Was Deutschland bevorsteht, hat Israel gerade hinter sich: Als erstes Land weltweit verhängte die Regierung im September einen zweiten Lockdown. Die Maßnahmen richteten sich unter anderem gegen die Proteste gegen Premierminister Benjamin Netanjahu.
Es scheint eine merkwürdige Parallele zu bestehen zwischen dem Anstieg der Corona-Erkrankungsfälle in Israel und einer Kette von sich aneinanderreihenden politischen Ereignissen im Lande: Beide wirken jedenfalls unaufhaltsam. So infizierten sich zwischen dem 20. August und dem 23. September in nur fünf Wochen mehr als 100.000 Menschen mit dem Virus – so viele wie zuvor in sechs Monaten. Auch die Zahl der Todesfälle stieg rasant an: Waren von Februar bis Anfang September weniger als 1.000 Personen an den Folgen des Virus gestorben, so liegt die Zahl Ende Oktober bei 2.200. 300.000 Menschen steckten sich seit Februar mit dem Virus an, von denen 272.000 als genesen gelten.
Tali Konas ist Projektmanagerin im Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.
Zwischen Mai und Oktober hat die israelische Regierung jedoch nach eigener Einschätzung in anderen Bereichen viel geleistet: Da die Debatten um Israels öffentliche Gesundheitsversorgung und die durch den ersten Lockdown stark beeinträchtigte Wirtschaft beiseite gewischt wurden, konnte sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit den Dingen beschäftigen, die ihm näher am Herzen liegen: mit der Annexion von Teilen der besetzten Westbank, mit dem sogenannten Friedensabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain, mit dem Beginn der gegen ihn anstehenden Korruptionsprozesse sowie mit der Delegitimierung der Proteste gegen sein Festhalten an der Macht, die sich in wütenden Demonstrationen vor seinem Wohnsitz in Jerusalem entluden.
Aber alles lief schief: Die Annexionspläne wurden ausgesetzt, die Abkommen mit den beiden Golfstaaten wurden kritisiert und die Proteste weiteten sich aus – so wie Covid-19. Schließlich wurde am 18. September, am Vorabend der jüdischen Feiertage, ein Lockdown für drei Wochen verhängt. Diese Entscheidung traf Netanjahu fast im Alleingang, von kaum jemandem ermuntert oder gar aufgefordert. Im Gegenteil. Die Wochen, bevor der zweiten Lockdown beschlossen wurde, waren voller heftiger Diskussionen – ironischerweise hauptsächlich zwischen Netanjahu und seiner Anhängerschaft in der Knesset und den von ihm ernannten Corona-Zuständigen, die diese Krise verwalten sollten.
Als Hauptgrund für die rasche Verbreitung von Sars-CoV-2 seit dem Sommer war immer wieder die ungeregelte Aufhebung des ersten Lockdowns Mitte Mai genannt worden, als die Zahl der täglichen Neuerkrankungen im niedrigen dreistelligen Bereich lag, ehe sie ab Juli von 1.000 täglich auf einen Höchstwert von mehr als 11.000 am 23. September stieg.
Zweiter Lockdown
Am 25. September verschärfte die Regierung deshalb die erst eine Woche zuvor erlassenen Lockdown-Bestimmungen, die zunächst etwas lockerere Maßnahmen als die Mitte März verhängten vorsahen: Schulen und Kindergärten wurden geschlossen, die Menschen durften sich nicht weiter als 1.000 Meter von ihren Wohnungen entfernen, außer zum Arbeiten, für dringende Erledigungen, in Notfällen, um anderen Menschen Hilfe zu leisten oder um Haustiere auszuführen. Versammlungen wurden auf zehn Personen in Gebäuden und 20 im Freien beschränkt. Nicht systemrelevante Unternehmen mit Publikumsverkehr mussten schließen, während Restaurants über Botendienste weiterhin Speisen ausliefern durften. Das Baden im Meer sowie der Aufenthalt am Strand waren verboten, außer für sportliche Aktivitäten. Die Anfahrt mit dem Auto wurde untersagt.
Für religiöse Zusammenkünfte und Feiertagsgebete galten Sonderbestimmungen: Im Freien waren «Kapseln» bis maximal 20 Personen erlaubt, in geschlossenen Räumen (Synagogen) war die zulässige Anzahl abhängig von der Größe des Raums und der Anzahl der Eingänge.
Die Tatsache, dass noch im Juli fast 600 Ärzt*innen, darunter bekannte Epidemiolog*innen, Abteilungsleiter*innen in Krankenhäusern sowie Expert*innen für das Gesundheitssystem und öffentliche Gesundheit, eine Petition unterzeichnet hatten, in der sie für die vollständige Aufhebung aller Corona-Beschränkungen für den gesunden Teil der Bevölkerung plädiert hatten, wurde ignoriert. In einer weiteren Petition kurz vor der Entscheidung über einen zweiten Lockdown im September forderten 140 anerkannte Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen, keine weitere allgemeine Sperre zu verhängen. Sie argumentierten, dies sei destruktiv und absurd, nicht nur wirkungslos gegen die Pandemie, sondern verursache im Gegenteil eine höhere Sterblichkeit und mehr Gesundheitsschäden.
Ein Höhepunkt der Auseinandersetzungen um den richtigen Kurs in der Krise war das stürmische Treffen des von Netanjahus Parteikollegin Yifat Shasha-Bitton geleiteten Corona-Sonderausschusses der Knesset am 7. September. Bei diesem Treffen behaupteten Ärzt*innen und Expert*innen, der Öffentlichkeit würden überzogene Zahlen über das Ausmaß der Erkrankung und der Mortalität infolge von Corona präsentiert. Einige Tage danach sagte Shasha-Bitton, laut einem ihr vorliegenden Bericht seien 23 Prozent der vermeintlich an Corona verstorbenen Personen sicherlich nicht an Corona gestorben. Entgegen der offiziellen Position ihrer Partei erklärte sie, dass die Schließung von öffentlichen Sport- und Freizeitzentren unter freiem Himmel nicht erforderlich sei. Daraufhin delegierte Netanjahu die Entscheidungsbefugnis über den zweiten Lockdown an den Verfassungsausschuss, deren Vorsitzender zufälligerweise Mitglied der ultraorthodoxen Partei Vereinigtes Thora-Judentum ist.
Denn auch die orthodoxen Parteien waren nicht zufrieden mit dem Corona-Gesetz, das die meistens dicht bevölkerten orthodoxen Städte unerwünschterweise ins Zentrum rückte. Der von Netanjahu ernannte Corona-Beauftragte, Ronni Gamzu, empfahl sogar, diese Städte abzuriegeln – so wie zuvor schon mehrere arabische Städte, in denen ebenfalls hohe Erkrankungsraten von Corona-Infizierten zu verzeichnen waren. Da aber die orthodoxen Parteien – im Gegensatz zu den arabischen – wichtig für den Fortbestand von Netanjahus Koalition sind, musste der Premierminister die Beschränkungen, die für die orthodoxe Bevölkerung bestimmt waren, abmildern. Deshalb entschied er sich zwar für einen allgemeinen Lockdown, allerdings während der wichtigsten Feiertage des jüdischen Kalenders, die drei Wochen dauern. Weil die orthodoxen Parteien auf die traditionellen Massengebete während dieser Zeit jedoch nicht verzichten wollten, kam es zu einem parlamentarischen Wortgefecht mit der Folge, dass das Gebetsrecht dem Demonstrationsrecht gleichgestellt wurde. Und zu demonstrieren war ja unter der Bedingung erlaubt, dass Masken getragen und zwei Meter Abstand eingehalten wurden. Schließlich wurde der Lockdown mit allerlei Sonderbestimmungen für Synagogen ausgeschmückt, die so kompliziert waren, dass niemand sie verstehen konnte. Israels zwiespältiges Motto «jüdisch und demokratisch» konnte nicht besser veranschaulicht werden.
Kritik am Lockdown
In der Zwischenzeit hatten auch Naturwissenschaftler*innen die Notwendigkeit und Wirksamkeit eines neuen allgemeinen Lockdowns infrage gestellt. In einem Artikel, der am 24. September in Haaretz unter dem Titel «Der erste Lockdown tötete und so wird es auch mit dem jetzigen Lockdown sein» veröffentlicht wurde, schrieben sie, man sehe keine «klare und einfache Korrelation zwischen dem Zeitpunkt des Lockdown-Auferlegens und der Anzahl der Patienten und Todesfälle». Ihrer Meinung nach legten mehrere neuere Studien nahe, dass ein allgemeiner Lockdown die Sterblichkeitsrate bei einer Corona-Erkrankung nicht beeinflusse oder sogar erhöhe: «Der Lockdown erhöht die Sterblichkeit durch zwei mögliche Mechanismen: Phänomene, die mit dem Lockdown verbunden sind, und unsachgemäße Intervention während der Pandemie. Ohne baldige Aussicht auf Impfung kann der Lockdown Infektionen höchstens verzögern, nicht aber verhindern. In Israel hat diese Tatsache besonders tödliche Folgen, da die Verschiebung von Infektionen auf den Winter bedeutet, die Pandemie auf den Zeitpunkt der höchsten Auslastung der Krankenhäuser zu bringen – ein tragischer Fehler, der viele Menschenleben kosten könnte. Der Lockdown funktioniert zudem ausgezeichnet, um drei Ursachen für Erkrankung und Mortalität zu verstärken: Armut, Arbeitslosigkeit und die Verschärfung sozialer Unterschiede.»
Spott und Zorn
Aber da war der zweite Lockdown schon in vollem Gange. Und die Bevölkerung Israels, die während des ersten Lockdowns folgsam zu Hause geblieben war und sich auf das Brotbacken mit Sauerteig konzentriert hatte – allen anderslautenden Zeichen zum Trotz immer noch krampfhaft versuchend, an eine Regierung zu glauben, die am Wohlergehen ihrer Bürger*innen interessiert ist –, reagierte erst mit Spott, dann mit Zorn. In der ersten Woche des zweiten Lockdowns waren die Straßen voll von Menschen und Autos, die Büros mit Angestellten und die Wohnräume mit Freund*innen und Verwandten. Die Leute küssten und umarmten sich und machten Picknicks im Park.
Das war zwar weder empfohlen noch legal und nach Meinung mancher sogar gefährlich, aber die Israelis ließen sich nicht zweimal mit demselben Trick an der Nase herumführen und sahen im Lockdown das, was er tatsächlich war: ein politisches Manöver Netanjahus. Die Auswahl der Maßnahmen gegen Corona orientierte sich nicht am Wohl der Bürger*innen, sondern am Machterhalt des Ministerpräsidenten. Auch die Orthodoxen haben deshalb ohne Rücksicht auf die Sonderbestimmungen weiter zusammen gebetet, ebenso wie Teile der Bevölkerung ihr politisches Recht auf Demonstrationen wahrnahmen, insbesondere gegen den Mann, der ihnen den Lockdown quasi persönlich auferlegt hat.
Nach einer Woche musste etwas gegen das rebellierende Volk getan werden. Im Eilverfahren, das nur 24 Stunden dauerte und eine Verfassungsänderung erforderte, billigte die Knesset eine Änderung des Corona-Gesetzes. 46 Abgeordnete unterstützten das Gesetz, 38 lehnten es ab. Die restlichen 36 waren abwesend. Die Gesetzesänderung ermöglichte es der Regierung, als Teil des Kampfes gegen das Virus Demonstrationen zu verbieten, die mehr als einen Kilometer entfernt vom Wohnsitz der Demonstrant*innen und mit mehr als 20 Personen stattfanden. Die Vorschriften konnten natürlich sehr variabel ausgelegt werden. So durften einen Tag nach Yom Kipur, wo Tausende offiziell oder inoffiziell zusammen beteten, ohne von der Polizei behelligt zu werden, zwei Dutzend Demonstrant*innen auf den ihrem Wohnsitz am nächsten gelegenen Straßenkreuzungen demonstrieren, mit zwei Metern Abstand. Die liberale Partei Blau-Weiß, die Teil der Regierungskoalition ist und die Änderung des Gesetzes mehrheitlich billigte, erklärte halbherzig, dass die Entscheidung befristet sei und jede Woche aufs Neue von der Regierung geprüft und bestätigt werden müsse. Längst hatte sich da schon das Gefühl breitgemacht, dass genau das die ursprüngliche Absicht des ganzen Lockdowns war.
Proteste
Einen Tag nach dieser Knesset-Sitzung, am 1. Oktober, formierte sich in Tel Aviv ein großer Protest gegen die beschlossene Einschränkung des Demonstrationsrechts – noch ganz legal, weil die Gesetzesänderung noch nicht vom Verfassungsausschuss der Knesset gebilligt worden war. Das war natürlich die Fortsetzung des Protests gegen Netanjahu, dem sich nun aber neue Gruppen anschlossen. Gegen 18 Uhr waren die Straßenkreuzungen mit Menschen voll, die zwei Stunden später zum Zentrum des Protests am HaBima-Platz weiterzogen. Es gab absichtlich viel Lärm – Trompeten, Fanfaren, Tröten, Pfeifen, Töpfe und Pfannen, schwarze und rosarote Fahnen, selbstgebastelte Schilder mit individuellen Parolen, grau- und weißhaarige Menschen neben kleinen Kindern. Die Polizei war präsent, einschüchternd wie üblich. Gegen 22 Uhr entwickelte sich die Kundgebung spontan zu einem Protestmarsch, der durch die kleinen Straßen im Zentrum Tel Avivs zog und der die Einwohner*innen von ihren Balkons lautstark applaudierten. Als der lärmende Aufzug an der – wegen des Lockdowns ziemlich leeren – Autobahn angelangt war, änderte sich jedoch die Stimmung. Dutzend berittene Polizist*innen tauchten aus dem Nichts auf, um die Demonstrierenden zu stoppen. Liberale, modisch angezogene und gut gebildete Großstädter*innen standen nun Polizisten gegenüber, hauptsächlich Mizrachim und jüdische Äthiopier*innen. Hier das Bürgertum, dort das Proletariat. Palästinenser*innen auf keiner der beiden Seiten.
Trotz des anhaltenden Zorns war plötzlich nicht mehr so klar, wofür eigentlich demonstriert wurde. Es ist ja kein Geheimnis, dass ein Teil der Linken, obwohl er bestimmt nicht für Netanjahu ist, sich doch schwertut, bei den Demonstrationen mitzumachen – weil dort israelische Fahnen geschwenkt werden; Militärangehörige, die täglich Menschenrechte von Palästinenser*innen in der Westbank verletzen, oder Menschen, die sich dafür überhaupt nicht interessieren, protestieren im Namen einer Demokratie, deren Regeln sie selbst ignorieren, wenn es um die Rechte anderer geht; wohlhabende Pensionierte mit gesicherter Rente halten auf Brücken Schilder mit patriotische Parolen in die Höhe; und große Unternehmen, die sofort bei Ankündigung des Lockdowns ihre Arbeiter*innen in unbezahlten Urlaub schickten, beschweren sich laut über finanzielles Fehlverhalten der Regierung.
Fragen
Ist das die Solidarität, die wir uns vorgestellt haben? Kämpfen wir hier um Gleichberechtigung und Demokratie oder um unseren bequemen Status quo, der für andere tägliche Unterdrückung bedeutet? Und wenn Netanjahu nun abgesetzt wird? Was wird dann geschehen? Wird die Besatzung beendet werden? Werden Asylsuchende einen legalen Status bekommen? Werden die Armen reicher?
Wenn wir aber nicht auf die Straßen gehen, würden wir dann nicht diese seltene Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, unsere Kritik an einer korrupten Regierung vor so vielen Menschen zu äußern? Seit der Lockerung des zweiten Lockdowns am 17. Oktober dürfen wir jedenfalls wieder uneingeschränkt unser Demonstrationsrecht ausüben. Manche fahren wieder nach Jerusalem, manche protestieren weiter in ihren Städten, manche glauben nicht an diese Bewegung oder fühlen sich von ihr ausgeschlossen. Aber einen Vorgeschmack davon, was mit der Einführung von Notverordnungen gemacht werden kann, haben wir jetzt alle. Hoffentlich werden wir es nicht so schnell vergessen. Der Boden für das nächste Mal ist jedenfalls schon bereitet.