News | Soziale Bewegungen / Organisierung - Geschlechterverhältnisse - Westasien - Türkei - Feminismus für alle «Wo bist du, meine Liebe? Ich bin hier, meine Liebe!»

Ein Gespräch mit zwei prominenten Persönlichkeiten der türkischen LGBTQI2+ Community

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Author

Merve Namlı,

Sahmaran, Kunstwerk von Cihat Özcan

Wie begann die türkische LGBTQI2+ Bewegung in der Türkei?

Deniz: Die politische LGBTQI+ Bewegung in der Türkei begann in den 1970er Jahren. İbrahim Eren initiierte damals Versammlungen namens «Wiesen-Mittwoch». Sie waren die ersten bekannten Treffen von LGBTQI+ Personen. In den 1980er Jahren wurde die Bewegung dann durch den Kampf der Trans-Künstlerin Bülent Ersoy gegen ihr Aufführungsverbot in der Öffentlichkeit sichtbarer. 1987 wurden viele Transgender-Personen von der damaligen Regierung nach Eskişehir ins «Exil» geschickt. Dort veröffentlichten die Exilierten erstmals eine Erklärung zu «Transgender Menschenrechten». Mit Unterstützung der Human Rights Association begann daraufhin auf dem Taksim-Platz in Istanbul ein Hungerstreik, um in der türkischen Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Diskriminierung von Transgender-Personen zu schaffen. Damit begann aber auch ein öffentlicher Diffamierungsprozess. So wurde die in der Zwischenzeit von İbrahim Önder gegründete türkische Grüne Partei als Homosexuellenpartei bezeichnet. Als erste Transfrau kandidierte Demet Demir bei den Kommunalwahlen 1999 um ein politisches Amt. Kurz darauf wurde das Kaos GL Magazin erstmals veröffentlicht. 2001 erreichte Kaos GL am 1. Mai erstmals eine breitere Öffentlichkeit und 2003 fand dann die erste Pride Parade in Istanbul statt.

«Wo bist du, meine Liebe? Ich bin hier, meine Liebe!» («Nerdesin aşkım? Burdayım aşkım!») ist ein beliebter Slogan auf LGBTQI2+ Demos und Pride Parades in der Türkei und der Titel eines türkischen Popsongs von Hadise

Üzüm definiert sich als Queer Transfeminist. Sie arbeitet seit zehn Jahren als DJ und Manager im Unterhaltungssektor in Istanbul. Sie ist in vielen intersektionalen LGBTI+ und feministischen Gruppen aktiv, die sich für die Sichtbarkeit von Transfrauen, die soziale und institutionelle Diskriminierung erfahren, engagieren. Üzüm nimmt auch an akademischen Studien, die transgender-Erfahrungsberichte und Informationen fokussieren, teil.

Deniz ist seit 20 Jahren im Nachtleben der Türkei tätig. Er erstellt auch Konzepte für verschieden Laden. Er ist DJ und schreibt Artikel in verschiedenen Magazinen. In seinen Artikeln konzentriert er sich auf Menschenrechte, Tierrechte, Sexismus, Diskriminierung, Phobie, Faschismus und queeres Leben. Er ist solidarisch mit verschiedenen Institutionen und Organisationen, die sich mit Tier- und Flüchtlingsrechten befassen.

Ihr beide leistet viel Arbeit für die LGBTQI2+ Bewegung in der Türkei. Ihr setzt euch gegen Rassismus und Frauenfeindlichkeit sowie für soziale Gerechtigkeit ein. Wie genau sieht eure queere und transaktivistische Arbeit aus?

Üzüm: Ich definiere mich nicht als Aktivistin, sondern als Queer Transfeministin. Ich denke, Aktivismus ist eine Pflicht. Ehrlich gesagt es irritiert mich, zu denken, dass die Dinge, die ich tue, tue, weil ich ein Aktivist bin. Als Transfrau bin ich sensibel für andere Diskriminierungsproblematiken und daher engagiere ich mich.

Deniz: Wir sind Menschen, die denken und ihre Gedanken in die Tat umsetzen. In dieser Gesellschaft als Queer und Trans-Individuen zu überleben und existieren, ist schon Aktivismus. Wir bringen unsere queere Identität überall mit ein. Wenn ich ein Café eröffne, bringe ich meine Präsenz dorthin. Die Tatsache, dass wir dieses Interview gerade machen, ist an sich schon Aktivismus.

Die Aussage «Der Islam erkennt Ehebruch als eine der größten Sünden an. Er verflucht Homosexualität» vom 24. April 2020 von Ali Erbas, dem Direktor für religiöse Angelegenheiten in der Türkei, war einer der am meisten diskutierten Diskriminierungsdiskurse der letzten Monate. Gegen diese homofeindliche Aussage wurde keine rechtliche Sanktion verhängt. Was fordert ihr gegen diese und ähnliche homofeindlichen Diskurse?

Üzüm: Da wir gesetzlich nicht anerkannt sind und moralisch nicht in der normativen «Ethik» kategorisiert werden, gab es immer eine rechtliche und gesellschaftliche Diffamierung. Natürlich ist es nicht so einfach in einem binären Geschlechtersystem zu existieren. Unsere individuellen Erfahrungen sind ziemlich stark. Leider speichert jedes LGBTI+-Gedächtnis, unabhängig von Klasse oder kulturellem Hintergrund, Diskriminierungserfahrungen immer und überall auf. Ich denke, das queere Gedächtnis existiert woanders, weit entfernt vom vergesslichen Charakter der cis-heterosexuellen Gedächtnis-Welt. Natürlich ist Zensur eine Realität. In der Türkei gibt es ein Gesetz namens «Öffentliche Moralvorstellungen», aber es gibt keine Gesetze, die Homosexualität ausdrücklich verbieten. Im Gegenteil, ich bin eine Transfrau, die den gesamten Prozess durchgemacht und ihren Personalausweis erhalten hat – und ich habe zu 100 Prozent die gleichen Rechte wie Cis-Frauen.

Die Aussagen des «Direktorats für religiöse Angelegenheiten» und andere konservative Institutionen und Diskurse überraschen mich nicht. Selbstverständlich bin ich besorgt. Die homophoben Angriffe in der Türkei werden durch solche Aussagen, wie jene von Ali Erbas, verstärkt. Denn sie zielen auf jene, die keine cis-Männer sind. Die Kritik des Direktorat für religiöse Angelegenheiten zu LGBTI+ ist, wie jemanden zu schlagen, der während des Ramadan nicht fastet.

Deniz: Wenn man seine Existenz beansprucht, weiß man, wie man mit was und wann umgeht. Wenn ich so etwas ausgesetzt bin, denke ich, was wir gewonnen haben, und was wir verloren haben. Ich erinnere mich an die Zeit, als wir 2003 mit der ersten Pride Parade begannen. Ich las damals den Pressetext vor und weil es die erste Pride Parade war, wurde die Pressemitteilung auf allen wichtigen Fernsehkanälen ausgestrahlt und in allen Zeitungen abgedruckt. Als ich 1999 ohne Geld in der Tasche nach Istanbul kam, bestand mein einziger Lebensplan darin, mit meiner queeren Identität ein freies Leben zu führen. Ich wünschte mir, dass meine Familie auf sensationelle Weise von meiner Identität erfahren sollte – auf der ersten Pride Parade.

Ihr wart vergangenes Jahr zu unterschiedlichen Zeiten in Berlin, um an den von mir mit kuratierten Veranstaltungen teilzunehmen. Wie war euer Eindruck von der Berliner LGBTQI2+ Szene? Denkt ihr, wie viele andere Menschen, dass Berlin eine Queer-bewusste Stadt ist?

Üzüm: Auf diese Frage gibt es eine sehr umfassende Antwort. Ich wurde auch in Berlin in einer Bar transfeindlich angegriffen. Im Westen wird die LGBTI+-Wahrnehmung von Cisgendern dominiert. Trotz aller negativen Parameter ist die Türkei ein Land, in dem eine queer-fem-Sichtbarkeit besteht. Ich denke, die queere Bewegung in der Türkei ist viel solidarischer. Der Fokus sollte also darauf liegen, wie sich der Westen an die Türkei angleichen kann, nicht umgekehrt.

Deniz: Ich war auch in Berlin einem transfeindlichen Angriff ausgesetzt und habe dort eine orientalistische Perspektive beobachtet. Wenn jemand aus dem Nahen Osten Musik machen will, erwarten die Leute einen arabischen Touch und eine Bauchtänzerin. Aus einer westlichen Perspektive heißt es oftmals: «Oh, was für ein schreckliches Leben sie in der Türkei haben, zum Glück sind sie jetzt in den Ländern der Freiheit.» Der Subtext dieser Diskurse ist jedoch: «Was auch immer ihr tut, ihr werdet mir/uns nicht gleich sein.» Doch in Istanbul kann ich zum Beispiel manchmal in meiner Drag-Persona frei auf dem Taksim-Platz herumlaufen, ohne einen einzigen Angriff zu befürchten. Das von Pembe Hayat Stiftung am 18. Juni veröffentlichte «Transgender Equality Manifesto» [*] könnte man als ein progressives Beispiel gegen diesen bevormundenden westlichen Diskurs herausgegeben.


[*] Die Pembe Hayat Stiftung, die für Transgender-Rechte in der Türkei kämpft, erklärte den 18. Juni zum «Tag der Gleichstellung von Transgenders» und veröffentlichte dieses Jahr an diesem Tag das «Gleichstellungsmanifest». Im Manifest betonen die Aktivist*innen die Diskriminierung, die Transgender-Personen erfahren und die Rechte, die sie haben.