News | Arbeit / Gewerkschaften - Kommunikation / Öffentlichkeit - Kunst / Performance - Westasien - Türkei Prekäre Musikindustrie der Türkei

Wie bedrohen Corona-Maßnahmen die Musikindustrie in der Türkei?

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Merve Namlı,

Facebookseite der Hexe Music
HOOD Base und Hexe Music organisierten am 21. März 2020 einen ganztägigen Live-Stream-Konzertmarathon mit dem Titel «Who is in a bunker». Hexe Music (Facebook)

Die COVID-19 Pandemie bedroht die Musikindustrie in der Türkei. Seit dem 17. März sind die Theater, Kinos und Konzertsäle geschlossen und die Aktivitäten der Veranstaltungsorte wurden eingestellt. Viele Musiker:innen konnten seit März keine Live-Konzerte mehr geben. Dabei sind Konzerte und Festivals für die Musikwelt sehr wichtig, da Künstler:innen aus zahlreichen Gründen, die durch die Digitalisierung bedingt werden, kein Einkommen mehr aus Albumverkäufen, Urheberrechten oder privatem Musikunterricht erzielen können. Weder bietet die türkische Regierung finanzielle Unterstützung für die Musiker:innen und die anderen Arbeiter:innen der Musikindustrie an, noch stellt sie Pläne in diese Richtung vor. Einige Initiativen von Branchenfachleuten unterstützen teilweise die verzweifelten Künstler:innen und diejenigen, die Kunst ermöglichen, durch das gemeinsame Herausgeben von Pressemitteilungen, die Organisierung von Spendenkampagnen und Solidaritätsalben, oder Aktionen zur Sichtbarkeit auf sozialen Medien. Diese Initiativen bieten aber keine langfristigen Lösungen an.

Merve Namlı arbeitet als qualifizierte Konferenzdolmetscherin seit zehn Jahren für diverse öffentliche Institutionen. Sie engagiert sich als Aktivistin in antirassistischen und feministischen Initiativen und Kollektiven in der Türkei und in Europa und kuratiert und veranstaltet Konzerte und Festivals für unterrepräsentierte BiPOC-Künstler:innen.

Gamze Taşçıer, Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) und Mitglied der Parteiversammlung sagte, dass fast hundert Musiker:innen seit Beginn der Pandemie Selbstmord begangen haben. Offizielle Daten zur Selbstmordrate sind laut Hasan Aldemir, Vorstandsmitglied der Müzik-sen (Gewerkschaft für Musik und Darstellende Künste), jedoch nicht möglich, da Musiker:innen in der Türkei keinen anerkannten Berufsstand haben. Laut Aldemir mussten viele Künstler:innen ihre Musikinstrumente verkaufen, sich anderen Jobs suchen oder ihre Häuser verlassen. Normalerweise arbeiten die Musiker:innen in der Türkei für 100-200 Lira (11-22 Euro) am Tag. Durch die Pandemie haben sie nun auch plötzlich dieses geringe Einkommen verloren. Sie haben keine soziale Absicherung, keine Arbeitsplatzsicherheit, keine Kurzarbeiterzulage oder andere Unterstützungen von der Regierung anderen Industrien anbietet.

Bereits vor den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie beklagten sich Gewerkschaften und Arbeiter:innen der Musikindustrie darüber, dass sie sich nicht organisieren können. Laut Mesam, der seit 1986 aktiven Vereinigung der Eigentümer*innen musikalischer Werke in der Türkei, gibt es 24 Berufsverbände in der Musikindustrie. Doch viele Musiker:innen sind sich der Existenz solcher Gewerkschaften nicht bewusst. Auch die Gewerkschaft Müzik-Sen kritisiert, dass Musik- und Bühnenarbeiter:innen nach dem Gesetz Nr. 6356 über Gewerkschaften und Tarifverhandlungen unter den Arbeitsbereichen Unterkünften und Vergnügungsorten zusammengefasst ist. Hier muss es eine Reform geben, damit Gewerkschaften in dem tatsächlichen Arbeitsbereich für ihre Mitglieder tätig sein können.

Einige Musikveranstaltungsorte mussten aufgrund der unsicheren Situation bereits schließen. So hat zum Beispiel das Anahit Sahne in Istanbul, welches in 2018 von dem facettenreichen Künstler und Schriftsteller Mehmet Deniz mitbegründet wurde, diese prekäre Zeit nicht überlebt. Mit der Schließung des beliebten Veranstaltungsortes Anahit, in dem nicht nur Mainstream-Konzerte sondern auch beliebte Drag-Performances namens Dudakların Cengi, queerwaves Partys und Treffen feministischer Menschenrechtsverbände stattgefunden haben, schließt nicht nur ein Veranstaltungsort, sondern auch ein safer Space musste seine Existenz aufgeben.

Kampagnen zur Sichtbarkeit der Krise der Musikindustrie

Musiker:innen, Gewerkschaften sowie unabhängige Kollektiven organisieren eine Reihe von Kampagnen, um die Industrie und ihre Kolleg:innen, die dringend Hilfe benötigen, zu unterstützen und um auf die derzeitigen Missstände aufmerksam zu machen. Nachfolgend wird eine Auswahl der Kampagnen vorgestellt.