, was ihren Töchtern, Müttern und Schwestern zugestoßen sein könnte – vor allem jetzt, nachdem sich in Äthiopien herumgesprochen hat, dass viele im Libanon beschäftigte Hausangestellte nicht lebendig zurückkehren.

Andere Arbeitgeber*innen begannen auf zunehmenden Druck hin, die Löhne in Libanesischen Pfund statt in Dollar zu zahlen, ohne die extreme Abwertung der lokalen Währung zu berücksichtigen. Hausangestellte, die in Pfund bezahlt werden, erleiden erhebliche Verluste. Der Wechselkurs der Libanesischen Lira beträgt offiziell immer noch 1,507 pro US-Dollar, liegt jedoch auf dem Schwarzmarkt – und somit bei tatsächlichen Alltagsgeschäften – inzwischen bei über 2,000. Nach heutigem Stand entstehen den Hausangestellten, die Geld nach Hause schicken, durch den Wechselkurs Einbußen von mindestens 25 bis 30 Prozent.

Die Finanzkrise verschärft auch weitere Praktiken des Missbrauchs, etwa erzwungenen illegalen Aufenthalt und Gefangenstatus über die Vertragslaufzeit hinaus. Im Kafala-System obliegt es den Arbeitgeber*innen, die für die Erteilung des Aufenthaltsstatus benötigten Dokumente auszufüllen. Theoretisch sind Arbeitgeber*innen außerdem verpflichtet, nach Vertragsende für den Rückflug aufzukommen. Es kam aber immer wieder vor, dass Arbeitgeber*innen vorgetäuscht haben, die Kosten für die Rückreise nicht übernehmen zu können. Seit Beginn der Revolution passiert es zudem zunehmend, dass das vermeintliche Chaos ausgenutzt und den Arbeiter*innen gegenüber fälschlicherweise behauptet wird, der Flughafen sei bis auf weiteres geschlossen. Tatsächlich halten Arbeitgeber*innen die Hausangestellten in Gefangenschaft, denn so entziehen sie sich einerseits der vertraglichen Verpflichtung, Arbeiter*innen nach Ende ihrer Zweijahresverträge zu entlassen, und umgehen andererseits die vorgeschriebenen Einreisegebühren. Arbeiter*innen hatten nie die Möglichkeit, ihre Arbeitgeber*innen für ihre Vergehen zur Rechenschaft zu ziehen, doch letztere agieren angesichts der unruhigen Zeiten noch skrupelloser.

Auch offizielle libanesische Vermittlungsagenturen haben in den letzten Monaten zur Verschlechterung der Situation des ausländischen Dienstpersonals beigetragen. Uns ist eine ganze Reihe von Vorfällen bekannt, bei denen Mitarbeiter*innen solcher Agenturen sich als Zwischenhändler*innen betätigten. Statt einen direkten Vertrag zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen aufzusetzen, betrieben sie unter der Hand Geschäfte, verkauften die Arbeitskraft der Arbeiter*innen und beanspruchten den Profit für sich. Diese Zwischenhändler*innen treffen rechtswidrige Vereinbarungen mit den Hausherr*innen und locken Arbeiter*innen in einen Teufelskreis der Sklaverei. Diese schinden sich ohne Lohn in einem Haus nach dem anderen ab, während die Zwischenhändler*innen aus mehreren Quellen gleichzeitig Profite einstreichen. Hinzu kommt, dass die Zwischenhändler*innen die für das Aufenthaltsrecht der Arbeiter*innen nötigen Zahlungen unterlassen, was dazu führt, dass sich diese illegal im Land aufhalten. Jeder Versuch, sich der beschriebenen Situation zu entziehen, könnte also das Eingreifen der Behörden und eine vorschnelle Ausweisung nach sich ziehen.

Arbeiter*innen, denen es gelingt, ihren ausbeuterischen Arbeitgeber*innen zu entkommen, leben zur Miete und sind meist illegal beschäftigt. Auch sie bleiben von den Auswirkungen der Wirtschaftskrise nicht verschont. Viele verloren ihren Job mit der Begründung, es gäbe kein Geld, um sie zu bezahlen. Obwohl sie ihren früheren gefängnisartigen Unterkünften entkommen sind, entstehen diesen Arbeiter*innen zusätzliche Ausgaben für Miete und Nahrungsmittel sowie Fahrtkosten, wodurch sie zunehmend prekär leben. Wir hatten den Fall einer Mutter, der keine andere Wahl blieb, als ihr Kleinkind in ein Waisenhaus zu geben, weil sie es nicht mehr ernähren konnte. Es gibt nach wie vor keine geregelten Alternativen oder Rettungsstrategien zur Unterstützung der verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft.

Mir ist klar, dass viele libanesische Arbeiter*innen keinen Job haben und ihr Erspartes nach und nach zur Neige geht. Wir verfolgen die Nachrichten. Lohnkürzungen, gesperrte Konten und Geschichten von Männern, die ihre Familie nicht mehr ernähren können und sich das Leben nehmen, schockieren auch uns. Doch viel zu viele Libanes*innen ohne finanzielle Sorgen nutzen die gegenwärtige ökonomische Unsicherheit, um Hausangestellte als Geiseln zu nehmen und sich eine kostenlose Arbeitskraft zu sichern, und gefährden so die ohnehin prekäre Existenz migrantischer Frauen aus Afrika und Asien noch zusätzlich. Auch Monate nach Beginn des Aufbegehrens haben wir Hausangestellten leider nicht das Gefühl, als hätte die Revolution etwas mit uns zu tun, und wir rechnen nicht damit, dass durch die Veränderungen infolge der Proteste unserem Anliegen Rechnung getragen wird.

Aktivist*innen von KAFA und dem Anti-Racism Movement haben sich mit uns solidarisch erklärt, doch es gibt viel zu wenig konkrete Unterstützung. Ich hoffe darauf, dass es ihnen irgendwann gelingt, eine längst überfällige gesellschaftliche Debatte über die Rolle von Hausangestellten in der libanesischen Gesellschaft und mögliche Wege zur Verbesserung ihrer Situation anzustoßen.
 

[Übersetzung von Katharina Martl und Utku Mogultay für Gegensatz Translation Collective]

Erstveröffentlicht am 18. Februar 2020