News | Parteien / Wahlanalysen - Mexiko / Mittelamerika / Kuba Die Vierte Transformation auf dem Prüfstand

Was ist vom linken Projekt AMLOs noch übrig?

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Sandy El Berr,

Foto: Desinformémonos

Nachdem Andrés Manuel López Obrador am 1.7.2018 die Wahlen im dritten Anlauf mit einem Erdrutschsieg gewann, waren die Hoffnungen vieler Mexikaner auf einen Wandel groß. In Anlehnung an historische Prozesse bedeutender politischer und sozialer Umwälzungen in Mexiko bezeichnet AMLO, so wird der Präsident auch gern genannt, seine am 1.12. 2018 begonnene Präsidentschaftsperiode als Vierte Transformation. Linke Regierungspolitik mit Antineoliberalismus, sozialer Gerechtigkeit und Korruptionsbekämpfung werden im Regierungsprogramm seiner Partei Morena groß auf die Fahne geschrieben. Und anfangs, so schien es, gab es aufgrund einiger innenpolitischer Konstellationen potentielle (wenn auch stark limitierte) Spielräume für linke Politik: die Wahlen bescherten Morena und den Koalitionspartnern eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses; sie stellten nach den Gouverneurswahlen 2018-2019 die Regierung in sieben Bundesstaaten, darunter Mexiko-Stadt. Auf der anderen Seite ging die parteipolitische Opposition stark geschwächt aus den Wahlen hervor. Die Legitimationskrise sowie interne Machtkämpfe hat sie bis heute nicht überwunden. Dies steht anderen Faktoren gegenüber, mit denen das Land bis heute zu kämpfen hat: die generalisierte Korruption, Gewalt, Militarisierung, die systemisch-organische Verwicklung von Politik, Wirtschaft und Streitkräften mit dem organisierten Verbrechen. Hinzu kommen die strukturellen Abhängigkeiten auf der globalen Ebene, dazu zählen auch die diversen Freihandelsabkommen, die Mexiko ein neoliberales Korsett überziehen und die Selbstbestimmung über nationale Politiken stark einschränken, wie NAFTA mit dem Kapitel 11 deutlich gezeigt hat[1]. Der Umstand, dass drei Viertel des mexikanischen Außenhandels in die USA gehen, zeigt die Wichtigkeit des hegemonialen Nachbarlandes nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

Welches Fazit lässt sich nach eineinhalb Jahren Regierungszeit ablesen? Haben wir es mit einem linken Transformationsprojekt zu tun?

Um regieren zu können, ist der Präsident Allianzen mit einflussreichen Großunternehmen, lokalen und transnationalen Wirtschaftsgruppen, Rechten, Militärs und Religiösen eingegangen. Das erscheint auf den ersten Blick strategisch, unterminiert aber mittel- und langfristig die Anstrengungen einer wirklichen Transformation. Dies manifestiert sich in unter anderem in starken Widersprüchen und Blockaden innerhalb der Regierung. So kann die Neuausrichtung einiger Wirtschaftspolitiken, die dem Staat eine stärkere Rolle in der Wirtschaft zuweist, nicht darüber hinwegtäuschen, dass trotz des antineoliberalen Diskurses die zugrundeliegenden neoliberalen Wirtschaftsstrukturen unangetastet bleiben. Extraktivismus, Megaprojekte mit ausländischen Investitionen, der Ausbau fossiler Energien («Energie-Souveränität») auf Kosten der erneuerbaren Energien, die Exportorientierung (Fertigteilproduktion in Enklaven unter prekären Arbeitsbedingungen, gerade auch in Zeiten der Pandemie und mit desaströsen Umweltauswirkungen), die Ankurbelung des internen Marktes und des nationalen Konsums sind einige Elemente des auf Wirtschaftswachstum basierenden Modells, das die Reproduktionsmusters des Kapitals strukturell nicht in Frage stellt.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass ein Großteil des Projektes der Nation von Großunternehmen ausgearbeitet wurde. Und während Morena vor 2018 NAFTA und andere Freihandelsverträge kritisiert hat, hat sie als Regierungspartei die Ratifizierung von NAFTA 2.0 (das neue nordamerikanische Freihandelsabkommen USMCA) im Kongress ohne Diskussionen durchgewunken.

Auf der anderen Seite hat die Regierung unter AMLO ganz klar sozial progressive Politiken gefördert, v.a. im Gesundheitsbereich, Krankenversicherung, Bildung, Einkommenstransfers über die Erhöhung des Mindestlohns und über Sozialprogramme mittels Stipendien für Schüler*innen, Azubis, Studierende, allgemeine Basisrente, «bonos», Unterstützung für Aufforstungsmaßnahmen der ländlichen Bevölkerung, garantierte Abnahmepreise für Grundnahrungsmittel (Mais, Bohnen, Reis, Weizen), Arbeitslosenunterstützung für junge Menschen, wenn sie Aus- und Fortbildungsmaßnahmen absolvieren, u.a. Zwar haben die Sozialprogramme die Armut gemindert, aber sie sind auch nicht unproblematisch: assistenzialistisch ausgerichtet schaffen sie klientelistische Abhängigkeiten und bewirken daher keine signifikanten, dauerhaften Veränderungen. Auch ist die Sozialpolitik der Dynamik der Kapitalreproduktion untergeordnet, und mit der strikten, von AMLO verordneten Haushaltsdisziplin bleibt die Frage nach deren nachhaltiger Finanzierung in Zeiten wirtschaftlicher Krisen offen. Ein weiterer strittiger Punkt ist der Direkttransfer der Gelder auf Bankkonten der Bedürftigen. Ein Großteil der Überweisungen läuft über die Banco Azteca, dessen Besitzer des Multimillionär Carlos Salinas Pliego ist, dem die Grupo Azteca (darunter TV-Azteca) gehört. Für ihn ist es ein lukratives Geschäft, für das der mexikanische Staat (und Steuerzahler) jährlich Millionen zahlt. Gleichzeitig wurde der Geldhahn für gemeinnützige NROs und Initiativen abgedreht, ungeachtet dessen, dass nicht alle Organisationen Regierungsgelder in der Vergangenheit veruntreut haben.

Mit der Durchsetzung mehrerer Megaprojekte wie dem Proyecto Integral Morelos (PIM), dem Maya-Zug oder dem Transisthmus-Korridor auf Kosten kollektiver Rechte ländlicher und indigener Gemeinden[2], aber auch durch seine konfliktive Beziehung zu den feministischen Bewegungen und Politiken der Geschlechtergerechtigkeit[3] haben es sich Regierungsmitglieder und AMLO mit einem Teil der Zivilgesellschaft und der sozialen Bewegungen verscherzt. Dies sowie aktuelle Debatten um die Pressefreiheit im Falle der staatlichen Nachrichtenagentur Notimex hat die Polarisierung innerhalb der Linken und progressiven Strömungen in Mexiko verstärkt.

Hinzu kommt die erneute oder fortschreitende Militarisierung. Im Zuge der Covid-19-Pandemie wurde im Mai 2020 ein Dekret erlassen, das den Militärs erweiterte Kompetenzen auch außerhalb des Gesundheitsbereichs verschafft. Auch in AMLOs Regierungszeit wurden die Befugnisse der Militärs ausgeweitet. Dies ist u.a. dem Druck der Militärs geschuldet; mehr als einmal gab es Gerüchte über einen Militärputsch gegen die Regierung. Nun ist die Armee auch Auftragnehmer und für die Sicherheit bei wichtigen Megaprojekten zuständig. Und die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, an denen Militärs beteiligt waren, findet so gut wie nicht statt. Es herrscht weiterhin eine generalisierte Straflosigkeit.

Letztlich sind weder die Partei Morena, die sich gerade selbst in Machtkämpfen zerlegt, noch die sozialen Bewegungen integraler Bestandteil der 4T. Das schwächt die Regierung in ihren Reformvorhaben gegenüber mächtigen Interessengruppen, darunter auch den Militärs.

Dass Morena im aktuellen Geschehen wenig relevant ist, hat u.a. damit zu tun, dass mit dem Wahlsieg keine weiterführenden Prozesse der politischen Basisorganisation über Wahlkampagnen und Befragungen (consultas) hinaus durchgeführt wurden. Gleichzeitig ist die Partei Sammelbecken für opportunistische Überläufer anderer Parteien geworden, so dass sich die Kräfteverhältnisse der linken Strömung in Morena zu ihren Ungunsten verschoben haben. Und mit dem Erdrutschsieg sind wichtige Köpfe der Partei in der Regierung; Morena fehlt es an neuen Führungspersonen.

Schließlich ist keine organisierte soziale Basis vorhanden, um substanzielle strukturelle Veränderungen zu tragen. Auch die Schaffung neuer Formen kollektiver oder gemeindebasierter Demokratie außerhalb lokaler Initiativen ist nicht in Sicht. Vielmehr ist eine Kontinuität der herkömmlichen politischen Herrschaftsform und des Staatsapparates zu erkennen.

Damit ist die 4T der Regierung unter AMLO kein linkes Transformationsprojekt, aber in Ansätzen progressiv (Reform statt Transformation) mit nationalistisch-konservativen Zügen sowie einem Fokus auf moralischen Elementen. Ökologische, emanzipatorische und feministische Perspektive fehlt weitgehend. Ein wesentliches, aber nicht einziges Hindernis ist die Konzeption von Staat seitens der Regierung, die nicht über Wohlfahrtsstaat hinausreicht und auf wirtschaftlichen Prinzipien des Neoliberalismus fußt.


[2] Siehe dazu die Reportagen von Desinformemonos: https://hablanlospueblos.org/

[3] Die Kampagne «cuenta hasta 10» ist ein Beispiel für völlig verfehlte Politiken der Geschlechtergerechtigkeit. https://www.jornada.com.mx/ultimas/politica/2020/06/03/emite-cndh-extranamiento-a-campana-cuenta-hasta-10-3385.html