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Bolivien ringt um das Erbe der Regierung Morales

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Jonas Wolff,

Eine Unterstützerin des ehemaligen Präsidenten Evo Morales und der MAS-Partei schwenkt die Wiphala-Flagge.
Eine Unterstützerin des ehemaligen Präsidenten Evo Morales und der MAS-Partei schwenkt die Wiphala-Flagge., picture alliance/AP Photo | Natacha Pisarenko

Bereits zweimal wurden die bolivianischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen coronabedingt verschoben, am 18. Oktober 2020 sollen sie nun aber definitiv stattfinden. So betont es jedenfalls das bolivianische Wahlgericht Tribunal Supremo Electoral (TSE), und so hat es das Parlament zuletzt erneut bekräftigt. Damit würden die Neuwahlen fast exakt ein Jahr nach dem annullierten Urnengang vom 20. Oktober 2019 stattfinden, der dem langjährigen Präsidenten Evo Morales die Wiederwahl bescheren sollte, schließlich aber in seinem vorzeitigen Rücktritt mündete.

Der vorliegende Text stützt sich auf: Wolff, Jonas: The Turbulent End of an Era in Bolivia: Contested Elections, the Ouster of Evo Morales, and the Beginning of a Transition Towards an Uncertain Future, in: Revista de Ciencia Política, 40: 2, i.E., Vorabdruck unter https://bit.ly/2AymFjf. Dort finden sich auch weitere Quellen- und Literaturhinweise.

Der Politikwissenschaftler Jonas Wolff arbeitet am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt am Main, wolff@hsfk.de

Nach wochenlangen, mitunter gewaltsamen Auseinandersetzungen und im Angesicht schwerer Wahlbetrugsvorwürfe war Morales am 10. November 2019 von seinem Amt zurückgetreten – ein erzwungener Rücktritt, der nicht nur von ihm und seinen Unterstützer*innen als Putsch gewertet wird und der in der Tat zumindest putschähnliche Züge aufweist. An die Stelle des gewählten Präsidenten der Partei Movimiento al Socialismo (MAS) trat die bis dato unbekannte, konservative Politikerin Jeanine Áñez. In einem wiederum umstrittenen Verfahren – die MAS-Partei, die immerhin eine Zweidrittelmehrheit stellt, war nicht anwesend – wurde die Senatorin der oppositionellen Regionalpartei Demócratas im Parlament zur Übergangspräsidentin ernannt. Anstatt die Lage zu beruhigen, heizten der Rücktritt von Morales und die Ernennung von Áñez die Konflikte allerdings weiter an. Nun waren es die MAS-Anhänger*innen, die auf die Straße gingen. Und nun rückten Polizei und Militär, die sich unter Morales noch geweigert hatten, zur «Pazifizierung» der Situation aus. Gewaltsame Zusammenstöße waren die Folge, darunter zwei schwere Vorfälle in Sacaba (Cochabamba) und Senkata (El Alto), bei denen mindestens 18 Zivilist*innen zu Tode kamen und die von einer Mission der Interamerikanischen Menschenrechtskommission als «Massaker» eingestuft wurden.[1] Letztlich gelang jedoch eine friedliche Einigung zwischen der Übergangsregierung und der MAS-Mehrheitsfraktion im Parlament, der den Weg für eine Neubesetzung des Wahlgerichts und die Ausrufung von Neuwahlen freimachte. Aufgrund der Corona-Pandemie wurden die zunächst für Anfang Mai 2020 vorgesehenen Wahlen dann allerdings zunächst auf den 6. September und zuletzt auf den 18. Oktober verschoben – was bei der MAS und ihren Anhänger*innen massive Proteste ausgelöst hat.

Die Rechten schwächen sich gegenseitig

Bei Amtsübernahme hatte Áñez noch betont, die Aufgabe ihrer Regierung bestehe im engen Sinne darin, den Übergangsprozess zu Neuwahlen zu organisieren. Letztlich aber war von Beginn an klar, dass es der Interimspräsidentin und den sie stützenden Kräften sehr viel weitgehender darum ging (und geht), eine möglichst umfassende politische Kehrtwende einzuleiten. Symbolträchtig brachte Áñez die Bibel zurück in den Präsidentschaftspalast und warnte – mit eindeutig rassistischen Untertönen – vor der Rückkehr der «Wilden» an die Macht. Damit verbunden ist eine Strategie der politisch-juristischen Verfolgung von (ehemaligen) MAS-Repräsentant*innen und Unterstützer*innen, die mitunter offen repressive Züge trägt. Außenpolitisch brach die Regierung die Beziehungen zu Kuba und Venezuela ab und schwenkte auf einen pro-US-amerikanischen Kurs ein – in deutlichem Kontrast zur Regierung Morales, die den US-Botschafter, die US-Drogenbekämpfungsbehörde DEA sowie die Behörde der Vereinigten Staaten für Entwicklungszusammenarbeit USAID des Landes verwiesen hatte. Wirtschaftspolitisch steht die Regierung den alten Wirtschaftseliten Boliviens nahe – vor allem jenen in der Tieflandregion um Santa Cruz – und setzt auf eine Rückkehr zum neoliberalen Entwicklungsmodell, von dem sich die MAS-Regierung mit ihrem staatszentrierten und sozial inklusiven («neo-desarrollistischen») Entwicklungskurs spürbar entfernt hatte. Seit Monaten stehen allerdings Versuche der Eindämmung der Corona-Pandemie und der Umgang mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Folgen im Vordergrund des Regierungshandelns. Die Bilanz ist bisher reichlich bescheiden und hat, durch eine Reihe von Korruptionsskandalen verstärkt, die Unterstützung der Regierung Áñez auch im Anti-MAS-Lager erschüttert.

Mit ihrem Versprechen, eine bloße Interimspräsidentin zu sein, brach Áñez spätestens, als sie Anfang 2020 erklärte, bei den Neuwahlen zu kandidieren. Damit stieß sie insbesondere Luis Fernando Camacho und Carlos Mesa vor den Kopf. Camacho war als Chef des Bürgerkomitees von Santa Cruz (Comité Pro Santa Cruz) und radikaler MAS-Gegner während der Nachwahlproteste Ende 2019 zu Prominenz gelangt. Als religiös-konservativer und wirtschaftsliberaler Präsidentschaftskandidat mit Verankerung in den Wirtschaftseliten des bolivianischen Tieflandes repräsentiert er ein ähnliches Wähler*innen-Spektrum wie Áñez – die im Unterschied zu ihm aber die Macht, die Ressourcen und die Sichtbarkeit einer Präsidentin nutzen kann, um für sich Wahlkampf zu machen. Mesa präsentiert sich, wie bereits im Wahlkampf 2019, als moderat-sozialliberaler Kandidat, der programmatisch zwischen der popular-sozialistischen MAS und den konservativ-neoliberalen Kräften um Áñez und Camacho steht. Im Unterschied zum Wahlkampf 2019 sind seine politischen Alliierten zwar zu Áñez übergelaufen: Samuel Doria Medina von der Partei Unidad Nacional (UN) kandidiert als ihr Vizepräsidentschaftskandidat, und auch die Partei Solidaridad y Libertad (Sol.bo) um den Bürgermeister von La Paz, Luis Revilla, unterstützt die Interimspräsidentin. Er profitiert derzeit allerdings davon, dass sich die Zustimmungsraten zur Übergangspräsidentin seit einigen Monaten im Sinkflug befinden.

Von dieser Fragmentierung des Anti-MAS-Lagers profitiert vor allem die MAS. Nach dem so abrupten wie überraschenden Ende ihrer Regierungszeit ist es der Partei erstaunlich gut und schnell gelungen, sich für die anstehenden Wahlen neu aufzustellen. Die Entscheidung für den langjährigen Wirtschaftsminister Luis Arce und den ehemaligen Außenminister David Choquehuanca als Kandidatenpaar, die Ex-Präsident Morales als aus dem Exil operierender Wahlkampfchef der MAS durchgesetzt hatte, war alles andere als unumstritten. Schnell aber versammelten sich die Partei und ihre Basisorganisationen hinter Arce und Choquehuanca. Arce gilt gemeinhin als Architekt der pragmatischen, makroökonomisch erfolgreichen Wirtschaftspolitik der Regierung Morales und verspricht insofern vor allem eines: die Fortsetzung einer Politik, die makroökonomische Stabilität und sozioökonomische Inklusion verbindet. Mit Arce, einem international ausgebildeten Ökonomen, der selbst der städtischen Mittelschicht entstammt, will die MAS zudem verlorene Unterstützung in den Großstädten und der nicht-indigenen Bevölkerung Boliviens zurückgewinnen. Choquehuanca hingegen symbolisiert eine gewisse Rückkehr zu dem stärker indigen geprägten Diskurs der frühen MAS-Regierungszeit. Als indigener Intellektueller und langjähriger Aymara-Aktivist ist Choquehuanca insbesondere in der indigenen Bevölkerung des bolivianischen Hochlandes gut vernetzt und angesehen.

Die jüngste Umfrage von Anfang August sah Luis Arce – wenn man ungültige Stimmen und Unentschiedene herausrechnet – mit 33 Prozent haarscharf in Führung vor Mesa, der auf 32 Prozent kommt. Áñez könnte lediglich mit 17 Prozent rechnen, Luis Fernando Camacho gar mit bloßen 9 Prozent.[2] Damit wäre eine Stichwahl zwischen Arce und Mesa nötig, die Letzterer mit ziemlicher Sicherheit für sich entscheiden würde. Für die MAS kommt es mithin darauf an, in erster Runde zu gewinnen. Dafür braucht Arce erstens über 40 Prozent – das ist derzeit unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Zweitens benötigt er zehn Prozentpunkte Abstand zu dem Zweitplatzierten – das ist nur solange denkbar, wie sich Mesa, Áñez und Camacho gegenseitig Stimmen klauen. Dies hängt einerseits davon ab, ob es doch noch zu Absprachen oder gar Allianzen unter den Anti-MAS-Kandidat*innen kommt. Andererseits könnte ein sich konsolidierender Vorsprung von Mesa vor Áñez in den Umfragen dazu führen, dass Áñez- und Camacho-Unterstützer*innen aus taktischen Erwägungen für Mesa stimmen – bei den Wahlen 2019 konnte Mesa genau von einem solchen taktischen Verhalten der Anti-MAS-Wähler*innen profitieren.

Ein kurzer Rückblick auf die Krise vom Oktober und November 2019

Schon bevor die Bolivianer*innen am 20. Oktober 2019 zu den Urnen gingen, lag das Gespenst eines Wahlbetrugs in der Luft. Nach einer Reihe von Rücktritten und umstrittenen Entscheidungen hatte der Wahlgerichtshof TSE stark an Glaubwürdigkeit verloren. Und Oppositionskandidaten, darunter Carlos Mesa, hatten im Vorfeld der Wahlen gewarnt, MAS-Regierung und TSE bereiteten einen Wahlbetrug vor. Was allerdings nach den Wahlen geschah, hatte so sicherlich niemand erwartet.

Am Wahlabend brach der TSE den Prozess der vorläufigen, digitalen Stimmenübermittlung (Transmisión de Resultados Electorales Preliminares – TREP) ab, als 84 Prozent der Stimmen ausgezählt waren. Morales lag zu diesem Zeitpunkt mit 45,7 Prozent knapp acht Prozentpunkte vor dem Oppositionskandidaten Carlos Mesa (37,8 Prozent). Ein Wahlsieg in erster Runde verlangte allerdings mehr: entweder mehr als 50 Prozent oder über 40 Prozent bei mindestens zehn Prozentpunkten Abstand zum Zweitplatzierten. Auf just knapp über zehn Prozentpunkte Vorsprung war der Stimmenanteil von Morales angestiegen, als der TREP am nächsten Abend wieder aufgenommen wurden. In unmittelbarer Reaktion rief Mesa zur Mobilisierung gegen den «skandalösen Betrug» auf, während die OAS-Wahlbeobachtungsmission ihre «tiefe Sorge und Verwunderung» angesichts des «drastischen und schwer zu rechtfertigenden» Trendwechsels erklärte. Auf den Straßen eskalierten indes die Proteste gegen den angeblichen Wahlbetrug, es kam zu ersten gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Anhänger*innen und Gegner*innen der MAS, und in einigen Departamentos gingen die Gebäude der Wahlgerichtsbarkeit in Flammen auf.

Am 25. Oktober verkündete der TSE das offizielle Wahlergebnis: Mit 47,08 Prozent lag Evo Morales 10,57 Prozentpunkte vor Carlos Mesa (36,51 Prozent) – gerade genug, um eine Stichwahl zu vermeiden. Mittlerweile hatte der Präsident in eine Überprüfung der Wahlergebnisse durch die OAS eingewilligt, aber dies genügte nicht, um die Proteste zu beruhigen. Zugleich revoltierten immer mehr Polizeieinheiten, bevor sich die Polizei schließlich offen auf die Seite der MAS-Gegner*innen stellte. In Folge eskalierte die Gewalt – zum einen zwischen Demonstrant*innen unterschiedlicher Lager, zum anderen gegenüber Repräsentant*innen der MAS, ihren Wohnsitzen und Angehörigen. Am 10. November schließlich veröffentlichte die OAS das vorläufige Ergebnis ihres Audits und empfahl, die Wahl zu annullieren und zu wiederholen, das verfassungsmäßige Mandat von Präsident Morales aber zu respektieren. Morales willigte zunächst in Neuwahlen ein, sah schließlich aber keine andere Möglichkeit, als gemeinsam mit Vizepräsident García Linera den Rücktritt zu verkünden. Zuvor hatte u. a. der Oberbefehlshaber der bolivianischen Streitkräfte Morales öffentlich den Rücktritt nahegelegt. Einen Tag später verließen Morales und García Linera das Land, um in Mexiko um politisches Asyl zu bitten.