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Der türkische Präsident will das Osmanische Reich zurück und hat einen Plan

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Forschungsschiff Oruç Reis mit militärischer Eskorte unterwegs im Mittelmeer
«Die Türkei hat sich im östlichen Mittelmeer nicht zurückgezogen, die Oruç Reis wurde zu Versorgungs- und Wartungszwecken in den Hafen gebracht» (Mevlüt Çavuşoğlu, türkische Außenminister) Das türkische Forschungsschiff Oruç Reis (in Rot und Weiß) von Schiffen der türkischen Marine umgeben, als es am 10. August 2020 westlich von Antalya auf dem Mittelmeer unterwegs war., picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Uncredited

Während der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die innertürkische Opposition mit Polizei, Justiz und Androhung von Gefängnisstrafen mundtot macht, gestaltet er den von Mustafa Kemal Atatürk gegründeten türkischen Staat Schritt für Schritt so um, dass er seine «osmanische Fantasie» verwirklichen kann. Der Vorsitzende der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ist auf dieser gefährlichen Reise nicht allein. Er hat die rückhaltlose Unterstützung von Islamist*innen und türkischen Nationalist*innen. Die Ziele des neuen Regimes sind klar: die historische Stärke der Türken zu beleben, auf der Weltbühne wieder mitzureden und die verlorenen Gebiete der Osmanen zurückzuerobern.

In den letzten Tagen schaut die Welt auf einen neuen Krieg im Kaukasus zwischen Armenien und Aserbaidschan, in welchem es um die Auseinandersetzung um die Region Bergkarabach geht. Nach den Bürgerkriegen im Jemen sowie in Syrien und Libyen und den Spannungen im östlichen Mittelmeer ist auch hier die Türkei beteiligt. Der türkische Staat und Erdoğans aggressiver Charakter sind immer wieder Quelle für größere militärische Auseinandersetzungen, indem aktiv interne Konflikte in der Region angefacht und Spannungen verstärkt werden. Inwieweit ist Europa oder der Welt die Gefahr bewusst, die von dem neuen türkischen Regime ausgeht, das die Region Schritt für Schritt in ein jahrelang andauerndes Chaos oder sogar in einen großen Krieg treiben könnte?

Burhan Ekinci begann nach dem Soziologiestudium als Journalist. Er arbeitete für verschiedene nationale und internationale Zeitungen und verfasste Artikel über die Türkei und die Kurdenfrage. Er ließ sich 2016 in Deutschland nieder und schrieb hier unter anderem für den Westdeutschen Rundfunk. Er arbeitet als freier Journalist.​​​​​​

Dr. Arif Rüzgar studierte VWL und Politikwissenschaft. Er leitet derzeit das Wirtschafts- und Handelsprogramm der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brüssel.

In den letzten Jahren richtet sich der türkische Staat nach einer neuen Leitidee. Fürs Erste ist das Ziel, die Doktrin «Blaues Vaterland» umzusetzen, die die Grenzen im Schwarzen Meer, Marmara-Meer, Ägäis und Mittelmeer und die verschiedenen Rechte und Herrschaftsgebiete in diesen Gewässern regelt, den Vertrag von Lausanne aufzulösen und mit den Staaten der Region die Grenzen neu festzulegen. Verfechter dieser Leitidee sind in der türkisch-nationalistischen und politisch-islamistischen Weltsicht zu Hause. Zur Umsetzung ihrer Ziele – der Vereinigung aller Türken für die türkischen Nationalisten (die Partei der Nationalen Bewegung (MHP), Ergenekon, Eurasier/Nationalisten), das osmanische Modell für die politischen Islamisten (AKP/Erdoğan) – haben sie sich auf ein neues Konzept verständigt und sind seit einigen Jahren verbündet. An politischen Wahlen nehmen sie als sogenannte Volksallianz (Cumhur İttifakı) teil.

Dieses Bündnis hat in den letzten Jahren über Gesetzesänderungen ein neues Regime aufgebaut. Es hat Erdoğan als Anführer akzeptiert und ihn mit einer geänderten Verfassung zum «Präsidenten türkischen Typs» ausgerufen. Erdoğans 1000-Zimmer-Palast ist jetzt das Hauptquartier des neuen Regimes. Alle staatlichen Behörden und alle Ministerien wurden dem Palast unterstellt und dort werden inzwischen alle innen- und außenpolitischen Entscheidungen getroffen. Dass das neue Regime mächtige Mafiabosse und Mitglieder des organisierten Verbrechens wie Sedat Peker und Alaattin Çakıcı aus der Haft entlassen hat und Frieden zwischen verfeindeten Banden gestiftet hat, verdeutlicht das Ausmaß des Bündnisses, das selbst bis in diese Kreise hineinreicht. Der Mafiaboss Alaattin Çakıcı ist Mitglied der Grauen Wölfe Bewegung (Ulkücü) und wurde unter anderem wegen zahlreicher Morde zu einer Haftstrafe verurteilt. Auf Drängen des MHP Parteichefs Bahçeli wurde er im Rahmen einer Amnestie im April 2020 freigelassen.   

Statt die Türkei in die EU-Mitgliedschaft zu führen, Frieden mit den Kurden zu schließen, dafür zu sorgen, dass demokratische Grundsätze das Land bestimmen, die nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 erlassene Verfassung durch eine zivile, demokratische Verfassung zu ersetzen, steuert Erdoğan politisch genau in die entgegengesetzte Richtung. Er gefällt sich in den letzten Jahren sowohl als starker Anführer, der die Bündnispartner des neuen Regimes zusammenhält, als auch als Chef der Nationalisten, Vorsitzender der AKP und Präsident der «Gemäßigten». Das eigentliche Ziel der Koalitionäre des neuen Regimes ist dabei die Wiederbelebung der historischen Macht der Türken. Sie glauben, dass der einzige Weg dorthin über den «imperialen Traum» führt: Die Neuinterpretation der türkischen Geschichte, Reaktivierung ihrer Symbole, Ignorieren der Bedingungen und Verträge, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Gründung des türkischen Nationalstaats geführt haben und die Rückgewinnung der osmanischen Territorien, das alles sind Teile der neuen Leitidee. In diesem Punkt stimmen sie mit Erdoğan überein. Für diesen Zweck sind sie bereit, Erdoğan zum Kalifen und Istanbul wieder zur Hauptstadt auszurufen.

Nicht nur Erdoğan träumt den osmanischen Traum, auch die Opposition (abgesehen von der prokurdischen linken HDP) unterstützt gelegentlich die Schritte, die in diese Richtung getan werden. Beseelt von der historischen Stärke der Türken sind selbst Kemalisten, die Anhänger der Ideologie des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk, soweit, dass sie kaum noch gegen ein mögliches Großreich protestieren würden.

Kemalismus, Erdoganismus und die Suche nach dem Goldenen Apfel

Während das Regime oppositionelle Stimmen im Innern zum Schweigen bringt und das Ein-Mann-System um Erdoğan institutionalisiert, versucht es in der Außenpolitik, seine «osmanische Fantasie» Schritt für Schritt in die Tat umzusetzen. Ausgangspunkt ist die Wiederbelebung der historischen Mission der türkischen Nation. Als ihr Vorbild dient die Ideologie der Synthese aus Türkentum und Islam, der sogenannte Goldene Apfel[1], welcher ein Symbol imperialer Herrschaft der Türken darstellt Als Modell dient das Reich der Großseldschuken- und der Osmanen. Unter dem von Erdoğan verwendeten Slogan «Neue Türkei» verbirgt sich eigentlich das Ziel des Großreichs. Wenn man die «Neue Türkei» und den «Goldenen Apfel» zusammen betrachtet, wird das Bild klarer. Beide Begriffe repräsentieren die «Rückkehr der Türken zu heldenhafter Größe», eine Vision, die geeignet ist, die Gefühle nationalistischer Türken zu befeuern.

Der Begriff des Goldenen Apfels wurde, nachdem er lange Jahre in verstaubten Kellern der türkischen Geschichte verbracht hatte, eines kalten Januartages 2018 wieder in den Fokus gerückt. Als nämlich ein türkischer Soldat während der von türkischen Streitkräften und verbündeten radikalislamischen Milizen geführten Militäroperation zur Besetzung der kurdischen Stadt Afrin – in der während des Bürgerkriegs ruhigsten Region Syriens – von einem Journalisten gefragt wurde «Was ist das Ziel?», und er «Der Goldene Apfel» sagte. Diese Antwort war das Bekenntnis zu allen offenen oder verdeckten Zielen des neuen Regimes. An einem der folgenden Tage griff Erdoğan den Ausspruch des Soldaten auf und sagte: «Ja, es gibt für uns einen Goldenen Apfel. Dieses Ziel haben wir im Auge.» Dieser Ausspruch war nicht eine von Erdoğans zahllosen Provokationen, sondern markierte tatsächlich den Beginn einer neuen Ära. Dabei stehen drei Jahreszahlen, die von Erdoğan häufig ausgesprochen werden, für die Ziele des neuen Konzepts und die neue Ära: 2023, 2053 und 2071. Die drei Jahreszahlen beziehen sich auf wichtige Missionen der Türken in der Vergangenheit: Türkisch-islamische Republik, Großreich und endgültiger Sieg des Türkentums. Der kurdische Politiker Hatip Dicle glaubt, dass das Ziel für 2023 sein könnte, Istanbul als Hauptstadt und Erdoğan als Kalif auszurufen, bis 2053 die ehemals osmanischen Gebiete entweder zu besetzen oder durch politische Einflussnahme zu beherrschen, und bis 2071 diese Gebiete zu «turkisieren».

Diese imperialen Träume des Erdoğan-Regimes können nur über die Besetzung von Ländern der Region durch die Türkei realisiert werden. Das einzige Land in der Nachbarschaft, mit dem derzeit kein direkter Konflikt besteht, ist Iran. Da das Ziel des türkischen Regimes ist, die verlorenen osmanischen Gebiete zurückzugewinnen, und bereit 1639 mit dem Vertrag von Zuhab zwischen den Osmanen und Safawiden die türkisch-iranische Grenze geregelt wurden, ist das Staatsgebiet des Irans nicht Teil der Allmachtsphantasien der Türkei. Die Türken haben daher zur Widerherstellung des Osmanischen Reiches kein Auge auf Teheran geworfen, dafür aber jede Menge Träume, die ehemals osmanischen Besitzungen Damaskus, Bagdad, Tripolis, ganz Zypern, Kreta und die Ägäisinseln sowie die Balkangebiete zurückzuholen. Die Einverleibung all dieser Gebiete wäre die Realisierung des Traumes der politischen Islamisten. Selbst wenn die Pläne im östlichen Mittelmeer fürs Erste nicht aufgegangen sind, sind die Islamisten mit dem Einmarsch in Syrien und dem Eingreifen in Libyen für den Moment zufriedengestellt. Nun sind jedoch die Träume der Bündnispartner, der türkischen Nationalisten, von der Vereinigung aller Turkvölker an der Reihe. Die Kämpfe zwischen Aserbaidschan und Armenien um das seit Jahren umstrittene Bergkarabach haben die Vertreter der kulturellen und politischen Einheit der Turkvölker, die Panturkisten/Turanisten aufhorchen lassen. Experten sind sich einig, dass Aserbaidschan ohne die Unterstützung des türkischen Staates keinen Krieg mit Armenien riskieren könnte. Seit Tagen gibt es in der Region Gefechte, Bombardierungen, Menschen sterben. Aserbaidschan ist entschlossen, Bergkarabach einzunehmen, Armenien entschlossen, es zu behalten. Hinter Baku steht als große Schutzmacht der türkische Staat. Russland spielt eine ambivalente Rolle, da es Beziehungen zu beiden Staaten führt. Der Parteivorsitzende der MHP, Devlet Bahçeli, hat in scharfen Worten, Armenien der «Türkenfeindschaft» bezichtigt und zugleich seine Absichten kundgetan und mit dem Spruch «Zwei Staaten, ein Volk» die neue politische Linie in Richtung Panturkismus auf eine prägnante Formel gebracht. Das islamistische und türkisch-nationalistische Regime heizt nun mit armenienfeindlichen Äußerungen die vaterländischen Gefühle an und verlagert die einstweilen abgeebbte Spannung aus dem östlichen Mittelmeer in die Kaukasusregion. Die Absicht dahinter ist klar und deutlich: ein neues, großes Imperium islamistisch-panturkistischer Prägung schaffen. Dies soll über zwei Wege geschehen: Krieg oder Einflussnahme über den Panturkismus, welcher die politische und kulturelle Einheit der Turkvölker einfordert.

Zur Kriegsführung ist eigene Energie unerlässlich

In der Türkei sind Kriegskosten sowohl für die AKP als auch für die oppositionellen Kemalisten nahezu unumstritten. Natürlich bedeutet Krieg erhebliche volkswirtschaftliche Kosten. Was die Produktion und Versorgung mit Waffen betrifft, ist die Türkei vom Ausland abhängig und für ihre Einfuhr auf Devisen angewiesen. Das Erdoğan-Regime kann daher in dieser Beziehung nicht frei agieren und die Abhängigkeit vom Ausland zeigt Erdoğan seine Schranken auf. Erhebliche Kosten fallen an für die Unterstützung radikalislamischer Gruppen in der Provinz Idlib, für den Aufbau von militärischen Stützpunkten, die Besetzung der kurdischen Städte Afrin, Tel Abyad oder Ras al-Ayn/Serekaniye. Die türkischen Streitkräfte, die immer wieder Ziele im Nordirak bombardieren, haben sich auch in den Bürgerkrieg in Libyen eingeschaltet und unterstützen die Regierungstruppen mit Streitkräften, Waffen und Logistik. Wenn man dann noch die Ausgaben für die Unterstützung von Aserbaidschan im Bergkarabach Konflikt mit Armenien hinzurechnet, steigen die Auslandsschulden weiter massiv an und betragen mittlerweile fast ein Viertel des nationalen Einkommens.

Seit ihrer Machtübernahme 2002 hat die AKP eine neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt, die sie allerdings nicht am Produktionspotential, sondern dem Kriterium Loyalität ausrichtete. Ausschreibungen und Firmensubventionen werden an Parteinahe Unternehmen oder Anhänger verteilt. Durch die derzeitige Wirtschaftskrise sind große öffentlich-private Partnerschaftsverträge (ÖPP) an ihre Grenzen gestoßen. Beispielsweise müssen mittlerweile mehrere hundert Millionen Euro für ausgefallene Mauteinnahmen für die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke in Istanbul über Steuergelder finanziert werden. Die Gelder fließen an eine private türkische Mautgesellschaft und an ein italienisches Bauunternehmen. Durch den Kursverfall der Lira, welche durch die Corona-Pandemie weiter verschärft wurde, werden die Entschädigungszahlungen teurer. Infolge der Pandemie ist das Bruttoinlandsprodukt der Wirtschaft im zweiten Quartal 2020 um etwa 11 Prozent geschrumpft und die Inflation betrug im August im Mittel der letzten 12 Monate mehr als 11 Prozent. Die völlig unter der Kontrolle des Erdoğan-Regimes stehende Zentralbank hält zur Ankurbelung der Wirtschaft die Zinsen künstlich niedrig. Allerdings haben die gesenkten Zinssätze, solange die Inflation nicht unter Kontrolle ist, einen Abfall des effektiven Zinses zur Folge, weswegen sich die Nachfrage nach US-Dollars und somit die Wertsteigerung des Dollars erhöht und die Kapitalzufuhr von außen weggebrochen ist. So kommt es, dass bei der Zentralbank Devisenmangel herrscht.

Das Erdoğan-Regime weiß, dass es so gut wie keine Chance hat, einen direkten Krieg mit einer Regionalmacht zu gewinnen, da seine wirtschaftlichen und militärischen Mittel hierfür nicht ausreichen. Um die Ideologie des Goldenen Apfels umzusetzen, muss es daher seine volkswirtschaftliche und militärische Stärke ausbauen. Dafür ist das Regime auf beträchtliche Energiereserven angewiesen. Die Türkei importiert jährlich Energie im Wert von etwa 40 Milliarden US-Dollar. Es wurde zwar ein Erdgasvorkommen im Schwarzen Meer gefunden, aber es scheint, als würde sich das Anzapfen des angeblich 320 Quadratkilometer großen Gasfelds nicht lohnen. Und auch der Jubel des Erdoğan-Regimes bezüglich der im östlichen Mittelmeer gefundenen Reserven, angeblich eine «Erdachsenverschiebung», dauerte nur kurz und ist schon verstummt.

Die Uneinigkeit in der EU und NATO

Es ist eindeutig, dass die Absichten der Türkei im östlichen Mittelmeer und ihre Bereitschaft, dafür einen Krieg zu riskieren, über die Suche nach Erdgas hinausgehen. Zweck der Aktivitäten ist es, aktiv Präsenz im Mittelmeerraum, besonders in der Levante, zu zeigen. Dazu diente u.a. das Bündnis mit den Muslimbrüdern in Ägypten. Der Wunschtraum, im sogenannten Arabischen Frühling über die Muslimbruderschaft den Einfluss bis nach Afrika auszudehnen, löste sich in Ägypten schnell auf, als die von der Türkei unterstützte islamische Organisation durch einen Putsch des Militärs unter Führung des Militärchefs Abd al-Fattah as-Sisi entmachtet wurden, und machte eine Konfrontation mit dem Land unvermeidlich. Dies zeigt sich beispielsweise im Libyenkonflikt, wo Erdoğan die Regierung von Fayiz-as-Sarradsch, Ägypten hingegen General Haftar unterstützt.

Auch die Suche nach Erdgasfeldern im östlichen Mittelmeer durch das seismische Erkundungsschiff Oruç Reis führte fast zu einem Krieg zwischen der Türkei und Griechenland. Die Oruç Reis wurde zwar am 13. September 2020 zusammen mit seiner Schutzeskorte aus türkischen Kriegsschiffen nach Antalya abgezogen, der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu erklärte jedoch auf Berichte, wonach die türkische Regierung im Konflikt eingelenkt habe: «Die Türkei hat sich im östlichen Mittelmeer nicht zurückgezogen, die Oruç Reis wurde zu Versorgungs- und Wartungszwecken in den Hafen gebracht»[2]. Er gab so zu verstehen, dass seine Regierung nicht vorhat, auf ihre Expansionsabsichten in der Region zu verzichten. Viele Beobachter sind sich daher einig, dass das Ziel in der Region darin besteht, über aggressive politische Methoden und Kriegsdrohungen die verlorenen osmanischen Gebiete in Ägäis und Mittelmeer zurückzugewinnen.

In den 1980er Jahren wurde in türkischen Volksschulen gelehrt, dass die Türkei von allen Seiten von Feinden umgeben sei. Das Erdoğan-Regime hat sich entsprechend dieser Erzählung tatsächlich überall Feinde gemacht. Angefangen von Syrien und Libyen, ist die Türkei mit den Regionalmächten der Levante an den Rand eines Krieges geraten. Ankara hat mit Erdgasbohrungen in umstrittenen Gebieten Anfang September 2020 kämpferische Zusammenstöße provoziert. Nachdem Frankreich, der militärische Motor der EU, zur Unterstützung Griechenlands ein Kriegsschiff und Flugzeuge in die Region geschickt hatte, hielten die Entwicklungen im östlichen Mittelmeer tagelang die Weltöffentlichkeit in Atem. Die NATO, der alle drei Staaten angehören, schaltete sich ein, aber mit den derzeitigen Strategien konnte keine dauerhafte Lösung erreicht werden. Davon abgesehen gibt es auch keine Politik und keinen Staat, der bereit wären, das Problem zu lösen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat mit seiner Erklärung «Die Türken respektieren nur Worte, die auch in die Tat umgesetzt werden»[3] die Betonung auf Taten gelegt und später klar festgestellt: «Die Türkei hegt osmanische Wunschträume». Die gemeinsame Pressekonferenz von Macron und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel machte deutlich, dass die EU in dieser Frage keine gemeinsame Linie vertritt, da Merkel betonte: «Wir unterscheiden uns von Macron». Die Reaktionen von EU und NATO auf die Expansionspolitik der Türkei gingen nicht über passive Kommentare im Stil von «wir verurteilen diese Schritte», «wir sind besorgt» und «wir sind beunruhigt» hinaus – ähnliche Worthülsen wie beim Einmarsch der türkischen Armee in Syrien und der Besetzung der kurdischen Städte. Natürlich ist es für die NATO schwer, eine dauerhafte Lösung zu finden, wenn ihre eigenen Mitglieder am Rande einer militärischen Auseinandersetzung stehen. Und dass die EU gegen das Erdoğan-Regime keine gemeinsame Linie hat und ihm mit zu viel Nachsicht begegnet, wird nach jeder Krise und jedem Ereignis deutlicher. In einem Gespräch mit Professor Cengiz Aktar, EU-Experte und Lehrbeauftragter an der Universität Athen, merkt dieser an: «Je mehr die EU die Türkei beschwichtigt, desto wilder führt die Türkei sich auf. Sie wird nach innen und außen immer undemokratischer.» In Brüssel herrsche noch immer die Illusion, dass man die Türkei unter Kontrolle halten und ihr Abdriften nach Russland verhindern kann, auch wenn man sie nicht direkt zum EU-Mitglied macht. Doch Ankara hat keine derartigen Wünsche, Absichten oder Perspektiven.

Wenn Erdoğan und sein Regime nicht von ihren irrsinnigen islamistisch/panturkistischen Fantasien abrücken, dann ist die Gefahr groß, dass sich auch das Mittelmeer, die Ägäis und der Balkan jederzeit in ein Kampfgebiet verwandelt. Der Rückzug der Oruç Reis aus dem östlichen Mittelmeer mag die Spannung gemindert und der EU ein kurzes Aufatmen beschert haben, aber die türkische Regierung verfolgt weiter ihre imperialen Bestrebungen. Aufgrund mangelnder regionaler und internationaler Unterstützung hat die Türkei zwar einstweilen einen Rückzieher gemacht. Indem sie aber Aserbaidschan ihre uneingeschränkte Unterstützung versichert, klammert sich die Türkei jetzt an panturkistische Visionen im Kaukasus. Und es gibt keine Garantie, dass nicht im östlichen Mittelmeer oder an einer anderen Stelle, die einmal zum Osmanischen Reich gehörten, neue Konfrontationen entstehen könnten.

 
Dieser Artikel ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung des ursprünglichen Artikels auf der Website der RLS Brüssel.


[1] Hamsici, Mahmut (2020). Kızıl elma: Kavramın anlamı nedir? İktidar kızıl elma söylemine neden başvurdu? (Golden Apple: What does this concept mean? Why has the ruling party resorted to Golden Apple discourse?). BBC News Türkce (BBC News Turkish), 28 August 2020. https://www.bbc.com (in Turkish)

[2] Sputnik Türkiye (2020). Çavuşoğlu: Türkiye Akdeniz'de geri adım atmadı, Oruç Reis limana bakım ve ikmal için çekildi (Çavuşoğlu: Turkey has not backed down in the Mediterranean; the Oruç Reis returned to port for maintenance and to be restocked). Sputnik Türkiye (Sputnik Turkey), 14 September 2020. https://tr.sputniknews.com (in Turkish)

[3] Euronews (2020). Macron: Türkler sadece eyleme dönüşen sözlere saygı duyar, Suriye'de bunu yaptım (Macron: The Turks only respect words that are put into action, and that is what I did in Syria). Euronews, 28 August 2020. https://tr.euronews.com (in Turkish)