Am 09. Juni 2004 explodierte eine vom selbsternannten «Nationalsozialistischen Untergrund» (NSU) gelegte Bombe vor einem Friseursalon in der Kölner Keupstraße. 22 Menschen wurden verletzt, 4 von ihnen schwer. Die Bombe war mit zahlreichen Nägeln versehen und sollte dadurch viele Opfer zur Folge haben. Zuvor war am 19. Januar 2001 eine weitere, vom NSU gelegte Sprengstoffbombe in einem Lebensmittelgeschäft in der Kölner Probsteigasse detoniert und hatte dabei eine Person schwer verletzt. Beide Anschläge richteten sich explizit gegen migrantisches Leben und reihten sich ein in eine jahrelange Anschlagsserie des NSU. Zehn Menschen wurden von 2000 bis 2007 vom NSU ermordet und zahlreiche Menschen traumatisiert. Zu ihnen zählen auch die Bewohner*innen der Keupstraße und die Inhaber*innen des Lebensmittelgeschäfts in der Probsteigasse.
Das Interview führte Efsun Kızılay, Referentin für Migration in der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Trotz jahrelanger Bemühungen gibt es bis heute kein Mahnmal in Köln, das an die Anschläge erinnert. Die Initiative «Herkesin Meydanı – Platz für Alle», welche aus verschiedenen Initiativen wie der Initiative «Keupstraße ist überall» und dem Tribunal «NSU Komplex auflösen» hervorgegangen ist, setzt sich intensiv für die Realisierung eines Mahnmals in der Kölner Keupstraße ein. Mit zwei von ihnen habe ich über ihre Arbeit, die Folgen des Anschlags und die Bedeutung von Erinnerungs- und Bündnisarbeit gesprochen. Kutlu Yurtseven ist Musiker der Band Microphone Mafia und Mitbegründer der Initiative «Keupstraße ist Überall», des Tribunals «NSU-Komplex auflösen» und der Initiative «Herkesin Meydanı – Platz für Alle.» Gesine Schütt, ebenfalls Mitbegründerin der Initiative «Herkesin Meydanı – Platz für Alle», ist auch Teil des Tribunals «NSU-Komplex auflösen». Die Hauptfrage lautet: Warum gibt es bis heute kein Mahnmal in Köln, das an die beiden Anschläge erinnert?
Kutlu, da du zur Zeit des Anschlags parallel zur Keupstraße gewohnt hast, möchte ich dich zunächst einmal fragen, wie es für dich war, als du von dem Anschlag erfahren hast.
Kutlu Yurtseven: Ich habe zu der Zeit an der Keupstraße gewohnt, eine Straße weiter. Mein bester Freund hat mich am Tag des Anschlags angerufen. Ich war auf der Arbeit. Er hat mich dann gefragt, wo ich denn gerade bin und dass bei uns eine Bombe explodiert sei. Ich habe es dann im Internet nachgeschaut. Das war seltsam. Denn im ersten Moment ist es so, als wäre es irgendein Anschlag in irgendeiner Straße. Ich habe es erstmal persönlich nicht an mich rangelassen. Dann hat meine Mutter angerufen und meinte, dass ich sofort nach Hause kommen soll, aber zu ihr nach Hause und nicht zu mir. Da fing ich langsam an, es zu realisieren. Ich bin dann von der Arbeit nach Hause gegangen und habe die zerstörte Scheibe des Friseurladens, vor dem die Bombe abgelegt wurde, und die Absperrungen gesehen. Da habe ich mir gedacht: Du hast echt Glück gehabt. Denn ca. 7 Stunden vorher bin ich da langgegangen. Es war auch der Friseurladen, zu dem ich immer zum Haareschneiden gegangen bin. Da wurde es dann zu einer persönlichen Sache.
Was hat dieser Anschlag mit der Keupstraße und ihren Bewohner*innen gemacht?
Kutlu Yurtseven: Mein Vater hat zum Beispiel nach dem Militärputsch 1980 in der Türkei gesagt, dass so etwas in Deutschland nicht passieren könne. Deutschland sei ein Rechtsstaat. Die Polizei würde niemals ohne Grund in Deutschland zu jemandem kommen und ihn/sie beschuldigen. Diese Utopie ist vor allem bei der ersten Generation zerbrochen. Die Betroffenen selber haben ihr Vertrauen in den Rechtsstaat und in die Behörde Polizei vollkommen verloren, weil sie von den Behörden sieben Jahre lang beschuldigt wurden. Eine ganz große Enttäuschung ist eingetreten, Schock, Wut. So funktioniert Terror. Du bist vollkommen hilflos. Du weißt, dass du es nicht warst, aber jeder sagt, dass du es gewesen bist. Sie stigmatisieren und kriminalisieren dich und geben dir die Schuld. Die wahren Täter*innen bleiben unerkannt und können es immer wieder tun. Die Betroffenen wissen, dass es ihnen immer wieder passieren kann. So funktioniert vor allem seelischer Terror. Für die Betroffenen war es immer wie ein Damoklesschwert, das über ihnen schwebte: Es kann immer wieder passieren und wir werden immer wieder dafür beschuldigt.
Gesine Schütt: In den Gesprächen, die ich nach 2011 (das Jahr der sogenannten «Selbstenttarnung» des NSU) mit den Menschen in der Keupstraße geführt habe, sticht besonders das Gefühl hervor, damit alleine gelassen worden zu sein und zusätzlich die Stigmatisierung und Täter-Opfer-Umkehr. Diese Vorstellung, dass man einen mörderischen Anschlag überlebt hat und es keine Klarheit darüber gibt. Stattdessen nur Beschuldigungen gegen die eigene Straße, gegen die eigene Community, die eigene Familie und Freund*innen. Keine Hilfe und Solidarität, die selbstverständlich sein müsste, auch nicht aus der antirassistischen Szene. Niemand hat die Betroffenen gefragt, wie es ihnen geht, was sie brauchen und einfach erstmal festgehalten, dass sie Opfer sind. Das Schlimme an den NSU-Anschlägen ist, dass die Strategie der Zermürbung der Opfer aufgrund des verdeckten Agierens ohne Bekennerschreiben aufgegangen ist. Wenn man das auf Heute bezieht in Fragen der Unterstützung nach dem Anschlag, der Unterstützung während des Prozesses, nach dem Urteil und nach weiteren Anschlägen wie Hanau, kann man festhalten, dass das sich wiederholt. Genau dies ist für viele besonders schmerzhaft.