Abdulsalam al-Rubaidi ist Mitherausgeber des digitalen Kulturmagazins Almadaniya, wo er für Literatur und Wissenschaft verantwortlich ist. Abdulsalam al-Rubaidi hat an der Universität Erlangen zu jemenitischen Identitäten in der modernen jemenitischen Literatur promoviert. Neben seiner Arbeit für Almadaniya unterrichtet Dr. al-Rubaidi an unterschiedlichen jemenitischen Universitäten.
Mit ihm sprach Mareike Transfeld, Leiterin des Yemen Policy Centers, ein deutsch-jemenitischer Think Tank in Berlin. Sie ist Doktorandin an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies und Associate Fellow beim Center for Applied Research in Partnership with the Orient (CARPO), Bonn.
Mareike Transfeld: Das Kulturmagazin Almadaniya wird seit 2017 mit der Unterstützung des Auswärtigen Amts als digitaler Raum betrieben, in dem sich der Geist der Jugendrevolution von 2011 manifestieren kann. Wie würden Sie diesen Geist beschreiben?
Abdulsalam al-Rubaidi: Der Geist wird durch den arabischen Begriff al-madaniya gut beschrieben. Das bedeutet das Zivile, das Friedliche, aber auch die Zivilisation, das Vergangene; eben unsere Geschichte, aus der wir unsere Ideen schöpfen und für die Zukunft umdenken. Der Geist der Protestplätze steht für Pluralismus, denn wir wandten uns gegen Regionalismus, gegen Religionskonflikte, gegen das Militär, gegen die Stämme aber auch gegen die älteren Generationen. Die Jugend musste sich Ihnen gegenüber behaupten, um eine neue Art der Politik, der Wirtschaft, ja sogar des gesellschaftlichen Zusammenseins zu fordern. Im Prinzip steht der Geist der Revolution gegen all das, was wir derzeit im Krieg erleben. Dieser Geist wurde durch die bewaffneten Gruppen besiegt. Er konnte sich nicht durchsetzen; die Jugendrevolution ist gescheitert. Aber es gibt immer noch Menschen, die den Geist der Revolution mit Ihrem Denken und Tun am Leben erhalten.
Warum ist die Jugendrevolution gescheitert?
Ich möchte zwei Gründe aufführen, um das zu erklären. Zum einen waren die gierigen traditionellen Eliten nicht bereit, der neuen Generation eine Chance zur Umsetzung ihres revolutionären Projekts zu geben. Damit meine ich die, die an der Macht waren, wie Präsident Ali Abdullah Saleh und seine Unterstützer*innen oder die Eliten der Parteien und Stämme. Diese Eliten arbeiteten nicht für das Gemeinwohl, aber sie kämpften hart, um diese Revolution zu unterdrücken, um ihre Privilegien behalten zu können. Diese Elite war erfolgreich, denn sie verfügte über Mittel und über Waffen. Die Revolutionär*innen waren unbewaffnet und meist jung, auch nicht reich. Sie konnten die Politiker und hochrangigen Offiziere, Kaufleute und Stammesführer nicht herausfordern.
Die Regionalstaaten, angeführt von Saudi-Arabien, und die Vereinten Nationen griffen schließlich ein, um einen politischen Übergang zu regeln. Denn die Nachbarstaaten hatten Angst, die Revolution könnte sich in einen Bürgerkrieg entwickeln. Immerhin führte das zur Desertion einiger Regimeanhänger. Durch das Abkommen, das die UN vermittelt hat, kam schließlich Abdu Rabu Mansour Hadi an die Macht. Er wurde 2012 durch eine Wahl in seinem Amt als Präsident bestätigt. Jedoch fehlte ihm jegliches Charisma, er konnte diese historische Chance nicht nutzen und brachte die revolutionäre Straße nicht auf seine Seite, um das Land voranzubringen. So konnte kein echter Bruch mit der Vergangenheit vollzogen werden. Stattdessen waren er und seine Regierung vollständig von der internationalen Gemeinschaft abhängig. Und wie wir alle wissen, verfolgten besonders die Golfstaaten eine konterrevolutionäre Agenda, und dies auch im Jemen.
Trotz dieses Scheiterns gab es dank der Revolutionsbestrebungen einige Veränderungen. Den Armen und Schwachen im Jemen gab die Revolution Hoffnung. Sie haben erfahren, dass sie trotz ihrer Schwäche die Mächtigen im Land herausfordern konnten, besonders durch die sozialen Medien. Die Revolution gab aber auch den Kreativen Raum, sich zu äußern. Außerdem war es eine Lektion in kollektivem Handeln. Denn kein Diktator, kein Staat, keine bewaffnete Gruppe kann Menschen, die auf der Straße ihre Rechte fordern, künftig noch so mit Gewalt begegnen. Dieses Wissen wird wichtig für die Zukunft, wenn wir den neuen Herrschern aufzeigen, welche Verbrechen sie während des Kriegst verübt haben, wenn wir sie zu Rechenschaft ziehen.
Auf welche Art und Weise entsprechen die Inhalte und die Arbeit des Magazins den Werten der Revolution?
Zum einen steht die Revolutionsbewegung von 2011 für Diversität und Pluralismus im Jemen. Ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründen beteiligten sich an den Protesten. Unser Magazin ist genauso eine Plattform für unterschiedliche Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen und unterschiedlichen politischen Einstellungen. Außerdem forderten die Revolutionär*innen von 2011 neue Werte, moderne Weltanschauungen, was unsere Politik und das gesellschaftliche Leben angeht, sie riefen nach einem zivilen Staat. Ich denke, das bedeutet, dass es ein Staat sein sollte, der ein würdevolles Leben und Freiheit erlaubt. Ein nicht-militarisierter Staat, der von Gebildeten geleitet wird. Es war eine gewaltfreie, friedliche Bewegung von modernen Menschen. Almadaniya veröffentlicht Artikel, die diese Werte verbreiten. Artikel, die diesem Gedanken nicht entsprechen, würden wir ablehnen.
Die Revolutionär*innen stellten auch schwierige Fragen; Fragen zur traditionellen Denkweise zum Staat, zur Religion, unserer Geschichte und nationalen Identität. Es sind solche Themen, die in den Artikeln besprochen werden, die wir veröffentlichen. Die Artikel sollen die Leser*innen motivieren nachzudenken und neue Lösungen für unsere existentiellen Probleme zu entwickeln.
Gibt es auch andere Orte und Projekte oder vielleicht andere Formen, in denen sich dieser Geist manifestiert?
Ja, natürlich. Er lebt in Cafés weiter, in denen sich Gleichgesinnte treffen, um zu diskutieren, in Qat-Runden, es gibt aber auch neue Projekte, Websites, die diesem Geist entsprechen. Organisationen wurden gegründet, die bis heute versuchen – wenn auch eher die internationale, weniger die jemenitische –, Politik zu beeinflussen. Es gibt YouTuber*innen, manche von Ihnen, die außerhalb des Jemens sind, sind sehr mutig und sprechen ihre Kritik an den Machthabern und Kriegstreibern direkt aus.
Du sagst, die YouTuber*innen, die sich außerhalb des Jemens aufhalten, seien offener. Welchen Gefahren sind denn Menschen, die sich kritisch äußern, ausgesetzt?
Na ja, die Machthaber hören nicht gerne Kritik. Es gibt aber auch YouTuber*innen im Jemen. Sie halten sich zwar zurück, aber auch sie finden Wege, um sich zu Missständen zu äußern. Vor kurzem hatten wir eine erste Demonstration, es ging um die Ermordung eines jungen Mannes, er wurde zu Tode gequält. Wir fordern die Institutionen auf, transparent mit dem Fall umzugehen. Es ist ein erschütternder Fall, aber im Vordergrund steht auch, dass wir auf die Straße gegangen sind und unsere Forderungen verkündet haben. Es zeigte, dass wir immer noch im Stande sind, kollektiv zu handeln.
Auf den Protestplätzen haben die Menschen von einer besseren Zukunft geträumt, sie haben geplant und sich dementsprechend engagiert. Heute ist der Jemen im sechsten Kriegsjahr, haben die Revolutionär*innen noch eine Vision für die Zukunft?
Ja, das haben sie. Jetzt sind die Machthaber gegeneinander aufgebracht, sie sind nervös und achten genau auf alle Opposition. Unsere Zeit kommt wieder, wenn sich die Machthaber sicher fühlen. Dann werden wir alle, die wir jetzt schreiben, diskutieren, uns engagieren, Musik und Kunst machen, eine Kraft, mit der sie rechnen müssen. Wir werden unsere Stimme haben.