Interview | Amerikas - Andenregion «Die Frage ist, welche Rolle Evo Morales in Zukunft spielen wird.»

Über den Wahlausgang und die Perspektiven für Bolivien sprachen wir mit Ferdinand Muggenthaler.

Information

Luis Arce, Ökonom, ehemaliger Finanz- und Wirtschaftsminister und neuer Präsident Boliviens, nach einer Kundgebung. Die Wahlen in Bolivien am 18. Oktober gewann Arce deutlich, mit einer Mehrheit von 55% der Stimmen, im ersten Durchgang. Bild: picture alliance/dpa | Nestor Alexis Gomez

Nach einem Jahr ohne gewählte Regierung hat Bolivien nun wieder einen Präsidenten und das Parlament gewählt. Wie bewertest Du das Ergebnis?

Der Kandidat der MAS-Partei, Luis Arce, hat bei den Wahlen am 18. Oktober mit über 55 Prozent ein triumphales Ergebnis eingefahren. Das sind fast zehn Prozentpunkte mehr als sein Parteikollege Evo Morales bei den annullierten Wahlen von vor einem Jahr bekam. Damit kann nach einem Jahr Unterbrechung die MAS, die Bewegung für den Sozialismus, nun ab dem 8. November wieder die Regierung stellen. Das war überraschend, weil viele mit einer Stichwahl gerechnet hatten.

Ab dem 8. November wird Bolivien wieder von der «Bewegung für den Sozialismus» (MAS) regiert. Die MAS und ihr Präsidentschaftskandidat Luis Arce haben die Wahlen am 18. Oktober mit absoluter Mehrheit gewonnen.

Über den Wahlausgang und die Perspektiven für Bolivien sprachen wir mit dem Leiter des Andenbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Ferdinand Muggenthaler.

Überraschend war auch, dass die Wahlen und die Tage danach friedlich abliefen. Aus Angst vor neuen Gewaltausbrüchen, Blockaden oder Straßenschlachten hatten sich in den Tagen zuvor Schlangen vor den Tankstellen gebildet und es gab Hamsterkäufe. Aber schon das Ergebnis der ersten privaten Hochrechnungen war so eindeutig, dass der liberal-konservative Kandidat Carlos Mesa und die De-facto-Präsidentin Jeanine Añez sofort den Sieg der MAS anerkannt haben.
 

Wie erklärt sich das für viele überraschende Ergebnis?

Mit einem Wort: «Rassismus». Das sagte jedenfalls der bolivianische Journalist Fernando Molina. Da ist sicher etwas dran: Die Hetze gegen Indigene – vor allem aus dem Lager des ultrarechten Fernando Camacho – war sehr präsent im vergangenen Jahr. Seine Anhänger*innen hatten zum Beispiel den Rücktritt von Evo Morales als Teufelsaustreibung gefeiert. Aber auch der liberalere Kandidat Carlos Mesa hat sich davon nicht deutlich abgesetzt. In einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung indigen ist, hat das zum Glück eine starke Gegenreaktion erzeugt. Auch Leute, die nach 14 Jahren Präsidentschaft keine Fans von Evo Morales waren, wollten die Errungenschaft der Plurinationalität verteidigen. Was das bedeutet, ist vielleicht in Deutschland schwer zu verstehen, aber in einem Land, das nach wie vor extrem von den Folgen des Kolonialismus geprägt ist, in dem die «Kolonialität der Macht» Teil des Alltags ist, war das ein wichtiger Fortschritt.

Neben dem Rassismus gibt es aber noch weitere Faktoren. Die De-facto-Regierung hatte auch schnell allen Kredit verspielt, den sie ja auch bei einigen Leuten hatte, die keine eingefleischten Rechten, Rassisten oder Teil der alten Eliten sind. Egal ob man die dubiose und vom Militär gestützte Amtsübernahme jetzt Putsch nennt oder nicht: Die Proteste vor einem Jahr, die schließlich zum Rücktritt und zur Flucht von Evo Morales ins Exil führten, waren ja zunächst Proteste im Namen der Demokratie, gegen Wahlbetrug und auch gegen Korruption.

Aber dann hat die Übergangspräsidentin das Militär gegen Proteste eingesetzt, ideologisch motivierte Außenpolitik betrieben, zum Beispiel die kubanischen Ärzt*innen des Landes verwiesen, und statt wie versprochen nur Wahlen zu organisieren, selbst kandidiert. Und schließlich kam auch noch mitten in der Covid-19-Krise die Korruption der De-facto-Regierung ans Licht. Zum Beispiel wurde der Gesundheitsminister festgenommen, weil sein Ministerium vierfach überteuerte Beatmungsgeräte angeschafft hatte. Da haben sich sicher selbst einige, die die Korruption der Regierung Morales kritisiert hatten, nach der Stabilität der MAS-Jahre zurückgesehnt.

Dazu kommt, dass die MAS als einzige Partei eine funktionierende Struktur in ganz Bolivien hat und sich auf soziale Organisationen stützen kann, die auch außerhalb des Wahlkampfs aktiv sind. Dagegen waren die anderen Parteien Wahlvereine.
 

Welche Rolle spielte der Ex-Präsident Evo Morales für die Wahlen?

Im Wahlkampf war auffällig, dass Arce und sein Vize-Präsidentschaftskandidat David Choquehuanca sich nicht viel auf ihren Wahlkampfleiter im Exil, Evo Morales, bezogen haben. Deshalb sagt Pablo Solón, ehemaliger UN-Botschafter Boliviens unter Morales: «Die MAS hat nicht wegen, sondern trotz Evo Morales die Wahl gewonnen.»

Wie dem auch sei. Die Wahlen haben bewiesen, dass die MAS auch ohne ihren Caudillo gewinnen kann. Um 2019 kandidieren zu können, hatte sich Evo Morales über ein von ihm selbst einberufenes Referendum hinweggesetzt, in dem 2016 eine Mehrheit der Bevölkerung gegen eine erneute Kandidatur nach drei Amtsperioden gestimmt hatte. Das hat der Opposition ein starkes Argument in die Hand gegeben: dass die MAS undemokratisch und autoritär regiere.

Die große Frage ist, welche Rolle Evo Morales jetzt in Zukunft spielen wird. Im letzten Jahr haben auf jeden Fall die Organisationen, aus denen sich die MAS zusammensetzt, wieder unabhängiger agiert. So hatte ein Teil von ihnen David Choquehuanca als Kandidaten vorschlagen, den die Parteiführung um Evo Morales gar nicht auf dem Wahlzettel sehen wollte. Der Kompromiss war schließlich, dass Choquehuanca Vize-Präsidentschaftskandidat wurde. Ein erfolgreicher Kompromiss, wie sich herausgestellt hat.
 

Welche Bedeutung hat der Wahlsieg für die progressiven linken Bewegungen in Bolivien?

Die deutliche Abwehr der Rechten ist natürlich ein großer Erfolg. Auch die Mobilisierungsfähigkeit der indigen geprägten Basis der MAS ist beeindruckend. Sie lassen es nicht zu, dass die alten, letztlich kolonialen Eliten einfach wieder zurückkehren. Das könnte wieder Freiräume schaffen, die auch in den letzten Jahren MAS-Regierung nicht mehr da waren, weil die Regierung versuchte, alles von oben zu kontrollieren.

Was aber einen tiefer greifenden Wandel angeht, da zählen auch unsere Partnerorganisationen in Bolivien nicht auf die MAS und das, was sie den «proceso de cambio», den Prozess des Wandels, nennt. Schließlich hatte auch die MAS-Regierung zum Beispiel mit den Agrarindustriellen aus dem Tiefland zusammengearbeitet, die letztlich in großem Stil Urwald in Monokulturen für den Export verwandeln.
 

Vor welchen Herausforderungen steht die neue MAS-Regierung nun?

Das größte Problem, vor dem die neue MAS-Regierung stehen wird, ist, dass sie nicht einfach an die alten Rezepte anknüpfen kann. Der neue Präsident, Arce, galt als Wirtschafts- und Finanzminister als Architekt des Wirtschaftswachstums des letzten Jahrzehnts. Als solcher wurde er auch gewählt. Aber vorerst sind die Jahre der hohen Rohstoffpreise vorbei, die das Geld in die Staatskassen spülten und die Armutsbekämpfung und den Aufstieg vieler – auch Indigener – in die städtischen Mittelschichten erst ermöglichte.

Arce hat jetzt eine Reichensteuer angekündigt – die allein wird aber nicht reichen, um an die alten Erfolge anzuknüpfen. Aber ein grundlegend anderes Wirtschaftsmodell ist nicht in Sicht und für ein kleines, immer noch armes Land wie Bolivien auch allein kaum zu verwirklichen und die Pandemie macht die Sache nicht einfacher.