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Interview zur aktuellen Lage der türkischen Linkspartei HDP

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Muzaffer Kaya
Muzaffer Kaya: «Die HDP ist kein monolithischer Block und schon gar keine homogene Partei».

Seitdem die linke, pro-kurdische HDP im Juni 2015 zum ersten Mal ins türkische Parlament einzog, lässt der massive Druck gegenüber der Partei nicht nach – im Gegenteil. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurden die Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş inhaftiert, ebenso wie neun weitere Parlamentsabgeordnete. Handfeste Beweise für etwaige Straftaten gibt es nicht und sogar der Europäische Gerichtshof verurteilte Demirtaş’ Verhaftung als rechtswidrig. Präsident Erdoğan persönlich schmetterte dieses Urteil ab, europäische Abgeordnete äußern sich bei ihren Besuchen in der Türkei kaum zu diesem Rechtsbruch. Nach den Regionalwahlen im März letzten Jahres wurden 45 der 65 HDP-Bürgermeister*innen aus den kurdischen Teilen des Landes durch Zwangsverwalter ersetzt, 21 davon sind inhaftiert. Zuletzt zeigte sich der staatliche Druck auf die Partei bei dem Protestmarsch der HDP-Abgeordneten im Juni aus den Städten Edirne und Hakkari nach Ankara, bei dem den Protestierenden mit dem Vorwand der Corona-Schutzmaßnahmen verboten wurde, die Städte zu betreten. Der Sprecher der Partei, Saruhan Oluç, kündigte daraufhin an, «So dreist wie sie uns attackieren, so mutig werden wir uns dagegen wehren.»

Trotz all dieser Einschränkungen ihrer Aktivitäten hält sich die HDP in den Umfragewerten recht stabil über der 10 Prozent-Hürde. Im Falle einer Neuwahl, über die in der Türkei derzeit wieder spekuliert wird und für die die populistischen Ereignisse wie die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee oder das Säbelrasseln gegenüber Griechenland Hinweis sein könnten, würde die HDP ihre Präsenz im türkischen Parlament verteidigen können.

Doch die HDP ist kein monolithischer Block und schon gar keine homogene Partei, sondern ein äußerst diverses Bündnis unterschiedlicher Parteien, Organisationen und Einzelpersonen. Bevor die HDP 2012 als Partei gegründet wurde um bei Wahlen antreten zu dürfen, kamen diese Gruppierungen im Demokratischen Kongress der Völker (HDK) zusammen. 2011 wurde der HDK auf einem Kongress mit 800 Teilnehmenden aus allen Provinzen des Landes gegründet mit dem Ziel, «eine Plattform des Kampfes aller Unterdrückten und Ausgebeuteten, Arbeiter*innen, Migrant*innen, Bäuer*innen, Jugendlichen, Rentner*innen, Beeinträchtigten, LGBTQI* Personen, aller ausgeschlossenen und ignorierten Völker, aller Glaubensgemeinschaften und all derjenigen, deren Lebensraum zerstört wurde» zu sein.

Mit Muzaffer Kaya haben wir über die Entwicklungen innerhalb der HDP und ihr Potential als Oppositionspartei gesprochen. Kaya arbeitete bis 2016 als Soziologe an verschiedenen Universitäten in der Türkei und war in der HDP selbst aktiv. Da er die Initiative der Akademiker für den Frieden unterstütze, war er gezwungen, die Türkei zu verlassen und arbeitet aktuell im Centre for Citizenship, Social Pluralism and Religious Diversity an der Universität Potsdam.

Das Interview wurde geführt und übersetzt von Svenja Huck.
 

Svenja Huck: Wie würden Sie den aktuellen Zustand der HDP beschreiben?

Muzaffer Kaya: Die HDP ist keine monolithische Partei, ihr aktuell größtes Problem ist ihre Zerstreutheit und ihr Mangel an effizienter Parteiorganisierung. Die Tatsache, dass es verschiedene Ansichten in der Partei gibt, müsste für eine ertragreiche Parteipolitik genutzt werden, stattdessen ist jede Organisation mit sich selbst beschäftigt. Sie sehen die HDP nicht als die eigentliche Organisation an, sondern eher als Bündnis und als Mittel zum Zweck, ihre eigene Mitgliedschaft zu vergrößern. Aus ihrer Perspektive ist das sinnvoll, ich würde das nicht kritisieren, dennoch würde eine Stärkung der Gruppe der «Unabhängigen» sicherlich zur Demokratisierung der Partei beitragen. Denn die Entscheidungsgewalt liegt momentan vor allem in den Händen der Organisationen, die in der HDP zusammenkommen.

Muzaffer Kaya ist Mitglied von Academics for Peace und arbeitet zur Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Potsdam, im Centre for Citizenship, Social Pluralism and Religious Diversity

Svenja Huck studierte Geschichtswissenschaften in Berlin mit Auslandsaufenthalten in Istanbul und London. Ihre Abschlussarbeit thematisiert die türkische Gewerkschaftskonföderation DİSK 1967-80. Sie schreibt für verschiedene Zeitungen als freie Journalistin über Arbeitskämpfe und die politische Opposition in der Türkei.

Es entsteht der Eindruck, als ob sich in der HDP eine Kluft zwischen den Funktionären der Partei und der Basis entwickelt hat, die den Kontakt zueinander verlieren. Dabei konnte die HDP doch gerade die durch die Gezi-Proteste politisierte junge Generation für sich gewinnen.

Ja, diejenigen, die 2015 die Wahlkampagne der HDP organisierten, wurden durch Gezi politisiert und waren selbst nicht alle HDP-Mitglieder. Doch die Partei hat es versäumt, diese Leute aktiv einzubinden oder ihnen Mitsprache- und Entscheidungsrechte zu gewähren. Das hängt auch mit der Struktur der Partei zusammen. Alle Organisationen, die in der Partei sind, haben das Recht auf Delegierte, daneben gibt es die Gruppe der «Unabhängigen», die jedoch eher symbolischen Charakter hat. Selbst deren Mitglieder sind oft Personen, die erst kürzlich aus anderen Organisationen ausgetreten sind. Richtige Wahlen finden demnach nicht statt. Die eigentlichen Entscheidungen werden in der HDP durch Absprachen zwischen diesen Organisationen getroffen, die größte davon ist die kurdische Bewegung.

Die kurdische Bewegung hat in die HDP die Politik des «dritten Wegs» eingebracht. Deren Ausgangspunkt war zunächst das Verfassungsreferendum von 2010, darauf folgte die Präsidentschaftswahl 2014, als die HDP mit Selahattin Demirtaş einen dritten Kandidaten neben dem der AKP und der CHP-MHP aufstellte. Bei den letzten Regionalwahlen wiederum verzichtete die HDP in Istanbul und anderen Städten auf eigene Kandidat*innen, zu Gunsten der CHP-Iyi Parti Koalition. Hat die HDP den «dritten Weg» verlassen?

Nein, natürlich nicht. Allerdings hat diese Strategie unterschiedliche, situationsabhängige Ausprägungen, wie sich eben auch bei den Regionalwahlen gezeigt hat. Der neue Ko-Vorsitzende der HDP, Mithat Sancar, vertritt dies meiner Ansicht nach sehr gut, auch wenn ich nicht in allem mit ihm übereinstimme. Er ist kein Revolutionärer, eher ein Reformist aus der liberalen Linken, aber er ist konsequent und grenzt sich in radikaler Weise von der CHP ab. Sein Ziel ist nicht der Zusammenschluss zwischen den beiden Parteien und es gibt auch radikale Ansichten innerhalb der HDP, die eine Vereinigung mit der CHP bis heute ausschließen, beispielsweise die historische Anerkennung des Genozids an den Armenier*innen.

Nun ist die HDP aber kein Geschichtsinstitut, sondern eine politische Partei. Auch wenn sie Position zu historischen Ereignissen bezieht, kann sie sich in der politischen Praxis trotzdem der CHP annähern, oder?

Ich meine damit ihre grundlegend ideologischen Unterschiede. Die CHP ist nun mal auch eine Partei, die den Krieg in Afrin unterstützt. Gleichzeitig gibt es Gemeinsamkeiten mit der HDP in der Frauenpolitik, vor allem aktuell in der Verteidigung der Istanbul Konvention. Ob man will oder nicht, man arbeitet in gewissen Bereichen zusammen.

Hat sich die Definition des «dritten Wegs»  also vielleicht geändert?

Die Strategie begann während des Verfassungsreferendums 2010. Damals standen sich zwei Fronten gegenüber: auf der einen Seite die AKP, die fast verboten worden wäre, auf der anderen Seite die nationalistische CHP, die damals noch die Stärke der Bürokratie, des Militärs und gewisser Teile der Großbourgeoisie hinter sich hatte. Damals schien es für uns klar zu sein, sich zwischen keinem der beiden Lager zu entscheiden, sondern das Referendum zu boykottieren. Doch nach der Wahl von 2015 hat der AKP-MHP-Block massiv an Stärke gewonnen und ein faschistoides Regime errichtet. Es handelt sich zwar noch nicht um einen typischen Faschismus, denn das Parlament ist noch offen, über einige Dinge darf man noch diskutieren und circa zehn Prozent der Medien können noch als solche bezeichnet werden. Aber man kann von einer Faschisierung sprechen, auf Grund derer, ob man will oder nicht, die Opposition zusammenrückt. Daraus erwachsen neue Aufgaben und an erster Stelle steht, diese faschistische Welle aufzuhalten, gemeinsam mit den winzigen demokratischen Teilen, die sich auch in der CHP finden.

Das heißt, die Kooperation besteht eigentlich nicht mit der gesamten CHP, sondern mit einzelnen Fraktionen innerhalb der Partei. Unterscheiden sich diese Teile denn grundlegend vom Programm der HDP?

Die CHP ist eine sehr heterogene Partei. Von Sozialdemokrat*innen bis Faschist*innen ist dort alles dabei. Doch die Spaltung verhärtet sich zunehmend, unser Fokus liegt auf der momentan schwächeren Fraktion. Unabhängig davon hat die HDP nach wie vor ihren eigenen Rückzugsort: Kurdistan. In kultureller Hinsicht öffnet sich die CHP der kurdischen Bevölkerung, sogar der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu fordert momentan das Recht auf Lehre der kurdischen Sprache. Nun kann man sich fragen, wenn alle Parteien die Rechte der Kurd*innen anerkennen, was bleibt der HDP als Alleinstellungsmerkmal übrig? Etwas, was die CHP als neoliberale Partei niemals tun würde: Klassenkampf. Gerade jetzt, wo sich die ökonomische Krise vertieft, könnte die eigentliche Bedeutung des «dritten Wegs» dahingehend geändert werden. Denn auf diesem Feld könnte man wirklich etwas Neues hervorbringen. Weder die CHP, noch die Gelecek Parti von Davutoğlu, noch die DEVA Partisi von Ali Babacan sind im Stande, etwas anderes zu tun, als der internationale Kapitalismus verlangt.

Aktuell sehen wir auf der ganzen Welt spontane Erhebungen und Widerstand gegen Rassismus und staatliche Repressionen. Welche Rolle spielt dabei die HDP in der Türkei?

Die HDP steht unter massivem staatlichen Druck. Zuletzt organisierte sie einen Protestmarsch aus den Städten Edirne und Hakkari nach Ankara, doch der Zugang zu den Städten wurde verwehrt, obwohl die Aktion an sich völlig legal war. Der HDP gegenüber wendet die Regierung andere Maßstäbe an, im Vergleich beispielsweise zur CHP. Diese Repressionen sind ausschlaggebend für das Maß an Aktivitäten der Partei, denn ihren Unterstützer*innen wird signalisiert: «Ihr werdet den Preis dafür zahlen, wenn ihr auf die Straße geht». Die Partei agiert legal, doch der Staat selbst tut es nicht.

Dennoch gibt es aktuell in der Türkei Protestbewegungen, beispielsweise von Frauengruppen gegen patriarchale Gewalt oder von Seiten der Anwaltskammern. Inwiefern steht die HDP in Verbindung mit diesen Bewegungen?

Natürlich sind daran auch Frauen beteiligt, die HDP-Mitglieder sind, aber sie nehmen dort nicht als HDP-Vertreterinnen teil, sondern individuell oder in ihrer Rolle der jeweiligen Frauenorganisation. Das hat auch damit zu tun, dass die HDP seit den massiven Verlusten der kurdischen Bewegung nach 2016 zunehmend nach innen gekehrt ist. Denn die tragende Rolle in der Partei spielt nach wie vor diese Bewegung, die sich momentan vor allem auf die Verteidigung der eigenen Existenz fokussiert, statt die Regierung direkt zu attackieren. Doch der einzige Weg, um die staatliche Repression zu durchbrechen ist meiner Ansicht nach in genau diese Bewegungen zu intervenieren, neben der Frauenbewegung beispielsweise auch in der Umweltbewegung. Aber eben nicht als HDPler*innen.

Was bedeutet das, «nicht als HDPler*innen»?

Damit meine ich, statt nur dorthin zu gehen und nur eine Solidaritätserklärung im Namen der Partei zu verlesen, muss man eine organische Verbindung zwischen Partei und Bewegung aufbauen und ein wirklich aktiver Teil davon werden. Nur drei Parlamentsabgeordnete vorbei zu schicken ist rein bürgerliche Politik ohne Bedeutung. Stattdessen sollte sich die HDP innerhalb solcher Bewegung als politische Gruppe organisieren. Das gilt nicht nur für die Frauenbewegung, sondern beispielsweise auch für ökologische oder Arbeitskämpfe.

Das wäre natürlich wünschenswert. Doch gibt es in der HDP wirklich Kräfte, die eine stärkere klassenkämpferische Ausrichtung vertreten? Bis auf einzelne Abgeordnete scheint dieses Thema nicht einmal in der Rhetorik der HDP-Vertreter*innen vorzukommen.

Das stimmt, in der Hinsicht sind bisher nur geringe Kräfte dafür empfänglich. Eine Gruppe, mit der ich Verbindungen hatte, die Sozialistische Solidaritätsplattform SODAP, versuchte damals auch in wirtschaftspolitischer Hinsicht Einfluss auf das Parteiprogramm zu nehmen. In letzter Zeit bringt die HDP die Forderung nach ökonomischer Sicherheit zur Sprache, wonach jede*r ein sicheres Grundeinkommen beziehen soll. Einige sozialistische Gruppen versuchen, die HDP mit Arbeitskämpfen zu verbinden, es gibt auch eine Kommission dafür in der HDP. Doch auch hier besteht wieder das bereits genannte Problem: Die Kommission setzt sich aus Vertreter*innen der unterschiedlichen politischen Gruppen zusammen, die in erster Linie ihre eigene Organisation in den von ihnen dominierten Gewerkschaften vertreten. Als HDP gibt es keine einheitliche klassenorientierte Politik. Was macht also die Arbeiterkommission der HDP? Sie gibt Statements heraus. Ich weiß nicht, ob sich das auf kurze Sicht ändern wird, aber ich würde mir wünschen, dass alle Organisationsvertreter*innen vereint agieren würden, sich vielleicht auf die Intervention in einem bestimmten Sektor konzentrieren, statt die Konkurrenz zwischen den eigenen Parteigenoss*innen aufrecht zu erhalten. So könnte die HDP auch stärkeren Einfluss auf die Gewerkschaften nehmen.

In welchen Punkten unterscheiden sich denn diese Gruppen, die eine Zusammenarbeit scheinbar unmöglich machen?

Eigentlich in keinem. Politisch gibt es meiner Meinung nach keinen Unterschied zwischen ihnen, es ist eher eine psychologische Spaltung. Unsere linken Gruppen haben sich in soziale Gruppen, in Freundeskreise verwandelt, die sich davor fürchten, in der HDP aufzugehen, vor einer starken Identität als «HDPler*in». Die HDP unterscheidet sich darin stark von der ehemaligen Arbeiterpartei der Türkei, der TİP.[1] Statt eine neue Basis zu erreichen, priorisieren die verschiedenen Gruppen den Schutz ihrer eigenen Organisationen. In der TİP gab es auch unterschiedliche Fraktionen, doch die Parteizugehörigkeit stand darüber. In der HDP ist man zwar Mitglied, aber verfolgt die eigene Parteipolitik, außer bei den Wahlen. Von Wahl zu Wahl ist man «eigentliches« HDP-Mitglied.

Neben dem staatlichen Druck, der auf die Partei ausgeübt wird, sehe ich als zweites großes Problem der HDP, dass die Aktivitäten außerhalb des Wahlkampfs nicht kontinuierlich sind. Es mag sein, dass wir nicht auf die Straße gehen dürfen, aber wer kann uns davon abhalten, uns in den Wohnungen, den Bezirken und den Fabriken zu organisieren? Dieses Problem haben wir uns selbst geschaffen.

Und wie könnte dieses Problem gelöst werden?

In dem Bereich der Klassenpolitik besteht in der Türkei momentan ein Vakuum. Würde man damit aufhören, sich gegenseitig innerhalb der Partei ein Bein zu stellen und gemeinsam agieren, wäre man schon auf dem richtigen Weg. Statt symbolischen Statements von Abgeordneten brauchen wir eine gemeinsame, systematische Organisierung im alltäglichen Leben. Bisher machen das alle Organisationen isoliert voneinander, weil sie fürchten, die Kontrolle über ihre Initiativen zu verlieren, sobald sich andere Gruppen daran beteiligen. Natürlich ist es in der Türkei extrem schwierig, Klassenpolitik zu betreiben, allein der Druck auf die Gewerkschaften ist massiv. Da in der Türkei nicht einmal grundlegende Rechte gewährleistet sind, sollten informelle Strategien nicht außer Acht gelassen werden.


[1] Die TİP wurde 1961 von Gewerkschaftern gegründet und bestand bis zum Militärputsch von 1971. Sie war die erste Arbeiterpartei der Türkei, die auch im Parlament vertreten war und stellte die politische Schule einer marxistischen Linken und der linken Studierendenbewegung der Türkei dar. In den 1970er Jahren wurden neue Arbeiterparteien gegründet, die jedoch nie die Größe der ersten TİP erreichten.