Interview | Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa Wahlen nach dem Lockdown in Italien

Ein politischer Erneuerungsversuch zwischen Klientelismus und Krise

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© Potere al Popolo
© Potere al Popolo

Am 20. und 22. September wurde in Italien über die Verkleinerung des Parlaments entschieden und in sieben Regionen wurden Regierung und Parlament erneuert. In der Toskana und in Kampanien führte die vor rund drei Jahren geborene politische Formation Potere al Popolo eine Kampagne im Zeichen der politischen Erneuerung, verpasste aber den Einzug in die regionalen Parlamente.

Ein Gespräch mit Giuliano Granato, Präsidentschaftskandidat von Potere al Popolo in Kampanien.
 

Die Wahlen in Italien fanden mitten in einer gesundheitlichen, ökonomischen und sozialen Krise statt. Kannst du uns einige Elemente dieser spezifischen Situation in Kampanien geben?

In ganz Italien befinden wir uns sozial und politisch in einer Übergangsphase, die stark von der Corona-Krise geprägt ist. Was die gesundheitliche Lage angeht, hat die erste Welle der Corona-Krise eher den Norden als die südlichen Regionen getroffen, obwohl das Gesundheitssystem im Norden besser ist als jenes im Süden. Das hat sowohl mit der Korrelation von Erkrankung, schlechter Luftqualität und Industrialisierungsgrad als auch mit dem grossen Einfluss des Unternehmensverbandes Confindustria im industriellen Zentrum Nord-Italiens zu tun. Während  der ganzen ersten Welle übte er Druck auf die Politik aus, um einen Grossteil der industriellen Produktion am Laufen zu halten.

Kampanien hat die jüngste Bevölkerung Italiens (Druchschnittsalter 42,15 Jahre). Diese Tatsache bringt ein enormes ökonomisches, kulturelles und politisches Potential mit sich. Doch wir riskieren hier, zur «Hauptstadt der Emigration» zu werden. Aufgrund der Jungendarbeitslosigkeit von knapp 50% und den mangelnden Zukunftsaussichten entscheiden immer mehr Jugendliche, die Region zu verlassen. Kampanien gehört mit 700.000 Personen zur Region mit der höchsten Zahl an Grundeinkommensbezüger*innen, die vom Movimento 5 Stelle eingeführten Sozialhilfe für armutsbetroffene Menschen; Kampanien steht auf Platz 1 der Rangliste der irregulären Arbeit, hier macht sie rund 20 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus; in Kampanien weisen 7 von 10 vom Arbeitsinspektorat kontrollierten Unternehmen Verstösse gegen Arbeiter*innenrechte auf. Diese Situation wird durch die Corona-Krise weiter verschärft und produziert einen tiefgreifenden Wandel im gesellschaftlichen Gewebe der Region.

Das zentrale Thema ist also die Arbeit?

Eindeutig. Der Deindustrialisierungsprozess hat schon vor Jahrzehnten begonnen. Kampanien war jedoch nicht, wie Exponent*innen der KPI und Liberale behaupteten, schon immer eine industriell unterentwickelte Region. Vielmehr muss man ihre spezifische Position in der nationalen Arbeitsteilung verstehen. Tatsächlich gibt es heute trotz jahrzehntelangen Betriebsschliessungen und Abbauprozessen noch wichtige industrielle Produktionen, die nun stark unter Druck stehen: Die Fiat in Pomigliano d'Arco, verschiedene Unternehmen der Luftfahrtindustrie, der Hafen von Neapel, die Tourismusbranche und die Nahrungsmittelindustrie. Die Entwicklung dieser Sektoren ist ausschlaggebend für die Zukunft der Region.

Die soziale Krise geht aber über die Frage der Arbeit hinaus und betrifft auch die Fähigkeit und den politischen Willen, den Sozialstaat zu organisieren. In Kampanien sind zwei von fünf Personen armutsbetroffen. Diese Zahl hat mit der Corona-Krise nochmals zugenommen, während den Monaten des Lockdowns wurden Menschen vermehrt von karitativer Unterstützung abhängig.

Ein zentrales Thema der Wahlkampagne war die Gesundheitspolitik. Die Bewältigung der Corona-Krise ist nicht nur von der Zahl der Erkrankungen abhängig, sondern auch von der Stabilität des öffentlichen Gesundheitssystems. Wie ist die Situation in Kampanien?

Wir erleben hier eine tragische gesundheitliche Situation, und dies nicht erst seit der Corona-Krise. In den letzten zehn Jahren haben die Regionspräsidenten Stefano Caldoro von Forza Italia zuerst, danach Vicenzo De Luca von der Demokratischen Partei das öffentliche Gesundheitssystem mit ihrer Austeritäts- und Privatisierungspolitik regelrecht zerstört. Während des letzten Mandates von De Luca wurden nur in der Stadt Napoli vier Krankenhäuser geschlossen, in den anderen Provinzen Salerno, Avellino, Caserta und Benevento wurden die wichtigeren Krankenhäuser abgebaut. Überall fehlt es an Gesundheitspersonal. Kurzum: Das Gesundheitssystem liegt in Trümmern.

Es handelt sich um ein Scheitern eines ganzen Gesundheitsmodells, das auf einige wenige, oft privaten Exzellenzkliniken setzt, ohne jedoch ein Netz von Krankenhäusern zu garantieren, die rund um diese Kliniken funktionieren. Was wir brauchen ist genau das Gegenteil: nämlich die Stärkung der Basismedizin, der Rolle der Haushärzt*innen und eine breitflächige Präsenz von Ambulatorien in den Quartieren und kleinen Ortschaften der Region.

Wie kann die Politik des Präsidenten De Luca während seines ersten Mandates 2015-2020 sonst bewertet werden?

Bevor ich diese Frage beantworte, muss ich einen Schritt zurück machen. Anfang der 2000er Jahre wurde die Verfassung in Richtung eines föderalistischen Systems geändert, so dass die Macht und die Kompetenzen der Regionen erweitert wurden. Dieser Prozess ist aber aufgrund der zahlreichen politischen Krisen in Italien bei weitem noch nicht abgeschlossen. Wir befinden uns heute in einem komplexen System von Kompetenzenaufteilung zwischen Zentralstaat und Regionen. Dies hat dazu geführt, dass in vielen politischen Bereichen unterschiedliche kommunale, regionale und nationale Organe mitreden und auf die Verteilung von Geld, Macht und Positionen in den Institutionen Einfluss nehmen wollen. Die tatsächliche Kampf um die Regionalwahlen spielt sich seit jeher auf dem Feld der Gesundheitspolitik ab. Hier kommt der Machteinfluss der regionalen Verwaltung am besten zum Ausdruck und wir können von einem business sprechen, das zwischen 65 und 70 Prozent der totalen Ausgaben der Region ausmacht.

Der zweite wichtige Bereich ist der öffentliche Transport. Zurzeit steckt das regionale Transportunternehme EAV (Ente Autonomo Volturno) in tiefrote Zahlen. De Luca hat zwar viele Schulden geerbt und er konnte in fünf Jahren tatsächlich einen Teil der Schulden abbauen, dies wurde jedoch auf dem Buckel der Arbeiter*innen und der Pendler*innen gemacht. Denn es fahren massiv weniger Züge, sie sind oft verspätet, überfüllt und alt und die Tickets wurden teurer. Zudem herrscht ein Personalmangel, und dies nicht, weil niemand im öffentlichen Transport arbeiten will, sondern aufgrund einer komplett falschen Personalpolitik. Arbeiter*innen, die in Rente gehen, werden nicht ersetzt. In den letzten fünf Jahren wurden so zahlreiche Zuglinien geschlossen, die jedoch notwendig sind, um Peripherien und Stadtzentren zu verbinden. Gerade in dieser Krisenzeit bedeutet ein gut funktionierender öffentlicher Transport Gesundheitsprävention. Das Paradoxe ist, dass wir in Kampanien zahlreiche Unternehmen haben, in denen investiert werden könnte, um eine ökologische Transition des öffentlichen Transports zu bewältigen (Hitachi, ex Ansaldo-Breda in Napoli; IIA, ex Fiat-Irisbus in Flumeri (AV); Ansaldo STS in Napoli). Die Kompetenzen existieren auf lokaler und regionaler Ebene, was wir benötigen ist ein einheitliches öffentliches Unternehmen und eine Planung, die sich an den gesellschaftlichen und ökologischen Bedürfnissen orientiert.

Potere al Popolo hat bei den nationalen Wahlen im 2018 teilgenommen und nun, zweieinhalb Jahre später, bei den Regionalwahlen in der Toskana und in Kampanien. Warum hat Potere al Popolo diese Herausforderung angenommen?

In der Perspektive des Aufbaus eines politischen Projektes erlauben die Regionalwahlen an Orte zu kommen, die wir im politischen Alltag nicht erreichen. Das ist der große Unterschied zu den Kommunalwahlen – da agiert man, wo man schon aktiv ist – und den nationalen Wahlen, wo man sich auf einer allgemeineren politischen Ebene bewegt, ohne dass man dafür eine Verankerung in den Territorien benötigt. Aufgrund der spezifischen Konfiguration zwingen die Regionalwahlen eine politische Organisation, in den unterschiedlichsten Gegenden und Territorien anwesend zu sein, auch dort Aktivitäten zu entwickeln, wo man sonst nicht anwesend ist. Auf der organisatorischen Ebene können Regionalwahlen also tatsächlich einen Wachstumsinpuls darstellen. Je nach regionalem Kontext sind wir dafür unterschiedliche Wege gegangen: In der Toskana haben wir uns der Listenkoalition Toscana a Sinistra angeschlossen; in Kampanien hingegen sind wir mit unserem eigenen Symbol und unserem eigenen Namen Potere al Popolo aufgetreten.

Die Herausforderung der Regionalwahlen für eine neue Linke war, gewisse politische Inhalte in die Debatte zu bringen, die einen klaren Bruch mit der traditionellen Politik darstellen. Es wäre natürlich wichtig gewesen, eine*n Vertreter*in in den regionalen Parlamenten zu haben, um die parlamentarische Arbeit «von innen» zu monitorieren. Gerade in den kommenden Monaten werden die Gelder des Recovery Fund verteilt und eine Einsicht in die Verteilung, in die Investitionen und in die Projekte würde einen wichtigen politischen Hebel darstellen. Von aussen ist es schwieriger, sich dieser Aufgabe anzunehmen.

Worauf habt ihr eure politische Kampagne aufgebaut?

Wir haben viel in die Kommunikation investiert. Seit unserer Gründung ist die Grundidee, nicht als identitäre Organisation aufzutreten und folglich die politischen Themen vor die politischen Identität zu stellen. Heute bringt es kaum was, ständig zu wiederholen, dass wir Linke sind oder dieser und jener Tradition angehören. Das kommunikative Festhalten an einer identitären Definition wirkt eher ablehnend und exkludierend.

Thematisch arbeiten wir im Sinne des linken Populismus stark mit der Gegenüberstellung von popolo und Elite, «die Vielen gegen die Wenigen», «wir gegen sie», «die alte Politik gegen das Neue». Im Unterschied zum M5S benutzen wir jedoch nicht den Begriff der «politischen Kaste», sondern der der «Machenschaften» (trama). Denn für uns sind die Machenschaften das Problem; Machenschaften, die die Politik betreffen, aber auch die Wirtschaft, die Kultur etc. Kurzum: das gesamte kapitalistische System. Kommunikativ geht es hier also darum, nicht in der einen oder anderen Person das Problem zu identifizieren, sondern im herrschenden Machtapparat.

Und mit wem habt ihr die Wahlkampagne geführt?

Unser Ziel war es, junge Menschen und Aktivist*innen in die Kampagne miteinzubeziehen. Die Entscheidung, in Kampanien mich als Präsidentschaftskandidaten zu stellen, wurde in dieser Perspektive getroffen. Es ging darum, eine Person auszuwählen, die gesellschaftlich etwas ausdrückt: Ich war mit 34 Jahren mit Abstand der jüngste Kandidat, ich habe einen Uniabschluss, musste aber nach London emigrieren, weil ich hier lange Zeit keinen Job fand. Danach habe ich entschieden, wieder nach Napoli zurückzukehren, habe mich mit vielen prekären Jobs rumgeschlagen und wurde dann bei meinem letzten Job, der etwas stabiler war, wegen Gewerkschaftsaktivismus entlassen. Nun bin ich wieder arbeitslos. Ein grosser Teil meiner Biographie ist diejenige von tausenden von jungen Menschen.

Bei der Zusammenstellung der Listenkandidat*innen folgten wir der gleichen Idee, auch in der Toskana. Sie sollten möglichst breite Teile der Gesellschaft bzw. der Klasse repräsentieren: Gewerkschaftsaktivist*innen, Lehrer*innen, Student*innen etc. Auch ehemalige, enttäuschte Aktivist*innen des M5S, die die Partei von links verlassen haben, waren auf unseren Listen, also nicht nur Mitglieder von Potere al Popolo. Dies hat natürlich auch ein langfristiges Ziel, das weit über die Wahlen hinausgeht: beim Aufbau der politischen Organisation gesellschaftlich möglichst breit verankert zu sein.

Wie beurteilst du das Wahlresultat?

Aus einer Klassenperspektive betrachtet ist das Referendumsresultat sehr schlecht ausgefallen. Seine Annahme mit knapp 70 Prozent verstehe ich als Ablehnung der Politik im Ganzen und als Wunsch nach einer starken Autorität in der Exekutive. Die Verkleinerung des Parlaments stellt gerade kleinere politische Parteien vor der Frage, wie sie sich in Zukunft Wahlen gegenüber verhalten sollen.

In den regionalen Parlamenten gibt es heute keine linke Opposition mehr. Besonders in Kampanien sind zudem die Mitte-Links- und die Mitte-Rechts-Koalitionen in den Territorien unerkenntlich. Die Hälfte der Listen, die noch bis vor kurzem zur Mitte-Rechts-Koalition gehörten, ist ins Lager von De Luca übergegangen, und dies nicht, weil sie rechte Ideale verraten hätten. Die Tatsache, dass die Mitte-Links-Koalition sie mit einer solchen Leichtigkeit aufgenommen hat, zeigt, dass die zwei regionalen Projekte sehr ähnlich sind. Die politischen Divergenzen glichen während der ganzen Wahlkampagne nur einem Theaterspiel.

Die Regionalwahlen sind meiner Meinung nach nicht positiv zu bewerten. Unabhängig von den einzelnen Resultaten ist eine allgemeine Tendenz zu erkennen: In Zeiten der Krise gewinnt, wer schon regiert und Sicherheit vermitteln kann. Die Menschen tendieren also dazu, sich den Regierenden anzuvertrauen. Diese Tendenz ist auch in anderen Ländern zu erkennen, beispielsweise in Spanien, Portungal und auch in Großbritannien. Anders sieht es hingegen in den Vereinigten Staaten und Brasilien aus, wo Trump und Bolsonaro Terrain zu verlieren scheinen, gerade weil sie bis vor kurzem die Konsequenzen des Virus kleingeredet und kaum etwas unternommen haben, um dem entgegenzuwirken.

Schliesslich bedeuten diese Regionalwahlen das Ende der parlamentarischen Erfahrungen linksradikaler, sozialistischer Parteien. Durch die Wahl des «kleineren Übels» und einer Anti-Lega-Haltung sind viele traditionell linke Wähler*innen zur Demokratischen Partei übergelaufen. Dies ist in der Toskana passiert, wo Toscana a Sinistra nicht wiedergewählt wurde. Wir haben es aber auch in Kampanien erlebt, da viele schlussendlich lieber De Luca ihre Stimme gegeben haben als Potere al Popolo. Dieses Wahlverhalten weist darauf hin, dass innerhalb der Klasse zurzeit kaum ein Bewusstsein über die Notwendigkeit einer organisierten Klassenautonomie besteht.

Was müssen in diesem Krisenkontext und mitten in der zweiten Welle die Prioritäten einer neuen Linken sein?

Eine neue (Klassen-)Linke muss jetzt vor allem die aktuelle politische, ökonomische und soziale Krisenzeit verstehen. Denn zurzeit erleben wir eine massive Verschärfung der durch das Coronavirus ausgebrochenen Krise. In den kommenden Monaten stehen einschneidende Veränderung an. Die Möglichkeit eines neuen, partiellen Lockdowns wird die materielle Situation von Millionen von Arbeiter*innen wieder bedrohen, vor allem auch, weil der Sozialstaat nicht angemessen darauf antworten wird. Mit Ende der Kurzarbeit und der Aufhebung des Entlassungsverbotes in Zusammenhang mit der Corona-Krise wird die Zahl der Arbeitslosen steigen, was sich direkt auf die industriellen Beziehungen auswirkt. Der Präsident von Confindustria Carlo Bonomi wehrt sich vehement gegen Tarifverträge und Lohnerhöhungen. Bei den Arbeiter*innen werden jedoch die Existenzbedingungen immer schwieriger und ich fürchte, dass sie aufgrund der beruflichen Perspektivenlosigkeit massiv schlechtere Arbeitsbedingungen akzeptieren werden.

Eine neue Linke muss von den Territorien starten, dort mit der Eröffnung von neuen Volkshäusern weiter Fuss fassen, durch ständige Quartierversammlungen eine organisierte soziale Basis aufbauen und so politisch auf allen Ebenen handlungsfähig sein. Denn früher oder später wird notwendigerweise eine breitere soziale Bewegung entstehen und dann ist es unsere Aufgabe, unsere organisatorischen Kenntnisse und Strukturen zur Verfügung zu stellen, damit die Bewegung wachsen und Kämpfe gewinnen kann.

Schliesslich werden im Frühjahr 2021 erneut Wahlen stattfinden, unter anderem in den drei grössten Städten Italiens: Rom, Mailand und Neapel. Wir von Potere al Popolo wollen überall, wo die Voraussetzungen gegeben sind, daran teilnehmen. Obwohl auf dem ersten Blick die Kommunalwahlen «einfacher» erscheinen als die Regionalwahlen, wird es eine grosse Herausforderung sein. Denn im Vergleich zu den erstarkten Regierungsparteien bleiben wir eine kleine politische Kraft. Umso wichtiger also, uns in jedem Quartier zu organisieren. Nur so können wir die gesellschaftliche Legitimität gewinnen, die nötig ist, um zu wachsen.
 

[Beitrag in Englisch auf der Website der RLS Brüssel]